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Zerschlagung der Zivilgesellschaft
China: Bestraft für das Verteilen von Regenbogenfahnen
Unter Präsident Xi Jinping werden Aktivist*innen systematisch verfolgt – auch Mitglieder queerer Gruppen fühlen sich "zunehmend hilflos". Im Juli bestrafte die Tsinghua-Universität in Peking zwei Studenten, die Prideflaggen verteilt hatten.
- Von Laurie Chen, AFP
15. Oktober 2022, 07:44h 4 Min.
Wehmütig erinnert sich der chinesische Menschenrechtsaktivist Charles an die Zeit vor dem Amtsantritt von Staatschef Xi Jinping. Die Zivilgesellschaft sei aufgeblüht, und er habe sich für andere einsetzen können, sagt er. Charles, der zur Sicherheit ein Pseudonym verwendet, musste ins Ausland fliehen, viele befreundete Aktivist*innen sitzen im Gefängnis. "Nach 2015 begann die gesamte Zivilgesellschaft zusammenzubrechen."
Die Nachrichtenagentur AFP hat mit acht chinesischen Aktivist*innen und Intellektuellen gesprochen. Alle beschreiben die systematische Zerschlagung der Zivilgesellschaft in den zehn Jahren unter Präsident Xi: Unabhängige Medien, zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Akademiker*innen wurden mundtot gemacht. Jene, die trotzdem noch aktiv sind, berichten von ständigen Schikanen durch die Sicherheitskräfte. Am Sonntag wird Xi auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei voraussichtlich für eine dritte Amtszeit bestätigt werden.
"2014 konnten wir Protestbanner entfalten und mit den chinesischen Medien zusammenarbeiten, um Umweltzerstörung anzuprangern", erzählt ein chinesischer Mitarbeiter einer ausländischen Umweltschutzorganisation, der ebenfalls anonym bleiben möchte. "Jetzt müssen wir die Polizei informieren, bevor wir irgendetwas machen."
Queere Aktivist*innen über 24 Stunden lang verhört
"Wir fühlen uns zunehmend hilflos", sagt ein LGBTI-Aktivist. "Meine Kollegen und ich wurden oft über 24 Stunden lang verhört." Viele beschreiben 2015 als Wendepunkt. Mehr als 300 Anwält*innen und Aktivist*innen wurden damals verhaftet. In diesem Jahr wurde auch der Gesetzentwurf vorgelegt, der es Nichtregierungsorganisationen verbietet, Geld aus dem Ausland zu erhalten. 2017 trat das Gesetz in Kraft und war der Todesstoß für viele Nichtregierungsorganisationen (NGO).
Kein Vergleich zu dem relativ liberalen Klima Anfang der 2010er Jahre unter Präsident Hu Jintao. Damals habe man an der Universität über sexuelle Identität diskutieren können, erinnert sich Carl, Aktivist einer LGBTI-Gruppe. "Man spürte den zunehmenden Druck, aber die Themen wurden durch die öffentliche Debatte auch sichtbarer."
2018 habe sich die Lage weiter verschärft. "Zuvor auf dem Campus tolerierte Aktivitäten wurden verboten und ideologischer Unterricht ausgeweitet", sagt Carl. Im Juli bestrafte die renommierte Tsinghua-Universität in Peking zwei Studenten, die Regenbogenfahnen verteilt hatten.
Eintreten für so genannte westliche liberale Werte verboten
Ein Vorbote des Rückschritts war ein parteiinternes Kommuniqué von 2013, in dem das Eintreten für so genannte westliche liberale Werte wie zivilgesellschaftliches Engagement und Pressefreiheit verboten wurde. "In den 1980er Jahren konnte man darüber diskutieren und Bücher dazu veröffentlichen", sagt die regierungskritische Journalistin Gao Yu, die von 2015 bis 2019 im Gefängnis saß. Frei ist die 78-Jährige auch heute nicht: Sie darf weder Anrufe aus dem Ausland annehmen noch sich mit Freund*innen treffen. "Wir sind wie Maiskörner, die von einem Mühlstein zermahlen werden", klagt sie.
Unabhängige Dozent*innen an den Universitäten wurden in den vergangenen Jahren durch linientreue Akademiker*innen ersetzt. Die eigenen Student*innen überwachen die Professor*innen. "Unter den chinesischen Intellektuellen hat sich in den vergangenen zehn Jahren eine Kultur des Denunziantentums entwickelt", bedauert Wu Qiang, ein ehemaliger Politik-Professor an der Tsinghua-Universität. "Die Studenten sind zu Zensoren geworden, die jeden Satz ihres Professors kontrollieren, anstatt durch Diskussionen zu lernen."
Umweltaktivist: "Krieg, der nicht zu gewinnen ist"
Vor diesem Hintergrund verlassen viele Aktivist*innen China oder halten sich wie Carl zurück. Andere geben trotz allem nicht auf. "Vielleicht sind wir jetzt an einem Tiefpunkt angelangt, aber die Leute erheben immer noch unermüdlich ihre Stimme", versichert Feng Yuan, Gründerin von Equity, einer Organisation, die sich für Gleichberechtigung einsetzt.
Der Mitarbeiter der Umweltschutzorganisation spricht hingegen von einem "Krieg, der nicht zu gewinnen ist" gegen Nationalist*innen, die behaupten, dass jede Person, die für eine NGO arbeitet, "anti-chinesisch" ist oder "vom Westen einer Gehirnwäsche unterzogen wurde".
Zwei Freund*innen des Menschenrechtsaktivisten Charles sitzen seit über einem Jahr im Gefängnis. Seiner Meinung nach waren es ihre wöchentlichen Treffen, die den Behörden verdächtig erschienen. "Die Regierung hat es jetzt auf Einzelpersonen abgesehen, die sich in kleinem Rahmen, subtil und unauffällig engagieren", sagt er. "So sorgt sie dafür, dass es keine neue Generation von Aktivisten gibt."

In China wird die Bevölkerung rundum überwacht - mit Kameras und allem, was dazugehört. George Orwell ist hier bereits mehr als lebendig geworden.