Einen Tag, bevor sich der Bundestag am Freitag in seiner jährlichen Gedenkstunde für die Opfer des Holocaust erstmals spezifisch den queeren Nazi-Opfern widmet, hat sich das Plenum dem Thema in einer Debatte angenommen. Anlass war ein Antrag der Linken (PDF) zu den "'vergessenen' queeren Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung" (queer.de berichtete).
In ihrer einleitenden Rede erinnerte Kathrin Vogler (Linke) daran, wie schwule Männer inhaftiert, kastriert, ins KZ gebracht und ermordet wurden und wie auch andere queere Menschen Verfolgung erlitten, etwa lesbische Frauen als "asozial" eingestuft wurden. Kriminalisierung und gesellschaftliche Ächtung seien nach der Nazi-Zeit weitergegangen, queere NS-Opfer hätten "Verachtung und Ignoranz" erlitten. Der Antrag thematisiert das näher, benennt Defizite bei Entschädigung, Aufarbeitung und Anerkennung des Unrechts. Er soll als Grundlage für eine nähere Befassung im Rechtsausschuss dienen, wohin der Antrag nach der ersten Lesung verwiesen wurde.
"Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass den queeren Opfern aufgrund der jahrzehntelangen Verweigerung der Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus großes Unrecht angetan wurde", heißt der abschließende Grundtenor des Antrags. "Für das damit verbundene Leid, u.a. durch unterbliebene Entschädigungszahlungen für Haft- und Konzentrationslageraufenthalt, Sterilisation und Kastration bzw. 'freiwillige Entmannung' sowie verweigerte Rentenansprüche, entschuldigt sich der Deutsche Bundestag bei allen Opfern und ihren Hinterbliebenen."
Nur die AfD fällt aus der Reihe
Die Debatte am frühen Donnerstagabend folgte diesem Tenor weitgehend in einem angemessenen Tonfall. So beklagte auch der SPD-Politiker Jan Plobner die "Kontinuität der Verfolgung queerer Menschen" und erinnerte dabei an das Schicksal von Karl Gorath, dessen Biografie sich der Schauspieler Jannik Schümann in der Gedenkstunde am Freitag widmen wird: Er wurde 1946 von dem gleichen Richter verurteilt, der ihn bereits 1938 nach dem Paragrafen 175 zu Zuchthaus verurteilt hatte. Er "schäme sich so sehr" dafür, auch für die "erschreckende Kontinuität" im Wegdrängen queerer Menschen aus dem Gedächtnis, so Plobner. Bis heute habe sich das Land nicht von dieser Queerfeindlichkeit emanzipiert, wie etwa das Fehlen der Gruppe in Artikel 3 zeige, dem Antidiskriminierungs-Abschnitt des Grundgesetzes. Es sei kein Zufall, dass die Nazis gegen queere Menschen und recht früh gegen Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft vorgegangen seien: Faschismus bedeute Konformität, das "Ausmerzen alles Andersartigen".
Der CDU-Abgeordnete Ingmar Jung beklagte die "widerlichen Taten" der Nazis, "gegen die im einzelnen manchmal der Tod noch fast gnädig" erscheine. "Nie wieder" sei das Motto, aber dennoch geschehe Unrecht "immer wieder", auch gegen queere Menschen, in vielen Teilen der Welt und auch hierzulande. Man schulde allen verfolgten Gruppen Gedenken und Erinnern, aber das werde ihnen nicht gerecht: "Nie wieder" bedeute in der Gegenwart zu handeln und aufzustehen "gegen Gewalt und Missbrauch, gegen Verunglimpfung und Ausgrenzung von Minderheiten und Andersdenkenden". Das Parlament trage eine historische Verantwortung.
Ulle Schauws von den Grünen betonte, es habe "Wunden hinterlassen", dass "queere Opfergruppen lange ignoriert" wurden. "Kein queerer Mensch hatte nach dem Krieg ein leichtes Leben, in keinem der beiden Staaten". Verfolgung und Diskriminierung von LGBTI blieben bestehen, die Gedenkstunde sei daher ein "Meilenstein". Doch bei queerfeindlicher Haltung in Gesellschaft und Politik gebe es bis heute Kontinuitäten: So werde zwei Müttern die rechtliche Elternschaft abgesprochen, "das menschenverachtende Transsexuellengesetz" sei noch in Kraft, Hasskriminalität steige an. Es sei "höchste Zeit, Queerpolitik für unsere Gesellschaft besser zu machen", so Schauws. Dazu erwähnte sie auch die Aufnahme des Merkmals "sexuelle Identität" in Artikel 3.
Der schon häufiger mit queerfeindlichen Tiraden aufgefallene AfD-Abgeordnete Stephan Brandner teilte in seinem folgenden Redebeitrag vor allem ohne näheren Bezug zum Thema gegen andere Parteien aus und sprach von einem "Schaufensterantrag", der von den Bürgern in Zeiten von Inflation und "Klima- und Migrantenbanden" weit entfernt sei und gegen den seine Partei stimmen werde – es bleibe ohnehin unklar, was "dieser Bundestag" mit der Verfolgung zu tun habe und wofür man sich "im Jahr 2023" entschuldigen solle. Auch arbeitete sich Brandner einseitig an Magnus Hirschfeld als "Eugeniker und Sozialdarwinist mit widerlichen Phantasien und Plänen" ab.
Deutschland habe "wichtigere Probleme" als die Verfolgung und Würde queerer Menschen, findet der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner
Nur elf Länder weltweit hätten bislang einen Schutz queerer Menschen in der Verfassung, betonte der FDP-Politiker Jürgen Lenders – "Deutschland gehört nicht dazu". In über 70 Ländern würden sie weiter kriminalisiert, in elf drohe weiter die Todesstrafe. Auch deutsche Behörden müssten die Debatte verfolgen. Lenders lobte die Abschaffung des "Diskretionsgebots" bei queeren Asylsuchenden: Homo- und Transsexualität müsse ein Asylgrund sein.
Auf queere Geflüchtete, auf das Selbstbestimmungsgesetz, Artikel 3 oder den Aktionsplan der Bundesregierung gingen noch weitere Redner*innen ein. Anke Henning von der SPD hätte es etwa erfeulich gefunden, wenn das Selbstbestimmungsgesetz das Thema der ersten queerpolitischen Debatte des aktuellen Bundestags geworden wäre. An der Abschaffung des Transsexuellengesetzes, das an Methoden der Nazis erinnere, arbeite man "mit Hochdruck".
Eine Aufnahme von "sexueller Identität" in Artikel 3 sei ein "rechtspolitisch angemessenes Signal", betonte derweil auch der CSU-Politiker Volker Ullrich. Zu lange hätten queere Menschen "im Schatten der Geschichte" gestanden, und der Schatten sei ein Grund, "dass ihnen keine Gerechtigkeit widerfuhr". Es müsse noch mehr historische Aufarbeitung folgen, und es gebe ein klare "Verpflichtung zum Handeln", sich Queerfeindlichkeit und Diskriminierung entgegenzustellen. Mit dem Gedenken am Freitag gebe der Staat den Opfern ihre Würde zurück.
Gedenkstunde am Freitag
Der Deutsche Bundestag erinnert jährlich anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager in Auschwitz am 27. Januar 1945 an die Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Jahr stehen erstmals sexuelle Minderheiten im Mittelpunkt (queer.de berichtete).
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) wird die Gedenkstunde am Freitag um 10 Uhr mit einer Ansprache eröffnen. Bei der Veranstaltung wird auch die Holocaust-Überlebende Rozette Kats sprechen. Danach stellen die Schauspieler*innen Jannik Schümann und Maren Kroymann zwei wegen ihrer Homosexualität von den Nazis verfolgte Menschen vor. Anschließend wird Klaus Schirdewahn als Vertreter der queeren Community das Wort ergreifen. Die Sängerin Georgette Dee und der Pianist Tobias Bartholmeß werden die Gedenkstunde musikalisch begleiten. Das ZDF und Phoenix werden die Veranstaltung ab 10 Uhr live übertragen.
Im Thüringer Landtag ist ab Freitag die Ausstellung "Rosa Winkel. Als homosexuell verfolgte Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora" zu sehen. In mehreren Städten finden spezielle Gedenkveranstaltungen der Community statt. (nb)
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