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"Begegnung am Fluss"

Ein queerer Roman von gestern und doch für jetzt

Spirituelle Erleuchtung, Flucht vor der Welt, eine geheim gehaltene Liebe – der großartige Christopher Isherwood behandelt die großen Fragen des Lebens in einem jetzt neu übersetzten Roman.


Christopher Isherwood 1965 in Los Angeles, "Begegnung am Fluss" erschien zwei Jahre später (Bild: IMAGO / Everett Collection)

Die familiäre Liebe kann vermeintlich nichts erschüttern. Zumindest heißt es das gemeinhin; vom Blut, das dicker sei als Wasser, ist die Rede. Und so ist Patrick denn auch überrascht und vor allem sehr erfreut, als er einen Brief seines seit Jahren zunehmend entfremdeten Bruders Oliver erhält. Zumindest schreibt er es Oliver in seinem Antwortbrief. Doch Oliver traut seinem Bruder nicht, vermutet hinter dessen freundlichen und offenen Worten eine zwiegesichtige manipulierende Absicht. Zumindest lesen wir das so in seinen Tagebuchaufzeichnungen.

Ebenso wie die blutdicken Familienbande sprichwörtlich sind, ist auch die liebevolle Rivalität zwischen Geschwistern gemeinhin bekannt. In Christopher Isherwoods "Begegnung am Fluss" (Amazon-Affiliate-Link ) wird die Beziehung zwischen den Brüdern Patrick und Oliver als emblematisch für die Frage nach dem spirituellen Seelenheil erzählt. Auf der einen Seite steht Patrick, der erfolgreiche Verleger und Unternehmer, glücklich verheiratet mit Penelope, zweifacher Vater, reist durch die Welt, erfreut sich an den Annehmlichkeiten des Lebens. Auf der anderen Seite steht Oliver, der jüngere der beiden, ein melancholischer Träumer, der seine eigene Karriere mehrfach untergräbt und nun, zu Beginn des Romans, kurz davorsteht, als ein hinduistischer Mönch in einem indischen Kloster final der Welt zu entfliehen. Nur die Begegnung am Fluss mit seinem Bruder hält ihn gedanklich noch zurück.

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"Der" schwule Autor

"Treffen am Fluss", wie der Titel damals noch lautete, wurde zuletzt 1980 verlegt und war die letzten Jahre nur noch antiquarisch zu haben. Glücklicherweise setzt der Verlag Hoffmann & Campe seine Reihe an Neuübersetzungen der Werke von Christopher Isherwood fort. Nach "Leb wohl, Berlin" und "A Single Man" ist nun auch die "Begegnung am Fluss" neu ins Deutsche übertragen erschienen. Das ist zum einen erfreulich wegen Isherwoods historischer Bedeutung und seiner Rolle in der Schwulenbewegung. Zum anderen aber war er auch ein Autor von herausragendem literarischem Talent, etwa sein Roman "A Single Man" wird nicht selten als das vielleicht beste schwule Buch überhaupt betitelt.

Was Isherwood allgemein als Schreibenden auszeichnete und auch in "Begegnung am Fluss" anschaulich ist, ist etwas, das oft als "Queer Sensibility" bezeichnet wird. Das lässt sich nicht direkt als "Empfindsamkeit" ins Deutsche übersetzen. Gemeint ist aber auch die aus der queer gelagerten Art des Empfindens, den speziellen Erfahrungen als queere Person gelebt zu haben resultierende Sicht auf die Welt. Es lässt sich natürlich darüber streiten, ob eine speziell queere Sensibility überhaupt existiert, oder ob es sich nicht vielmehr um eine gemeinhin menschliche handelt.

Eher ein Nebenwerk Isherwoods


"Begegnung am Fluss" ist im November 2022 bei Hoffmann und Campe erschienen

Was taugt nun aber "Begegnung am Fluss"? Mein Kritiker-Kollege Carsten Moll urteilte bereits, trotz "kleinerer Schwächen hat sich der Roman seinen Platz neben 'Leb wohl, Berlin' und 'A Single Man' redlich verdient". Ich möchte dem hier eine andere Position entgegensetzen und den Roman, trotz allem Lob und ausdrücklicher Empfehlung, doch eher als Nebenwerk Isherwoods einordnen.

Zuerst sei jedoch die Übersetzung von Hans-Christian Oeser lobend erwähnt. Sie ist zwar nicht immer ganz treu – das titelgebende "Meeting" war wahrscheinlich als "Treffen" richtiger übersetzt als das poetischere "Begegnung", doch das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil! Das Poetische der Sprache fängt im besten Sinne den Ton der Romanhandlung ein. Die bekannten und eigentlich erwartbaren Elemente der 1960er Jahre, als der Roman erstmals erschien und spielt, die verbotene schwule Liebe, die gesellschaftlichen Zwänge und Erwartungen, geben ein gutes Porträt des Zeitgeistes ab und sind doch eigentlich nebensächlich.

Im Zentrum des Romans stehen die uralten Fragen um menschliche Zuneigung, Gesehen- und Verstanden-Werden sowie die Möglichkeiten und Unmöglichkeit der Liebe. Dass die Handlung weder in eine besondere Schwere noch in den Kitsch abgeleitet, ist der Form zu danken. Als Collage angelegt, aus Briefen der beiden Brüder Patrick und Oliver, sowohl aneinander als auch an andere Freund*­innen und Familienmitglieder adressiert, und kurzen Tagebucheinträgen Olivers, erzeugt der Roman ein scheinbar widersprüchliches Leseerlebnis. Die Figuren wirken sehr nah, die Handlung aber erscheint weit weg. Die Form des Briefs wirkt veraltet und in der, eben romanhaften, Ausführlichkeit, die sie hier einnimmt, auch sehr künstlich. Doch es ist gerade die Distanz durch Künstlichkeit, die absolut notwendig ist für das Gelingen des Romans. Die große Leistung liegt in der Form.

Postkolonialismus und Spiritualität

Oliver und Patrick kommen jeweils als Ich-Erzähler direkt zu Wort und bekommen den Raum, sich frei und eigener Lust und Taktik zu äußern, was sie fast zu direkten Gesprächspartnern macht, die ihre innersten Gefühle teilen. Auf der anderen Seite ist jedes bisschen Handlung immer nur durch ihre Brillen gesehen und nacherzählt, oft auch in stark unterschiedlicher Weise, je nachdem, welchem Briefpartner sie davon berichten. So schönt Patrick etwa seine Beschreibung von Olivers Leben als Mönch, wenn er der Mutter davon berichtet, nimmt aber seiner Frau Penny gegenüber kein Blatt vor den Mund und berichtet von den, in seinen Augen, Abscheulichkeiten des Lebens im indischen Kloster.

Zwei Themen sind für die Rezeption von "Begegnung am Fluss" wohl von besonderer Bedeutung: Postkolonialismus und Spiritualität. Angenehm umsichtig, besonders in Anbetracht des ursprünglichen Veröffentlichungsdatums, behandelt Isherwood die Rolle der beiden Brüder Patrick und Oliver – beide Briten – als Besucher, als "Eindringlinge" in die spirituelle Welt Indiens, in der der Roman spielt. Die Unbeholfenheit gegenüber den kulturellen Differenzen führt die nicht übernommene Verantwortung der vormaligen Kolonialmacht Großbritannien vor, ohne belehrend zu werden. Hier ist auch wieder die Form entscheidend. Patrick, der Kosmopolit und großbürgerliche Brite, ist natürlich abgeschreckt von den Folgen des Kolonialismus, reflektiert die britische Verantwortung aber nur verschämt und mit einem Lachen. Hier führt "Begegnung am Fluss" die Einstellung der Figur rollenprosaisch vor.

Anders verhält es sich mit dem hinduistischen Glauben. Isherwood, der selbst zum Hinduismus konvertiert war und zeitweise auch als Mönch gelebt hat, ist hier ganz offensichtlich nicht daran interessiert, zu missionieren und nutzt dennoch den Glauben nicht zu Unterhaltungszwecken aus. In Isherwoods Gesamtwerk eingeordnet, erreicht "Begegnung am Fluss" nicht ganz die Tiefe und die Durchschlagskraft seiner großen Bücher. Es liefert nicht dasselbe sehr nachhaltige Leseerlebnis wie zum Beispiel "Christopher und seine Freunde", ist aber dennoch zeitlos und hat bis heute Bestand.

Infos zum Buch

Christopher Isherwood. Begegnung am Fluss. Roman. Übersetzt von Hans-Christian Oeser. 208 Seiten. Hoffmann und Campe. Hamburg 2022. Gebundenes Buch: 25 € (ISBN: 978-3-455-01301-6). E-Book: 16,99 €

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#1 56James35Anonym
  • 29.12.2022, 15:01h
  • Ein wunderschönes Buch, das ich vor ein paar Jahren auf Französisch gelesen habe ("Le garçon près de la rivière").
    Welcher schwule Schritsteller kann heute diesem britischen Autor das Wasser reichen?
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