Es genügt ein Satz, der alles ins Wanken bringt. Eine Frage, ganz harmlos gemeint: "Seid ihr eigentlich zusammen?" Eine Frage, die für Léo eben nicht beiläufig ist, sondern verhängnisvoll, die ihn merklich erschüttert. Eine Frage, nach der nichts mehr ist, wie es einmal war.
Es ist der erste Tag in der weiterführenden Schule. Léo und Remi, 13 Jahre alt, sind beste Freunde – und auch in der neuen Schule in einer Klasse. Die zwei Jungs verbringen bis dahin jede freie Sekunde miteinander, Léo übernachtet bei Remi, sitzt bei dessen Oboen-Konzert im Publikum. Es ist eine innige Freundschaft, Remi legt in der Klasse schon mal seinen Kopf auf Léos Schultern. Die Jungs sind sich körperlich näher als andere Gleichaltrige, daher die Frage einer Mitschülerin.
"Am Anfang war die Beleidigung", schreibt Didier Eribon in seinen "Betrachtungen zur Schwulenfrage". Die Beleidigung, die alle schwulen Männer kennen, oft schon, bevor ihnen ihre sexuelle Orientierung selbst bewusst ist. Für den Teenager Léo ist die Frage, ob er mit Remi zusammen sei, genau diese Beleidigung, auch wenn sie gar nicht so gemeint war. Seine Antwort ist instinktiv, er verneint, streitet es heftig ab, sie seien vielmehr wie Brüder.
Die Angst, noch einmal beleidigt zu werden
Poster zum Film: "Close" läuft seit 26. Januar 2023 im Kino
"Close" ist nach dem gefeierten Drama "Girl" der zweite Spielfilm des belgischen Filmemachers Lukas Dhont. Wieder erzählt er die Geschichte jugendlicher Figuren in einer Ausnahmesituation. Léo (Eden Dambrine), der sich seit der Frage damit auseinandersetzt, ob die Antwort nicht doch anders hätte lauten müssen, und Remi (Gustav De Waele), der seinen besten Freund nicht mehr versteht. Denn wo Léo in seiner Antwort sofort auf Konfrontation geht, bleibt Remi ruhig und besonnen.
Léo entfernt sich zunehmend von ihm. Die Frage, die Beleidigung, ist eine Zäsur in der Freundschaft, es gibt ein Davor und ein Danach. Davor sind sie unbeschwert durch die im Sommer blühenden Blumenfelder gerannt, haben im selben Bett geschlafen. Danach fängt Léo an, Eishockey zu spielen, eine der körperlichsten, härtesten, kurz: männlichsten Sportarten. So setzt er sich bewusst vom Oboe spielenden Remi ab, den klassischen Gegensatz von Athlet versus Ästhet befolgend: Verinnerlichte Homophobie und die Angst, noch einmal beleidigt zu werden, werden zu den Triebfedern seiner Handlungen.
Emotionale Entwicklung einer Freundschaft
Dhonts Drama "Close" konzentriert sich fast ausschließlich auf seine jugendlichen Figuren, die Erwachsenen sind nur am Rande, dann aber gezielt, von Bedeutung. Beide Darsteller, Eden Dambrine wie auch Gustav De Waele, verfügen über eine unfassbar starke Präsenz vor der Kamera, über das Talent, große Gefühle in kleinen Momenten spiegeln zu können.
Der Film zeichnet die emotionale Entwicklung einer Freundschaft nach, die eigentlich ohne Grund von innen auseinanderbricht. Das ist in seinem weiteren Verlauf wahnsinnig schmerzhaft mitanzusehen, zutiefst bedrückend, aber nie anklagend. Lukas Dhont hat ein großartiges Drama geschaffen, das sich vieler Antworten verweigert. Nicht nur deshalb hallt "Close" lange nach. Für solche Filme ist Kino gemacht.
Infos zum Film
Close. Drama. Belgien, Frankreich, Niederlande 2022. Regie: Lukas Dhont. Cast: Eden Dambrine, Gustav De Waele, Emilie Dequenne, Léa Drucker. Laufzeit: 104 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 12. Verleih: Pandora Film. Kinostart: 26. Januar 2023