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Weltoperntag

Die Geburt der Oper aus dem Geist der Queerness

Vor mehr als 400 Jahren wurde das Musiktheater in Florenz erfunden. Doch die queeren Wurzeln reichen sehr viel weiter zurück – bis zum Mysterienkult in der Antike, bei dem Dionysos wie eine Diva verehrt wurde.


Der Regisseur Martin G. Berger macht in seiner aktuellen Inszenierung von Richard Wagners Oper "Tannhäuser" aus dem Titelhelden eine Dragqueen – und aus dem Venusberg einen queeren Nachtclub. Zu sehen im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin am heutigen Weltoperntag. Weitere Vorstellungen: 06.11., 11.11.. 21.12., 27.01. (Bild: Silke Winkler / Mecklenburgisches Staatstheater)

Wie entsteht kulturelle Innovation? Wohlstand, Toleranz, Neugier und Offenheit – soweit ist man sich zumindest in westlichen Gesellschaften einig – zählen zu den grundlegenden Bedingungen für das Aufkommen einer Avantgarde. Queere Einflüsse sind dabei ein maßgeblicher Faktor. Dabei handelt es sich nicht nur um ein zeitgenössisches Phänomen. Ein historisches Beispiel von Rang stellt die Erfindung der Oper vor mehr als 400 Jahren dar.

Als in Florenz im ausgehenden Zeitalter der Renaissance das Musiktheater entsteht, gilt die Stadt europaweit längst als eine Hochburg für Männer, die Sex mit anderen Männern praktizieren. Auch wenn homosexuelle Handlungen offiziell verboten sind und es diesbezüglich Tausende von Anzeigen hagelt, kommt es selten zu Verurteilungen, und selbst dann meist nur in Form geringfügiger Geldstrafen.

Aber nicht nur Sex an halböffentlichen Treffpunkten, sondern auch zarte Liebesbande unter Männern sind aus der Zeit belegt. Das kulturelle Leben der Stadt blüht, und dabei offenbaren sich auch dessen homoerotische Facetten, wenngleich subtil und meist nur für Eingeweihte wahrnehmbar: in der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur – und eben auch in der hybriden Neuschöpfung der Kunstgattung Oper. Eine Theateraufführung mit Musik, bei der Sprache, Gesang und Schauspielerei gleichberechtigt nebeneinander eingesetzt werden – das ist ein gewagtes Experiment, an das sich eine Gruppe von Dichtern, Musikern, Humanisten und Mäzenen heranwagt. Sie treffen sich im akademischen Gesprächskreis der Florentiner Camerata, einer kulturellen Denkfabrik, der ausschließlich Männer angehören.

Der queere Klassiker "Fabula di Orfeo" aus Florenz

Einige der ersten bis heute dokumentierten Opernaufführungen im ausgehenden 16. Jahrhundert wurden aus dem griechischen Orpheus-Mythos entwickelt. In dessen antiker Überlieferung scheitert der Dichter und Sänger in dem Bemühen, seine verstorbene Gattin Eurydike aus der Unterwelt zu retten – am Ende verliert er sie endgültig. Aus Gram wendet er sich von der Liebe zu Frauen gänzlich ab, um seine Zuneigung fortan jüngeren Männern zu widmen. Der homosexuelle Autor Angelo Poliziano entwarf aus dem Stoff das erste profane Drama in italienischer Sprache, das seit 1494 in gedruckter Form zum Bestseller wird: "Fabula di Orfeo". Es gilt in Florenz als Klassiker und dient vom Tag des Erscheinens an dazu, mann-männliche Sexualität zu rechtfertigen.

Es ist, wie sich herausstellen wird, kein Zufall, dass sich auch die ersten Komponisten der Operngeschichte des Orpheus-Stoffs bedienen – allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung. Am Ende von Claudio Monteverdis Werk "L'Orfeo" etwa wird die homoerotische Pointe einfach gestrichen, während seine Kollegen Giulio Caccini und Jacopo Peri – beide benennen ihr Werk jeweils nach Orpheus' Geliebter Eurydike – den überlieferten Schluss gar durch ein heteronormatives Happy End ersetzen. In den Köpfen des Publikums freilich lässt sich die Assoziation der Orpheus'schen Zuneigung zu Jünglingen nicht einfach so tilgen – zumindest nicht in Florenz, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen ein Thema sind, über das leidenschaftlich debattiert wird, während es fast überall sonst als unaussprechliche Sünde gilt.


Neue Genderperspektive: Der schwule Regisseur Axel Ranisch verwandelt in seinem Opernfilm "Orphea in Love" den mythischen Ur-Sänger in eine Frau. Offizieller Kinostart ist der 30. März 2023 (Bild: missingFILMs)

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Stadtverwaltung noch zwei Jahrhunderte davor europaweit die grausamsten Strafen für "sodomitische Handlungen" vorsah, inklusive Kastration und Tod durch den Scheiterhaufen. Der nunmehr offene und leidlich geduldete Umgang mit homoerotischen Beziehungen in Florenz entspricht nicht etwa einer durchwegs gewandelten Haltung der Bevölkerung – er polarisiert sie. Das spiegelt sich unter anderem auch in der neuen Kunstgattung wieder, die sich mit dem Mythos ausgiebig beschäftigt. Welche sexuelle Ausrichtung Orpheus am Ende haben darf, bleibt jedoch umstritten. Oder zumindest ungewiss – nicht zuletzt, um mit den Aufführungen ein möglichst großes Publikum anzusprechen. Doch immerhin scheint die Frage allen Beteiligten unter den Nägeln zu brennen. Dafür gibt es gute Gründe. Denn Orpheus nimmt nicht nur als mythischer Ur-Sänger für die Geschichte des Musiktheaters eine Sonderrolle ein, sondern auch als Begründer der mit dem androgynen Gott Dionysos verbundenen Mysterien.

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Die Wiederbelebung der griechischen Tragödie

Dem Gründungsmythos der Oper zufolge war es der Florentiner Camerata vor alledem ein wichtiges Anliegen, die griechische Tragödie wiederzubeleben. Und zwar so, wie man sie im späten 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zelebrierte: als ein an den archaischen Opferkult angelehntes Spektakel mit Musik, Gesang und Poesie zu Ehren des Dionysos.

Der auch Bacchus genannte Gott ist seit jeher ein im modernsten Sinne des Wortes queerer Schutzpatron: Er tritt betont feminin auf und begehrt nicht nur Frauen, sondern pflegt auch sexuelle Beziehungen zu Männern; er kleidet sich gerne in apartem Leopardenfell und hat darüber hinaus eine ausgesprochene Vorliebe für Cross-Dressing. Als Gott der Ekstase und des Rausches ist er ein Außenseiter, der seiner spießigen Heimatstadt Theben eine bittere Lektion in Sachen Toleranz erteilt. In einer blutigen Orgie rächt er sich an seinem Volk dafür, dass es seine Andersartigkeit nicht anerkennt. Trotz seiner Unerbittlichkeit wird er zum umschwärmten Darling in der Rezeption der griechischen Mythologie – vor allem in der bildenden Kunst. Darüber hinaus ist er auch "Gott des Theaters".


Dionysos als Crossdresser, bemaltes Gefäß im Nationalmuseum Neapel (5. Jh v.Chr.) / Dionysos im Damensitz auf einem Leopard reitend, Mosaikboden in Pellas (4. Jh. v. Chr.)

Fast 400 Jahre nach der Erfindung der Oper verdichtet sich der Gründungsmythos selbst zu einem musikdramatischen Stück. Basierend auf der griechischen Tragödie "Die Bakchen" von Euripides erzählt Hans Werner Henze mit seinem 1966 geschriebenen Werk "Die Bassariden" die unter die Haut gehende Geschichte des dionysischen Rachefeldzugs in teils schrillen Klängen.

Auch wenn der Komponist angesichts der Verhältnisse seiner Zeit ungewöhnlich offen mit seinem Schwulsein umgeht, hütet er sich davor, Homosexualität in dem Stück direkt und unvermittelt zu thematisieren. Dem immer noch anhaltenden gesellschaftlichen Tabu ist das jedoch nur zu einem Teil geschuldet. Im Musiktheater offenbart sich gleichgeschlechtliche Liebe traditionell in kodierter Form; ohnehin geht es auf der Bühne nie darum, Wirklichkeit zu reproduzieren. Stattdessen werden in der Oper seit jeher Stilmittel kultiviert, die eine extrem künstliche – und gleichwohl hochemotionale – Atmosphäre hervorrufen. Dabei öffnet sich die Tür zu einer Welt, die im realen Leben abgespalten bleibt und ein in multipler Weise ästhetisches Erlebnis ermöglicht, das sich im Kern mit Worten nicht beschreiben lässt.

Die Oper als schwuler Zufluchtsort

Rainer Falk und Sven Limbeck, die Herausgeber des 2019 erschienenen schwulen Opernführers "Casta Diva", beschreiben das Spiel auf der Bühne als eine "Anderswelt", die für schwule Männer seit Beginn der Operngeschichte einen Zufluchtsort darstellt. Dieser bot im Lauf der Jahrhunderte Raum für zahlreiche queere Ideen, bei denen Geschlechtsidentitäten in Frage gestellt werden: Frauen verkleiden sich in den sogenannten "Hosenrollen" als Männer, Männer singen scheinbar mit Frauenstimmen oder verkleiden sich als Frau – von Nymphen, Elfen und phantastischen Metamorphosen mal ganz abgesehen. Doch die Identifikationsmöglichkeiten einer Rolle funktionieren häufig auch ohne Kunstgriff geschlechtsübergreifend. "Oper rehabilitiert das 'Widernatürliche', indem sie es zu Kunst macht", so Falk und Limbeck. Und sie verwandelt den Schmerz des Ausgeschlossenseins nicht nur in etwas Erträgliches, sondern in etwas Schönes, vermittelt durch die stets leidende, doch immer auch erhabene Figur der Primadonna.

Der Film "Philadelphia" aus dem Jahr 1993 hat das Phänomen in einer Schlüsselszene festgehalten, die Filmgeschichte schrieb: Tom Hanks verkörpert den an Aids erkrankten Andrew Beckett, der seinen Arbeitgeber aufgrund von sexueller Diskriminierung verklagen möchte und den heterosexuellen Anwalt Joe Miller alias Denzel Washington zu Rate zieht. Am Krankenbett spielt Andrew seinem Anwalt die von Maria Callas gesungene Arie "La mamma morta" aus der Oper "Andrea Chénier" vor. Dabei identifiziert er sich in höchster Verzückung mit der Figur der Maddalena – diese ist laut Textbuch fest entschlossen, mit ihrem zu Tode verurteilten Liebsten zu sterben. Andrew gerät dabei so sehr in Ekstase, dass die Gesichtszüge von Miller ratlos entgleisen, bevor auch er ab diesem Zeitpunkt der Handlung von der Callas-Arie heimgesucht wird.

Direktlink | Die Arienszene aus "Philadelphia"
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Der Kult um Maria Callas verdeutlicht zudem das Prinzip der Diva als Projektionsfläche. Der US-amerikanische Autor Wayne Koestenbaum glaubt, dass diese ihren Bewunderern einen Glauben einzuflößen vermag, ihre Gebundenheit an Herkunft, Geschlecht oder ein anderes physisches Merkmal durch Selbsterfindung überwinden zu können. In seinem 1993 erschienenen Buch "Königin der Nacht" kommt er zu dem Schluss: "Die schwule Kultur hat die Kunst, eine Diva zu imitieren, perfektioniert; sie weiß, wie man innerlich vorgibt, göttlich zu sein – um die stigmatisierte Identität glauben zu lassen, dass sie willkommen ist."

Der Kult um die Diva fing jedoch nicht erst mit Maria Callas an. Im Prinzip lässt er sich bis zu Dionysos als ihrem Archetypus zurückführen – sowohl, was dessen glamouröses öffentliches Bild als auch seine Allüren betrifft. So verdichtet sich bis zum heutigen Tag alles, was queere Kultur seit jeher ausmacht, in der Kunstgattung Oper. Vor vierhundert Jahren wurde sie in Florenz erfunden – doch ihre queeren Wurzeln reichen bis zum dionysischen Mysterium in der Antike zurück.

-w-

#1 56James35Anonym
#2 StaffelbergblickAnonym
  • 25.10.2022, 11:21h
  • Ja ja ... wir Schwulen und die Oper. In diesem Zusammenhang fällt mir auch immer wieder das Theaterstück "Die Lissabonner Traviata" von Terence McNally. In welcher die Callas scheinbar wesentlicher Inhalt ist, jedoch ebenso opernhafter Dramaturgie in einer Beziehungskrise endet.
    Was in dem Artikel jedoch vollkommen untergeht: "Männer als Frauen auf der Bühne". Es gab auch Zeiten, in denen Frauen dies verboten war. Und dann ist da noch das Thema "Kastraten". Kinder wurden in Heimen "konserviert" und wurden sängerisch auf die Straße geschickt um für Unterhalt zu betteln. Und um diese "Kinderstimmen" zu behalten wurden sie kastriert, um sie vor dem Stimmbruch "zu schützen". Eltern brachten die Jungs nach Norcia, um diese "Operation" durchführen zu lassen - mit der Hoffnung auf einen finanziell erfolgreichen Sänger. Hierzu gab es bereits um 1995 den Film "Engel wider Willen". Das gleichnamige Buch ist heute noch antiquarisch auffindbar.
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