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Heimkino
Mein pflegebedürftiger schwuler Vater
Die junge Artemis kehrt zurück nach Griechenland, um sich um ihren Vater Paris zu kümmern: "Moon, 66 Questions" erzählt von der Distanziertheit eines kranken Mannes, der seine Homosexualität geheim hält.

Vater Paris (Lazaros Georgakopoulos) und Tochter Artemis (Sofia Kokkali) in "Moon, 66 Questions" (Bild: Modern Films)
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15. Oktober 2022, 07:41h - 4 Min.
Während Familienvideos aus den Neunzigern über den Bildschirm flimmern, ist Artemis (Sofia Kokkali) Stimme zu hören. Vor Bildern von Baggern, die Häuser niederreißen, vorbeiziehenden Landschaften und einem von Jets durchzogenem Himmel, erzählt sie, wahrscheinlich einer Freundin, dass sie sich auf den Weg zurück nach Griechenland macht. Sie werde sich dort um ihren Vater Paris (Lazaros Georgakopoulos) kümmern, der kurzzeitig verschwunden war und später dehydriert im Auto aufgefunden wurde. Sie berichtet von ihrem Kommunikationsproblem, das seit jeher zwischen ihnen stehe. Bereits als Kind habe sie Fragen gestellt, auf die er schlicht nie antwortete.
Die Distanziertheit eines an Multipler Sklerose leidenden und nun pflegebedürftigen Vaters zu seiner Tochter im jungen Erwachsenenalter, ist die Ausgangsprämisse von Jacqueline Lentzous Langfilmdebüt, das im vergangenen Jahr auf der Berlinale in der Sektion "Encounters" gezeigt wurde und der Teddy-Anwärter mit dem subtilsten Queerness-Faktor war. Zwar trifft Artemis gleich bei Ankunft im Krankenhaus auf einen Herrn namens Iakovos (Nikitas Tsakiroglou), der Paris gerade einen Besuch abstattet. Die Stille, die Wortkargheit und Reserviertheit aber durchziehen "Moon, 66 Questions" (Amazon-Affiliate-Link ) und werden als zentrale Themen niemals durchbrochen. Schon gar nicht für Fragen nach der Sexualität des geschiedenen Vaters.
Auf sich allein gestellt
Ebenso wie Artemis sich auf die mühsame Suche nach Antworten machen muss, offenbaren sich auch den Zuschauenden erst nach und nach Einzelheiten über seine Krankheit und die Beziehung zu seiner Tochter. Während dieses schrittweise Enthüllen von Zusammenhängen zu Beginn noch großes Interesse zu wecken vermag, gestaltet sich die zweite Hälfte des Films schwerfälliger. Spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem klar wird, dass vieles bis zum Schluss im Dunkeln bleiben wird.
Eher als durch Dialoge eine Geschichte zu erzählen, versucht "Moon, 66 Questions" durch eigenwillige Einstellungen die Emotionen seiner beiden Protagonist*innen zu vermitteln. Mehr als einmal wird die junge Frau dabei zu sehen sein, wie sie in unbeobachteten Momenten versucht, sich in ihren Vater hineinzuversetzen; wie sie über den Boden robbt, oder versucht sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzuzünden. Die Einsamkeit, in die sie die Stille ihres Vaters zurückwirft, nagt sichtbar an ihrer seelischen Verfassung.

Vater und Tochter können ihre Entfremdung nur sehr langsam überwinden (Bild: Modern Films)
Trost oder gar praktische Unterstützung, findet sie nicht. Das wird klar, als die Familie vorbeikommt, um der ersten Physiotherapie-Stunde beizuwohnen. Aus der Vogelperspektive wird gezeigt, wie sich die einzelnen Mitglieder auf der halbrunden Couch versammeln, um das Geschehen zu kommentieren – und nebenbei ein wenig zu kommandieren. Der Therapeut könne doch Artemis schon mal die wichtigsten Handgriffe zeigen, schließlich wird sie es sein, die sich um ihn kümmert, heißt es. Die groteske Szenerie erinnert unwillkürlich an ein antikes Amphitheater, man wartet förmlich auf das Daumenzeichen von der Tribüne, ob es noch Hoffnung für den Kandidaten gibt.
Alles bleibt vage
Über knapp 110 Minuten gibt Lentzou intime Einblicke in den neuen, von Frustration geprägten Alltag der beiden; unterteilt in mehrere fein akzentuierte Kapitel, die jeweils mit der Einblendung einer passenden Tarot-Karte eröffnet werden. Paris ist sichtbar beschämt darüber, plötzlich nicht mehr richtig zu "funktionieren", stellenweise auf Rollstuhl und Windel angewiesen zu sein. Bei Artemis ist es die stoische Wortlosigkeit des Vaters – der sich außerdem weigert, bei den täglichen Pflegeabläufen zu kooperieren – die sie allmählich mürbe werden lässt. Besonders als sich herausstellt, dass er sich in Gegenwart des besagten Iakovos sehr wohl die Mühe macht, selbstständiger zu sein.
Über das Verhältnis der beiden Männer wird sie sich schließlich erst durch den zufälligen Fund eines Fotos klar, das andeutet, dass ihre Beziehung schon lange besteht. "Moon, 66 Questions" könnte ein Drama sein, das davon erzählt, wie sehr die Homosexualität des Vaters ihn in die Einsamkeit oder zumindest Verschlossenheit gegenüber seiner hochnäsigen Familie gedrängt hat. Als Erklärung für die Rigorosität des Vaters seiner Tochter gegenüber, funktioniert sie allerdings nur bedingt.
Obwohl eine finale Annäherung angedeutet wird, ist "Moon, 66 Questions" letztlich zu ziellos, um zu befriedigen. Während der Film lange durch große schauspielerische Leistungen, besondere inszenatorische Kniffe, und durch das noch viel zu tabuisierte Pflege-Thema getragen wird, enttäuscht die Handlung durch ihre unbegründete Vagheit.
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Moon, 66 Questions. Drama. Griechenland, Frankfreich 2021. Regie: Jacqueline Lentzou. Cast: Sofia Kokkali, Lazaros Georgakopoulos, Nikitas Tsakiroglou. Laufzeit: 108 Minuten. Sprache: griechische Originalfassung, Untertitel: Deutsch, Englisch (optional). Als Stream im MUBI Channel bei Amazon Prime
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» auf sissymag.de
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