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Heimkino
Dorothy, Vogelscheuche, Löwe und Blechmann im 21. Jahrhundert
Mit seinem Spielfilm "Rainbow" wagt sich der spanische Regisseur Paco León an eine moderne Interpretation des Kinderbuch-Klassikers "Der Zauberer von Oz" – eine Indie-Augenfreude mit Adaptierungsproblemen.

Die rothaarige Dora, ihr Hund Toto und ihre drei Begleiter sind auf der Fliucht vor der Polizei (Bild: Netflix)
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3. Oktober 2022, 04:06h 5 Min.
Was hilft einem besser in den Herbst zu kommen als ein Film, der noch ein letztes Mal den Sommer heraufbeschwört? Und noch dazu den intensiven, von Gewittern gezeichneten spanischen Sommer, so wie "Rainbow", der neue Spielfilm des bisexuellen Regisseurs Paco León.
In dem Coming-of-Age-Film, der seit Freitag auf Netflix verfügbar ist, folgen wir der Teenagerin Dora und ihrem Hund Toto, ein liebenswertes Duo mit einem Hang zur Musikalität. Wer bei "Dora" und "Toto" schon hellhörig geworden ist, der wird es ahnen: "Rainbow" nimmt sich den "Zauberer von Oz" als Vorlage und möchte eine moderne Adaptierung des Buches von 1900 sein. So ist der Tornado, der Dora aus ihrem Heim vertreibt, nicht nur ein symbolischer (ihr Vater verweigert ihr die Auskunft über ihre verschwundene Mutter), sondern auch ein bildlicher, der wie in einer Kinderbuchillustration am kleinen Häuschen vorbei fegt.
Charmante Indie-Ästhetik und märchenhafte Stil-Experimente

Poster zum Film: "Rainbow" kann seit dem 30. September 2022 weltweit auf Netflix gestreamt werden
Schon früh wird klar, dass "Rainbow" seine charmante Indie-Ästhetik mit märchenhaften Stil-Experimenten mischt. Immer wieder tauchen wie beiläufig fantastische Elemente auf (meine Favoriten: riesige Frösche in einem Waschsalon). León beweist eine Liebe zu seinen Bildern, in denen sich viele kleine Details entdecken lassen. Ausgezeichnet gelingt die Magie des Lichtes im Film, seien es die warmen Sonnenstrahlen über den staubigen spanischen Straßen, die sanften Pastellfarben des eigenartigen Hauses von Doras Großmutter oder die Neonschilder von schmierigen Clubs und Motels. Der Film profitiert insgesamt sehr von seinen stilistischen Entscheidungen. Die ausgewählten Drehorte in smoother Kameraarbeit, goldene Felder, minimalistische Bushaltestellen, die Architektur der Villen, aber besonders Doras trendige 2000er-Jahre-Klamotten und selbst fabrizierter Haarschnitt sind eine Augenfreude. Genauso die Popsongs, die Dora auf ihrem Weg begleiten, ein Ohrenschmaus.
Wenn der Film dann unversehens blutig und Dora eines Mordes beschuldigt wird, schlägt diese plötzliche Gewalt umso härter ein in das Märchenland. "Rainbow" möchte vieles erzählen: Doras Suche nach ihrer Mutter, aber auch ihre Selbstfindung in einer schwierigen Familiensituation, gleichzeitig ihre Flucht vor der Polizei und natürlich, wie im Original, ihr Finden von drei neuen Freunden. Wer das Original kennt, der wird die Erzählstruktur wiedererkennen.
Nicht gelungene Umwandlung der drei Gefährten
Was dann leider weniger gut funktioniert, ist diese Umwandlung der drei Gefährten Dorothys in moderne Begleiter Doras. Zur Erinnerung: Dorothy trifft auf Vogelscheuche (die gerne Verstand hätte), Löwe (ihm fehlt der Mut) und Blechmann (ihm das Herz). Besonders die Darstellung der Vogelscheuche als "verrückter" Mann mit stereotyper geistiger Behinderung ist einfach nur beleidigend und hätte anders übersetzt werden müssen. Noch dazu wird er öfter als sexistischer Comic Relief inszeniert.

Dora und ihre drei neuen Freunde (Bild: Netflix)
Der "Blechmann" der alten Geschichte wird hingegen zu einem erfolgreichen Geschäftsmann, der sich nach einer Scheidung das Leben nehmen möchte und nach dem Sinn seines Daseins sucht – dass er eine Beinprothese hat, ist eine ziemlich platte Adaptierung des Original-Blechmannes. Der dritte im Bunde ist ein queerer DJ, der vor seinem homophoben, gewalttätigen Bruder flieht (erneut, ob dieser Hintergrund eine gute Umsetzung für den "Löwe, dem der Mut fehlt" darstellt, bleibt zweifelhaft).
Queerness nur als ästhetisches Element
Der DJ verschwindet als erstes wieder aus der Erzählung – warum ausgerechnet er, der auch am spätesten eingeführt wurde, bleibt schleierhaft. Stattdessen taucht er in Doras Visionen als Löwe auf, wohingegen die anderen beiden Figuren menschlich bleiben. Ob mir hier etwas entgeht oder es sich einfach um eine inkonsequente Inszenierung handelt, ist schwer zu sagen. Seine Figur ist die klarste Auseinandersetzung mit dem queeren Gehalt des "Zauberer von Oz" – man denke nur an Judy Garland, die erste Dorothy und gerne als queer icon benannt, oder die Bezeichnung "friends of dorothy" als Anspielung auf schwule Männer.

Der queere DJ wird im Film sehr schnell zum Löwen (Bild: Netflix)
Umso frustrierender ist es, dass Queerness zwar als ästhetisches Element auftaucht, aber nicht wirklich in der Geschichte des Films Verhandlung erfährt. Mir fällt es beispielsweise schwer, die plötzliche Freundschaft der ungleichen Truppe nachzuvollziehen, die zwar herzerwärmend, aber in der Story nicht sonderlich solide aufgebaut ist, da wir nur einmal längere Gespräche zwischen den vier Protagonist*innen erleben. Stattdessen findet die Kumpelei in ausgedehnten, stylischen Drogensequenzen statt. Diese gehen Hand in Hand mit den stärker musicalartigen Teilen des Films und integrieren sich meistens gut in die Gesamtstory. So trägt der Film seine Geschichte wie ein Märchen oder eine Fabel vor, in einer Welt, die unserer nur als Metapher gleichen soll, aber generell versucht, einen zauberhaften Charakter zu besitzen – ein Spiegelkabinett aus bunten Farben und exzellenter Fashion.
Trotz der Schwächen überzeugen die malerischen Bilder
Gegen Ende der zwei Stunden lässt der Film etwas nach. Der interessante Plot des Mordes, der Dora zur Flucht vor der Polizei veranlasste und für viel Spannung sorgte, wird innerhalb von zwei Sätzen aufgelöst; die finale Gartenparty (das Kostüm-Departement dürfte seinen Spaß gehabt haben) ist dann thematisch etwas unglaubwürdig, wenn zuerst die falsche Freundlichkeit der Oberschicht herausgestellt wird und zwei Minuten später doch alle zusammen von der Macht der Musik mitgerissen werden.
"Rainbow" leidet insgesamt unter seiner fragwürdigen Inszenierung marginalisierter Menschen und wird größtenteils durch das Talent seiner Hauptdarstellerin (Dora Postigo) und der handwerklichen Kunst hinter seinen stilistischen Entscheidungen getragen. León versucht eine Modernisierung der alten Geschichte, erzählt in malerischen Bildern, so schön, dass man gar nicht mehr wegschauen möchte. Es bleibt eine Produktion, von denen ich mir auf Netflix mehr wünsche: Indie-Filme, die sich an interessante stilistische Experimente wagen.
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Rainbow. Fantasy-Drama. Spanien 2022. Regie: Paco León. Cast: Dora Postigo, Áyax Pedrosa, Wekaforé Jibril, Carmen Maura, Carmen Machi, Luis Bermejo. Laufzeit: 118 Minuten. Sprachen: deutsche Synchronfassung, spanische Originalfassung. Untertitel: Deutsch (optional). Seit 30. September 2022 auf Netflix
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Gut, dann bleibt "Rainbow" für mich nur ein Filmtitel, den ich mal gelesen und dann schnell vergessen habe. Deal? Ich meine, ja.
Danke auch für die Rezension, spart mir ein paar Minuten vergeudete Lebenszeit - nur für schöne oder "malerische" Bilder schalte ich nämlich nicht mehr ein. Schon gar nicht, wenn man sich eine queere Filmikone nimmt und "wir" dann nicht mehr sind als "na ja, für'n Anstrich reichts, aber bitte nicht mehr".