Bundeskanzler Olaf Scholz war bei der Gedenkstunde anwesend (Bild: Screenshot ZDF)
78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz hat der Bundestag am Freitagvormittag in seiner Gedenkstunde für NS-Opfer erstmals schwerpunktmäßig an verfolgte sexuelle und geschlechtliche Minderheiten erinnert. 70 Minuten lang wurde in mehreren Reden Schicksale von NS-Opfern vorgestellt. Dazwischen stimmte Georgette Dee mit Klavierbegleitung die Lieder "Von der Freundlichkeit der Welt" und "Wenn ich mir was wünschen dürfte" an.
(Bild: Screenshot ZDF)
Die Abgeordneten zeigten sich von den Redebeiträgen sichtlich bewegt. Im Plenum waren neben Bundeskanzler Olaf Scholz auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident Peter Tschentscher und Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth anwesend. Das ZDF übertrug live. Die Reden wurden mit langem Applaus quittiert. Es fanden dabei keine respektlosen Aktionen der AfD statt, die bei einer Debatte noch am Abend zuvor eine Entschuldigung für die NS-Gräueltaten an queeren Menschen abgelehnt hatte (queer.de berichtete).
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas begann die Gedenkstunde, indem sie Überlebende begrüßte, auch "Gäste aus der queeren Community". Der Holocaust sei "in der Geschichte der Menschheit ohne Vergleich" – und Deutschland sei dafür verantwortlich, so die SPD-Politikerin. Sie sprach auch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine an – und dass es eine "Verhöhnung" sei, die Attacke auf das Nachbarland mit der Befreiung Deutschlands zu vergleichen. Im Mittelpunkt stehe dieses Mal mit queeren Menschen eine Opfergruppe, "die lange um Anerkennung kämpfen musste".
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei ihrer Rede (Bild: Screenshot ZDF)
Bas betonte, dass nicht nur schwule Männer nach dem von den Nazis verschärften Paragrafen 175 unter den Nazis leiden mussten, sondern die gesamte LGBTI-Community. "Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach", sei verfolgt worden. Trans Menschen und lesbische Frauen seien "unter Vorwänden" verfolgt worden, etwa als "Asoziale". In Konzentrationslagern seien "medizinische Experimente" an queeren Menschen durchgeführt worden. "Die meisten kamen nach kurzer Zeit um oder wurden ermordet", so Bas.
Das Ende des Nationalsozialismus habe "kein Ende der staatlichen Verfolgung" bedeutet. Schließlich sei die Nazi-Version des Paragrafen 175 in der Bundesrepublik bis 1969 gültig gewesen, erst 1994 wurde das Gesetz gestrichen. "Aus heutiger Sicht klingt das unglaublich", sagte Bas. Die Anerkennung als Opfer sei queeren Menschen lange verwehrt worden. Deshalb sei es "sehr wichtig", den Opfern in diesem Rahmen zu gedenken. Schließlich gebe es "immer weniger Zeitzeugen", die ihre Geschichten erzählen könnten. "Es kann keinen Schlussstrich geben", so Bas weiter.
"Das ist eine Schande für unser Land"
Mit Blick auf die heutige Zeit erklärte die Parlamentschefin: "Mir scheint, wir waren schon einmal weiter." Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen des gruppenspezifischen Menschenhasses seien wieder auf dem Vormarsch. "Das ist eine Schande für unser Land", erklärte Bas und rief zur Zivilcourage auf.
Bas wies auch darauf hin, dass queerfeindliche Straftaten zunehmen würden. "In sozialen Netzwerken wird gegen queere Menschen in unerträglicher Weise gehetzt." Sie erinnerte an trans Mann Malte C., der letztes Jahr beim CSD Münster umgebracht wurde (queer.de berichtete). "Auch hier sind wir alle gefordert, gegen Diskriminierung aufzustehen. Eine freiheitliche Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit", so Bas. "Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher."
Als zweite Rednerin sprach die 80-jährige Holocaust-Überlebende Rozette Kats. Sie war 1942 in eine jüdische Familie geboren worden und überlebte nur, weil ein Ehepaar aus Amsterdam sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern waren in Auschwitz ermordet worden. Sie gehöre zwar keiner sexuellen Minderheit an, so Kats, "aber wenn ich die Erfahrungen derjenigen höre, die als sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt wurden, erkenne ich gewichtige Gemeinsamkeiten mit meinem eigenen Leben."
"Es macht Menschen krank, wenn sie sich verleugnen müssen"
Ihr eigenes Schicksal habe sie lange verdrängt. Erst 1992 setzte sie sich bei einer Konferenz in Amsterdam damit auseinander, bei der jüdische Kinder, die während der NS-Zeit versteckt wurden, zusammenkamen. "Das war meine Befreiung. Ein Coming-out aus meinem Versteck. Ich war nicht mehr die einzige." Mit Blick auf queere Opfer sagte die 80-Jährige: "Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen." Sie erinnerte daran, dass queere Menschen auch nach dem Ende der NS-Diktatur verfolgt worden seien. Wenn aber bestimmte Opfergruppen als "weniger wertvoll als andere" angesehen werden, bedeute dies, "dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt". Sie betonte, dass jeder "Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz" habe.
Die Holocaust-Überlebende Rozette Kats engagiert sich seit Jahrzehnten auch für queere Opfer des Nationalsozialismus (Bild: Screenshot ZDF)
Im Anschluss lasen die Schauspieler*innen Maren Kroymann und Jannik Schümann vom Historiker Lutz van Dijk verfasste Texte vor, in denen an die Verfolgungsopfer Mary Pünjer (1904-1942) und Karl Gorath (1912-2003) erinnert wurde. Pünjer, die auch jüdischer Herkunft war, war 1940 als verheiratete Frau unter dem Vorwand der "Asozialität" als "Lesbierin" festgenommen worden, führte Kroymann aus. Sie wurde zwei Jahre später in der als Gaskammer genutzten "Landes-Heil- und Pflegeanstalt" Bernburg (Saale) ermordet. Kroymann sagte, dass wenige Details darüber bekannt seien, ob sie tatsächlich lesbische Bars aufgesucht habe. "Wie gern hätten wir dir zugehört", so beendete Kroymann ihre Rede. Zuvor hatte sie beklagt, dass wegen jahrzehntelangen Schweigens über das Ausmaß der Verfolgung queerer Menschen heute viele Geschichten nicht erzählt werden könnten.
Maren Kroymann bei ihrem Vortrag (Bild: Screenshot ZDF)
Karl Gorath war erstmals 1934 mit 22 Jahren nach Paragraf 175 verurteilt worden. 1938 erfolgte eine weitere Verurteilung, 1943 kam er ins KZ Auschwitz. Er überlebte zwar, nach dem Krieg ging die Verfolgung aber weiter. Er kam wieder ins Gefängnis. Anschließend fand er als Vorbestrafter nur schwer Arbeit und rutschte in die Armut ab. Vor 20 Jahren starb er in Bremerhaven. "2003 im Jahre deines Todes, wollten nur wenige Menschen deine Geschichte hören", so Jannik Schümann.
Jannik Schümann spricht über das Schicksal von Karl Gorath (Bild: Screenshot ZDF)
Als letzter Redner erzählte der 1964 nach Paragraf 175 verurteilte Klaus Schirdewahn seine Leidensgeschichte: "Bis vor fünf Jahren galt ich als vorbestraft", so der Leiter der Mannheimer Gruppe "Gay and Gray". "Für uns alle war das Dritte Reich noch nicht zu Ende." Er berichtete auch davon, wie er vom deutschen Staat damals zu einer "Therapie" gezwungen wurde, um seine Homosexualität zu "heilen". Das habe zu erheblichen psychischen Problemen geführt. "Doch meine Gefühle ließen sich nicht abstellen oder unterdrücken", so Schirdewahn. Er habe sich erst spät geoutet: "Dies war eine Befreiung", erinnerte er sich. Er habe zum ersten Mal das Gefühl gehabt: "Ich bin ich." Junge Menschen dürften heutzutage nicht vergessen, dass die Würde von Homosexuellen in der Bundesrepublik lange als antastbar galt. Die Gedenkstunde sei daher wichtig "für die gesamte Community" – als "Zeichen der Anerkennung und Zeichen in die Gesellschaft hinein".
(Bild: Screenshot ZDF)
Ein Wort in eigener Sache
Hinter gutem Journalismus stecken viel Zeit und harte Arbeit – doch allein aus den Werbeeinnahmen lässt sich ein Onlineportal wie queer.de nicht finanzieren. Mit einer Spende, u.a. per
Paypal oder Überweisung, kannst Du unsere wichtige Arbeit für die LGBTI-Community sichern und stärken.
Abonnent*innen bieten wir ein werbefreies Angebot.
Jetzt queer.de unterstützen!