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Schwulenbewegung
Deutschlands erstes queeres Netzwerk war eine Kopfgeburt
Heute vor 50 Jahren – am 9. Dezember 1972 – gründeten in Bochum 15 Gruppen aus ganz Westdeutschland die Deutsche Aktionsgemeinschaft Homosexualität. Nur eine Aktion des Bündnisses blieb in Erinnerung.

Linke Slogans prägten zu Beginn das Bild der westdeutschen Schwulenbewegung, sehr zum Ärger der "Integrationisten": Abschlussdemonstration des Pfingsttreffens der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) 1973 (Bild: Rüdiger Trautsch / Schwules Museum)
- Von Sigmar Fischer
9. Dezember 2022, 04:50h 7 Min.
Am 29. April 2022 haben wir mit einem Festakt an das 50-jährige Jubiläum der ersten deutschen Homosexuellen-Demonstration ausgerechnet im konservativ-klerikalen Münster erinnert (queer.de berichtete). Am Nachmittag nach der Demo hatte eine Versammlung aller beteiligten Emanzipationsgruppen stattgefunden. Die Homophilen Studenten Münster (HSM, ab Januar 1972 Aktionsgruppe Homosexualität Münster) übernahm die Aufgabe einer zentralen Informationsstelle für die Gruppen: Der "HSM-Infodienst" wurde eingerichtet. Alle Gruppen sandten ihre Informationen in 50 Exemplaren an die HSM, die sie sammelte, bündelte und regelmäßig an alle angeschlossenen Gruppen weiterleitete.
Heute gibt es ein weiteres Jubiläum: Vor 50 Jahren gründete sich in Bochum die kurzlebige Deutsche Aktionsgemeinschaft Homosexualität (DAH).
Diesem Ergebnis waren seit Herbst 1971 erste Suchbewegungen nach Formen überregionaler Zusammenarbeit vorausgegangen: Rainer Plein, Mitbegründer der HSM, Organisator der Münsteraner Demo und nunmehr Organisator des Infodienstes, hatte nach Schnittmengen für eine Zusammenarbeit vor allem unter "integrationistischen" Gruppen gesucht, die einen Abbau von Diskriminierung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung anstrebten.
Erst im Frühsommer 1972 erkannte Rainer Plein, dass er sein Ziel einer überregionalen Zusammenarbeit und gemeinsamen Interessenvertretung nur mit den zumeist studentischen schwulen Emanzipationsgruppen erreichen konnte, mit deren überwiegend linkem Selbstverständnis er arg fremdelte, und nicht gegen sie. Im Oktober 1972 organisierte er die HSM um: Plein konzentrierte sich nunmehr vorrangig auf die überregionale Zusammenarbeit und überregionale Kommunikation und überließ die Alltagsaufgaben der Gruppenarbeit anderen. Mit mir, dem damals in der Hochschulpolitik aktiven Jungsozialisten Sigmar Fischer, holte er sich einen "Chefideologen" an seine Seite, der die politischen Kontroversen innerhalb der Linken kannte und führen konnte.
Protest gegen Indizierungsantrag gegen Schwulenmagazin

Sigmar Fischer erinnert sich für queer.de an die Gründung der Deutschen Aktionsgemeinschaft Homosexualität
Die Initialzündung zur Gründung der Deutschen Aktionsgemeinschaft Homosexualität ging indirekt von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute: Medien) in Bonn aus. Diese verhandelte am 8. Dezember 1972 über den Indizierungsantrag des Landes Bayern gegen die Schwulenzeitschrift "him". Die Aktionsgruppen solidarisierten sich mit der "him" und riefen zur Teilnahme an der öffentlichen Sitzung der Bundesprüfstelle auf. Die Homosexuelle Aktionsgruppe Saar (HAS) sammelte im Vorfeld der Sitzung 150 Unterschriften gegen den Indizierungsantrag, der letztlich abgewiesen wurde.
Aus dieser Situation heraus hatte die AG Homosexualität im Ortsverein Bochum der Humanistischen Union am 9. und 10. Dezember 1972 zu einer Tagung in den Räumen der Ruhruniversität Bochum eingeladen.
Folgende 15 Gruppen konstituierten sich auf dieser Tagung als Deutsche Aktionsgemeinschaft Homosexualität:
● Aachen: GFS (Gesellschaft für Sozialreform)
● Berlin: HAAW (Homosexuelle Arbeiteraktion Westberlin)
● Bielefeld. IHB (Initiative Homosexualität Bielefeld)
● Bochum: AK Homosexualität der Humanistischen Union Bochum
● Bonn: glf-AHB (Aktionsgruppe Homosexualität Bonn)
● Düsseldorf: HID (Homosexuelle Interessengemeinschaft Düsseldorf)
● Hamburg: IHWO e.V. (Verband für sexuelle Gleichberechtigung, bundesweit)
● Hannover. HSH (Aktionsgruppe Homosexualität Hannover)
● Köln: GLF e.V. (Gay Liberation Front)
● Mainz: Initiativgruppe Homosexualität Mainz
● Münster: HSM (Aktionsgruppe Homosexualität Münster)
● Saar: HAS (Homosexuelle Aktionsgruppe Saar)
● Stuttgart: IHS (Initiativgruppe Homosexualität Stuttgart)
● Würzburg: WÜHST (Würzburger Homosexuelle Studenteninitiative)
● Wulfen: Loge 70 (Gemeinschaft sexueller Minderheiten)
Vier weitere Gruppen traten später bei:
● Dortmund. KCR (Kommunikationszentrum Ruhr)
● Frankfurt: HAF (Homosexueller Arbeitskreis Frankfurt)
● Göttingen: IHG (Initiativgruppe Homosexualität Göttingen)
● Heidelberg: Homo Heidelbergiensis
Strukturbildung oder Basisarbeit?
Die Bochumer Vereinbarung zur Gründung der DAH umfasste zwölf Punkte. Der erste legte fest: "Die Aktionsgemeinschaft hat die Aufgabe, die überregionalen Aktivitäten der angeschlossenen Gruppen zu koordinieren. Sie arbeitet vorläufig ausschließlich projektorientiert." Weiterhin wurden Vereinbarungen über die Organisation der DAH getroffen, vor allem zur Einrichtung eines Delegiertenrates und über den Infodienst.
Der Delegiertenrat tagte auf Einladung der HAAW zum Jahreswechsel 1972/1973 im Sozialistischen Zentrum in Berlin-Moabit und am 17./18. Februar 1973 in Heidelberg. Hier wurde der organisationspolitische Aufbau mit der Verabschiedung eines von der HSM vorgeschlagenen "Minimalkonsens über Inhalt und Ziele projektorientierter Arbeit" abgeschlossen. Dieser war sehr offen formuliert, um ein breites Bündnis herzustellen, das auch die konservative IHWO einbezog.
Für die linken Strömungen und Gruppen, die sich marxistisch-leninistisch, maoistisch oder als unorthodox verstanden wie beispielsweise die Frankfurter "RotzSchwul" (Rote Zelle Schwul) um Martin Dannecker, war dies inhaltlich nicht akzeptabel. Die HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) kritisierte, die DAH sei zu früh gegründet worden, sodass sich vorzeitig bestimmte Strukturen und Funktionärswirtschaft verfestigen würden. Stattdessen habe zunächst die lokale Basis- und Bewusstseinsarbeit Vorrang.
Aktion "Weg mit dem §175"

Entwurf für Flugblatt und Plakat (Bild: Archiv Sigmar Fischer)
Ungeachtet der Differenzen fanden sich DAH und die "Rosa Radikalen" (Michael Holy) auf Einladung Martin Danneckers im Frühjahr 1973 zu der gemeinsamen Aktion "Weg mit dem § 175" zusammen. In der letzten April- und ersten Maiwoche gab es Infotische in den Fußgängerzonen der Hamburger, Bielefelder, Saarbrücker und Frankfurter Innenstadt, Flugblätter wurden verteilt und vielerorts Plakate geklebt. Insgesamt 20.000 Unterschriften wurden gesammelt.
Bei der Gestaltung der Plakate und Flugblätter kamen allerdings ideologische Differenzen zu Tage: Einigen Gruppen, darunter der HSM, waren das oben abgebildete Motiv mit dem zum Fleischerhaken verfremdeten Paragrafenzeichen und die kämpferische Faust zu radikal – sie verwendeten stattdessen das reguläre Paragrafenzeichen und ersetzten die Faust durch einen Pfeil.
Die Aktion verfolgte das Ziel einer endgültigen Abschaffung von § 175 StGB. Dieser war in seiner von den Nationalsozialisten am 1. September 1935 verschärften Fassung unverändert in das bundesrepublikanische Strafrecht übernommenen worden; er führte von 1949 bis 1969 zu ebenso vielen Verurteilungen wie in der NS-Zeit, nämlich vor und nach 1949 jeweils 50.000. Am 1. September 1969 war eine Entschärfung des § 175 in Kraft getreten. Diese schuf erst die rechtliche Basis für die Gründung homosexueller Publikationen und Gruppen, bot aber in ihrer halbherzigen Regelung der Altersschutzgrenze weiterhin Ansatzpunkte für strafrechtliche Verfolgung. Letztere wurde 1973 an die neue Volljährigkeitsregelung angepasst, die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Prostitution fiel weg. Endgültig wurde der § 175 erst 1994 gestrichen.
Der Ernüchterung über die Aktion folgte bald der Zerfall der DAH
Die Aktion gegen den § 175 war das einzig greifbare Ergebnis der angestrebten überregionalen Zusammenarbeit und Interessenvertretung. Die Auswertung der Aktionswochen ergab ein ernüchterndes Bild: Auch in den "linken" Gruppen trugen nur wenige "Kader" die Aktivitäten, die Gruppenmitglieder waren nicht zu mobilisieren. Es war Zeit für einen Paradigmenwechsel: weg von der Organisationspolitik, hin zur Auseinandersetzung mit den Binnenstrukturen und dem Alltag der Gruppen.
Das Thema stand auf der Tagung des Delegiertenrats, der im Juli 1973 in Düsseldorf stattfand. Allerdings bröckelte hier bereits die Teilnahme der Gruppen. Unter den anwesenden Initiativen kristallisierte sich ein ernüchterndes Bild heraus: Die Mitgliederzahlen bröckelten ab; zwei bis maximal fünfzehn Aktive gestalteten das Gruppenleben, und ein kleiner Kreis von ein bis fünf Führungspersonen bestimmte die Politik. Vereinzelt waren die Initiativen in Flügel gespalten.
Folgerichtig hob der Delegiertenrat in Würzburg Ende Oktober 1973 alle formalistischen Regelungen auf, die sich die DAH anfangs gegeben hatte. Die Hinwendung zur Auseinandersetzung mit den Binnenstrukturen sollte auf einer Silvestertagung 1973 erneut in Berlin fortgesetzt werden. Ein umfangreiches Dossier wurde im Vorfeld verschickt – über Inhalte und Ergebnisse des Treffens liegen keine Quellen vor. Michael Holy datiert das Ende der DAH auf Silvester 1973, Peter Föhrding in einem Beitrag für den "Rosa Flieder" auf das Jahr 1975. Tatsächlich hat es um die Zeit herum noch einen Versuch der Wiederbelebung gegeben.
Rainer Plein hatte bereits Mitte 1973 deutlichen Gegenwind in der HSM bekommen. Seine Gegner wollten die überregionale Zusammenarbeit beenden und neue Kommunikationsstrukturen innerhalb der HSM schaffen. Die HSM zerfiel im Mai 1974; eine perfekt vorbereitete Mitgliederversammlung stellte die Arbeit "ruhend". Sollte sie nicht binnen dreier Jahre wiederaufgenommen werden, wäre die HSM aufgelöst. So kam es. 39 Gruppen lösten sich bundesweit 1974/1975 laut Michael Holy auf.
Welche Erkenntnis bleibt?
Die organisationspolitische Kopfgeburt der DAH traf auf vielfältige Bedürfnis- und Problemlagen im Alltag der meisten Emanzipationsgruppen: Konflikte zwischen Unpolitischen und Politischen, Konflikte unter den Politischen, die Diskrepanz zwischen aktiven und passiven Mitgliedern, Gegensätze zwischen studentischen und nichtstudentischen Mitarbeitenden sowie Konkurrenz, das Umschlagen von Sachdiskussionen in emotionale Personaldiskussionen, geringe Frustrationstoleranz, Konfliktpotenzial rund um das sexuelle Begehren.
Die politisch-ideologischen Konflikte in und zwischen den Gruppen und ihren unterschiedlichen Strömungen erwiesen sich bald als kontraproduktiv. Sie vermittelten keine Antworten auf die Lebenslagen vieler schwuler Männer, Alltag und Politik klafften auseinander. Praktische Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Lebensform und dem Sichtbarmachen der Differenz fanden sich in der Verortung schwuler Emanzipation innerhalb der Neuen Sozialen Bewegungen der späten 1970er Jahre. Sie nahmen Gestalt an in Form von Kommunikations- und Schwulenzentren, Cafés, Buchläden, Theatergruppen und Kleinkunstinitiativen – eine Entwicklung im Kontext der "Graswurzelrevolution" einer vielfach miteinander vernetzten alternativen Bewegung. Im Frankfurter "Homolulu"-Treffen fanden sich 1979 neue Ansätze für die Vernetzung und Wirksamkeit der schwulen Emanzipationsbewegung (queer.de berichtete).
Die kurzlebige DAH hatte auf dem Weg dahin erste Lernprozesse initiiert.
Unser Gastautor Sigmar Fischer war 1972 bis 1974 Aktivist der HSM Münster und wurde am 29. April 2022 zusammen mit Halina Bendkowski und Martin Dannecker auf einem Festakt geehrt. 2015 war er Mitbegründer der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) e.V. und arbeitete bis Oktober 2022 im Vorstand mit. Er gehörte zu den BISS-Mitgliedern, die sich mit der Kampagne "Offene Rechnung" erfolgreich für die Aufhebung der Unrechtsurteile auf der Basis des §175 und die Entschädigung eingesetzt haben (StrRehaHomG 2017).

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