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Sachbuch

Über die Lücken und Fallstricke der queeren Geschichtsschreibung

Der neue Sammelband "tin*stories" macht trans, inter und nicht-binäre Geschichte(n) im deutschsprachigen Raum seit 1900 sichtbar. Ein überfälliges Buch für die Community und den Schulunterricht!


Das NS-Opfer Liddy Bacroff (1908-1943) wird von schwuler Geschichtsschreibung vereinnahmt, obwohl ihre eigenen Zeugnisse ein Selbstverständnis als trans Frau nahelegen (Bild: #prideuntold / Staatsarchiv Hamburg)

"Trans Menschen gab es schon immer", ist ein beliebtes Argument in der Community gegen transfeindliche Rhetorik – wir als etwas Uraltes, wir als Teil der Welt und Gesellschaft genauso wie cis Menschen. Der Ausspruch versucht sich durch seine hundertfache Wiederholung selbst zu erhalten, obwohl wir natürlich längst wissen, dass es nicht so einfach ist. Der neue Sammelband "tin*stories – Trans / inter / nicht-binäre Geschichte(n) seit 1900" (Amazon-Affiliate-Link ), herausgegeben von Joy Reißner und Orlando Meier-Brix in der edition assemblage, stürzt sich kopfüber in dieses "nicht so einfach" der queeren Geschichtsschreibung.

Denn wen nennen wir überhaupt trans? Wen inter, wen nicht-binär? Menschen, die sich vielleicht selbst ganz anders genannt haben? Was steht es uns zu, ihnen unsere Worte zuzuschreiben? Das ist nur eine der Fragen, um den sich die vierzehn Texte drehen. Es ist kein einfaches Buch – weder einfach zu lesen noch einfach zu verdauen. Noch ist es einfach, eine Rezension über "tin*stories" zu schreiben, welche diesen Texten gerecht wird.

Doch die Herausgeber*innen taten ihr Bestes, um den Inhalt des Bandes zu strukturieren, einerseits durch die chronologische Ordnung, andererseits durch das Vorwort. Die Erklärung und Kontextualisierung häufig genutzter Begriffe ermöglicht es hoffentlich auch Szene-Fremden, das Buch zu lesen und zu genießen.

Wie dachten die Personen über sich selbst?


Der Sammelband "tin*stories" ist am 8. Dezember 2022 in der edition assemblage erschienen

Dabei steht der wichtige Hinweis, dass diese Begriffsdefinitionen in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr aktuell sein könnten und den gegenwärtigen Stand eines Diskurses repräsentieren – so einen differenzierten Umgang mit der Aufklärungsarbeit wünsche ich mir von viel mehr Büchern. Gleichzeitig verwenden die Schreibenden viele Begriffe in ihren Texten unterschiedlich, was zwar auf den ersten Blick verwirrend scheinen mag, aber einfach hervorragend repräsentiert, wie unterschiedlich Sprache in der Community benutzt wird. Es gibt eben nicht die eine perfekte Definition, unter der sich alle queeren Menschen sehen, oder den einen perfekten Begriff, genauso wie es nicht die eine Geschichtsschreibung geben kann.

Der Sammelband umfasst so eine Vielzahl literarischer Stimmen und Formen und liest sich äußerst abwechslungsreich – Essay, Interviews, Tagebuchausschnitte, einige Collagen und Zeichnungen. Man arbeitet sich durch die Zeit, manche Texte sind zugänglich, manche weniger, manche sprechen in akademischer Distanz, unter der unverhohlene, berechtigte Wut lauert – manche sind roh, blutig, dringliche Appelle gegen queerfeindliche Grausamkeit. Viele berichten von der Schwierigkeit, mit historischen Quellen umzugehen, Zeitungsartikel und medizinische Berichte interpretieren zu müssen, die einen normgesellschaftlichen Blick auf queeres Leben widerspiegeln. Oft geht es um das Problem, dass wir oft nicht wissen, wie Personen in der Vergangenheit über sich selbst dachten – oder es wissen, aber die Selbstzeugnisse von ihnen unter Bergen diskriminierender Berichte vergraben liegen.

Sich mit diesen Fallstricken der queeren Geschichtsschreibung auseinanderzusetzen, ist äußerst interessant. Auf jeden Fall beweist die Beschäftigung mit historischem Material, dass Queerfeindlichkeit eine lange Geschichte hat. Dass trans, inter und nicht-binäre Menschen "Täuscher*innen" seien und gemeingefährlich für die Gesellschaft, war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine gängige Ansicht. Solche historischen Kontinuitäten zeigt der Sammelband an vielen Stellen auf. Ein Beispiel dafür ist die Beschäftigung mit der Verstrickung von Frauenbewegungsgeschichte und trans Geschichte im Essay von Alexander Mounji, welches unter anderem darlegt, wie Splittergruppen in den 1980er Jahren trans Frauen den Zugang zu Frauenräumen verwehren wollten – und genauso berichtet der Text von der starken Gegenposition der Mehrheit der cis feministischen Bewegung.

Vereinnahmung historischer Personen

Immer wieder geht es auch um das Problem der Vereinnahmung historischer Personen durch andere (auch queere) Gruppen, wobei Aspekte der Persönlichkeit der Person verloren gehen. Karl M. Baer wurde und wird hauptsächlich als trans Mann gelesen, seine Intergeschlechtlichkeit wird ausgeblendet. Die historische Person Einsmann wird universell als Lesbe und cis Frau gedeutet, obwohl Einsmanns Lebensgeschichte auch andere Interpretationen zulässt. Liddy Bacroff wird von schwuler Geschichtsschreibung vereinnahmt, entgegen ihrer eigenen Zeugnisse, die ein Selbstverständnis als trans Frau nahelegen.

Es freute mich, dass mir das Buch so viele queere Personen nahebrachte, von denen ich bisher noch nichts gehört hatte: den trans Mann Gerd Katter oder die trans weibliche und lesbische Widerstandskämpferin und Dichterin Ovida Delect.


Ovida Delect (1926-1996) war eine der wenigen dokumentierten transgeschlechtlichen Personen, die in einem Konzentrationslager inhaftiert waren (Bild: Wikipedia)

Ich schätzte sehr die Auseinandersetzung Niki Trauthweins mit Joseph Wagner, einem trans Mann bei der Waffen-SS – queere Menschen als Täter*innen, wie gehen wir damit um? Was machen wir, wenn historische Figuren nicht mehr einfach nur Opfer sind, sondern selbst diskriminieren und morden, selbst Faschist*innen sind?

Was oft in Büchern über neuere deutsche Geschichte zu kurz kommt, ist das Thema queerer Aktivismus in der DDR – nicht so in "tin*stories", wo dem Publikum zwei Beiträge dazu präsentiert werden. Auch Österreich und die Schweiz werden öfters angesprochen, nicht zuletzt in zwei ausgezeichneten Interviews zum Thema Inter-Aktivismus.

Fehlinformation in "Glitchtopia"

Schwierigkeiten bereitete mir allein das letzte Essay, "Glitchtopia" von neo seefried und xan egger, das sich etwas in den Überlegungen verliert, was das queere Berlin und seine Nachtclubkultur nun ist, nicht ist, sein könnte und nicht sein soll. Wie viel dieser Text einem nicht-akademisierten Publikum bringt, welches nicht aus dem Stand etwas mit Donna Haraway anzufangen weiß, sei dahingestellt; und auch ein queerer Berliner Rave kann ein maximal unzugänglicher Ort sein. Im Endeffekt ist es eine weitere Mythifizierung einer Stadt, die das nun wirklich nicht nötig hat, und es verstärkt massiv das komplexe Problem der Metro-Normativität – also die starke Verknüpfung von urbanen Lebens und queerer Existenz als besten Zustand, in der diese Existenz geführt werden kann. Vielleicht habe ich aber auch langsam genug von Cyborg-Metaphern…

Wirkliche Irritation löst allerdings eine gravierende Fehlinformation über §45b des Personenstandsgesetzes aus. Dieser wurde 2018 eingeführt, um die Änderung des Personenstandes in "männlich" oder "weiblich", den Eintrag "divers" oder eine Streichung des Personenstandes auf ein ärztliches Gutachten hin zu ermöglichen. "Glitchtopia" spricht nun davon, dass dieser Paragraf nur einem kleinen Kreis an trans Menschen zugänglich ist, nämlich nur binär transitionierenden trans Männern und trans Frauen sowie manchen nicht-binären Menschen. Das ist faktisch falsch. Zu Anfang wurde §45b von trans Menschen mitbenutzt, jedoch wurde dieses Verhalten schon 2019 schleunigst vom Innenministerium unterbunden: §45b soll allein für inter* Menschen sein.

Manche der Community verbundenen Ärzt*innen stellen das erforderliche Gutachten jedoch unter persönlichem Risiko trotzdem für trans und nicht-binäre Menschen aus, die sich das menschenfeindliche TSG-Verfahren ersparen wollen. Dabei scheint der Konsens zu sein, dass das Gutachten aufgrund von Selbstaussage vergeben wird (so, wie es auch im Selbstbestimmungsgesetz sein soll), und nicht aufgrund von erniedrigenden Untersuchungen und Fragestellungen. Wir sprechen hier allerdings von einer rechtlichen Grauzone. Zu schreiben, dass §45b für trans Menschen "offensteht", repräsentiert also weder die tatsächliche repressive Politik des Staates noch die realen Praktiken von trans Menschen (wie mir selbst), die es dennoch mit §45b versuchen. An dieser Stelle nicht einmal ein Wort über das Transsexuellengesetz zu verlieren, halte ich nicht für konstruktiv.

Fortsetzung erwünscht

Der vielen Lücken in der queeren Geschichtsforschung ist sich "tin*stories" absolut bewusst – auch der Lücke in Bezug auf Spuren vergangenen queeren Lebens abseits von Berlin und Hamburg. Man wünscht sich glatt einen zweiten Band von "tin*stories", der sich mit einer Handvoll neuer Themen auseinandersetzt. Utopische Perspektiven auf queeres Leben in der Vergangenheit strahlen in die Zukunft, genauso wie die Warnungen über einstige (und derzeitige) Diskriminierungsstrukturen. Ich kann mir gut vorstellen, das "tin* stories" im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommt – bei entsprechender Sensibilisierung des Lehrpersonals, wobei das ausgezeichnete Vorwort behilflich sein wird. Wie auch die Herausgeber*innen wünsche ich mir, dass der Sammelband an vielen verschieden Orten gelesen wird.

Abschließend bleibt zu sagen: "tin*stories" erfordert Neugier und eine Bereitschaft, sich mit Begriffen auseinanderzusetzen, die einem vielleicht unbekannt sind. Ich wollte diese Rezension mit einem starken Zitat enden lassen. Doch in "tin*stories" gibt es davon einfach zu viele. Deswegen endet der Text mit einem Aufruf: Lest das Buch!

Infos zum Buch

Joy Reißner, Orlando Meier-Brix (Hg.): tin*stories. Trans / inter / nicht-binäre Geschichte(n) seit 1900. Mit Illustrationen von: Sanja Prautzsch. 192 Seiten. edition assemblage. Münster 2022. Taschenbuch: 12,80 € (ISBN 978-3-96042-151-1)

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#1 PrideProfil
  • 11.12.2022, 12:26h...
  • "Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung..."

    Mit dieser einleitenden Formulierung, als solche auch im Urteil zur 3. Geschlechtsoption verwendet, ist das Personenstandsgesetz 45b rechtlich für jedermensch anwendbar, auch wenn es sich gerade nicht um das von der jetzigen Regierung verweigerte, vollumfassende geschlechtliche Selbstbestimmungsgesetz handelt.
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#2 Ith_Anonym
  • 11.12.2022, 12:44h
  • Antwort auf #1 von Pride
  • Ich bin zu faul, es rauszusuchen, aber soweit ich mich erinnere, wurde nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Dritten Option genau diese Möglichkeit von Sachverständigen herausgearbeitet. Vom LSVD ging das damals aus, glaube ich.

    Als das aber in einigen Fällen dann so angewendet wurde und das publik wurde, hat Seehofer kraft seines Amtes als Bundesinnenminister eine Anweisung an Standesämter erlassen, dass diese Interpretation zu unterlassen sei, und Standesbeamt*innen sowie Ärzt*innen rechtliche Konsequenzen angedroht, wenn sie nicht spuren, und seitdem hat sich die Cis-Welt halt darauf geeinigt, dass man es so umsetzt, wie Seehofer sich das vorstellt.

    Er hat ja mit seinem Vorschlag zur damaligen TSG-Reform in den Fußnoten sogar versucht, Eingrenzungen in ein Gesetz zu bekommen, die genau diese Interpretation außer Kraft setzen. Die Reform wurde allerdings ja verhindert, und soweit ich es verstehe, gibt es insofern diese rechtliche Eingrenzung bis heute nicht. Die Rechtfertigung der Nicht-Anwendung dessen, was du da vorschlägst, ist einfach nur: Die Cissen in den Machtpositionen haben sich darauf geeignet, dass es so nicht gemeint war.
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#3 PrideProfil
  • 11.12.2022, 13:09h...
  • Antwort auf #2 von Ith_
  • Die Strafandrohung, das was im Artikel wohl mit "2019" auch gemeint ist, war und bleibt im Effekt 'ne ziemliche Luftnummer Seehofers. Deine Behauptung der Einigung der Cissen auf Seehofer seh' ich genauso wenig. Mensch muß 'ne Ärzt*in finden, die das grundgesetzliche Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung ernst nimmt und dem entsprechend ein Gutachten ausstellt.
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#4 WanndererAnonym
  • 11.12.2022, 14:22h
  • Und wir sollten wirklich langsam anfangen andere Zentren als Berlin abzufeiern und mal neue aufbauen. Können ja auch nicht alle nach Berlin ziehen.
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#5 PrideProfil
  • 11.12.2022, 17:07h...
  • Antwort auf #3 von Pride
  • Dieses Gutachten bzw. die Bescheinigung wäre nicht einmal mehr notwendig, wenn der Absatz 3 des §en 45b Personenstandsgesetz vom Bundesverfassungsgericht über 'ne Beschwerde aufgehoben oder die Bundesregierung mit ihrer parlamentarischen Mehrheit diesen einfach ersatzlos streichen würde. Auch Menschen ab 14 Jahren sind in dem Gesetz bedacht, bei denen die Erklärung vorm Standesamt allerdings von den Eltern abgegeben werden muß. Bei der Verfaßtheit dieser Bundesregierung möchte ich mich bei der formellen Personenstandsänderung fast nur noch auf die ersatzlose Streichung des Absatzes beschränken und sie von allem sonst die Finger lassen soll, um nicht alles nur schlimmer zu machen.
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#6 PrideProfil
#7 HinweisAnonym
  • 11.12.2022, 23:10h
  • Möchte darauf hinweisen, dass 45b, im Gegensatz zum TSG, kein Offenbarungsverbot enthält.

    Das ist in meiner persönlichen Situation leider sehr wichtig und der Grund, weshalb ich nicht über 45b gehen kann.
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