Mitunter wird Lukas Dhont als Belgiens Antwort auf Xavier Dolan beschrieben, was als Vergleich eine nette Idee ist, aber trotzdem hinkt. Auch wenn der belgische Regisseur genau wie sein kanadischer Kollege queer ist, in seinen Filmen auf Emotionen und Sinnlichkeit setzt und in vergleichsweise jungen Jahren einen ziemlich steilen Karrierestart hingelegt hat.
Dhont gelang der Durchbruch 2018 mit seinem nicht unumstrittenen Film "Girl" über eine junge trans Ballerina der Durchbruch, nun wurde er für den Nachfolger "Close" in Cannes mit dem Großen Preis der Jury bedacht und gerade für den Oscar nominiert. Seit dem 26. Januar ist die Geschichte einer engen Teenager-Freundschaft mit tragischem Ende in den deutschen Kinos zu sehen.
Wir trafen den 31-jährigen Filmemacher zum Interview.
Regisseur Lukas Dhont (Bild: Mayli Sterkendries / Pandora Film)
Ihr neuer Film "Close" erzählt von der Freundschaft zweier 13-jähriger Jungs. Basiert die Geschichte auf eigenen Jugenderfahrungen?
Oh, wir bohren gleich von Anfang an nach meinen frühen Traumata? Na, dann mal los… Aber ein wenig muss ich Sie enttäuschen, denn zunächst einmal begann dieses Projekt für mich mit einem Buch der amerikanischen Psychologin Niobe Way, dass ich spannend fand. Dafür interviewte sie über mehrere Jahre lang männliche Teenager zu ihren Freundschaften – und stellte fest, wie sehr sich die Aussagen über die Jahre veränderten.
Mit 13 sprachen die Jungs über ihre besten Freunde in Worten, die an Liebesbeziehungen erinnerten, so als seien sie die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Aber das änderte sich schnell, je älter sie wurden, und schon bald verwendeten sie ganz andere Begriffe. Es schien, als würden sie diese engen Bindungen plötzlich ablehnen. Oder als könnten oder wollten sie dafür zumindest keine Worte mehr finden. Das fand ich hochspannend. Und fühlte mich dann im zweiten Schritt tatsächlich auch an eigene Erfahrungen erinnert.
In welcher Hinsicht?
Ich habe auch recht früh damit begonnen, mein emotionales Vokabular abzulegen, weswegen ich vielen Menschen gegenüber damals nicht unbedingt gesagt habe, was ich für sie empfinde. In dieser Hinsicht ist "Close" also auch eine Hommage an Jugendfreunde, die gar nicht wissen konnten, wie viel sie mir bedeuteten.
Aber tatsächlich bekam man das ja auch nicht vorgelebt, schon gar nicht in Filmen. Mädchen-Freundschaften wurden zwar als sinnlich und liebevoll dargestellt, aber wenn es um Coming-of-Age-Geschichten unter Jungs geht, dann herrschte da immer eher eine "Herr der Fliegen"-Stimmung, aufgeladen mit Aggressionen und Gepose. Für Zärtlichkeit und Nähe schien dort, genau wie in unserer Gesellschaft, kein Platz zu sein. Das habe ich mir abgeguckt, wie ich überhaupt mit Beginn der Pubertät begann, die Jungs in meinem näheren Umfeld genau zu beobachten und zu imitieren. Wie sie sich bewegen, wie sie reden, wie sie tanzen oder gerade nicht tanzen. Das habe ich alles kopiert, um ja nicht herauszustechen. Ich habe mein eigenes Verhalten im Grunde inszeniert wie ich es heute mit Schauspielern mache. Wahrscheinlich fing damals meine Regie-Karriere an.
Sich verstellen und die Verhaltensweisen anderer zu kopieren ist vermutlich eine Erfahrung, die viele queere Kids kennen.
Ja, und ich habe lange gedacht, dass das womöglich eine rein queere Lebenserfahrung ist. Aber das glaube ich heute nicht mehr. Gerade in meinen Recherchen für das Drehbuch von "Close" habe ich auch mit vielen heterosexuellen Männern gesprochen, die in ihrer Jugend Ähnliches erlebt haben. Die ebenfalls den Eindruck hatten, nicht sie selbst sein zu können, und meinten, bestimmten Erwartungen und Gesellschaftsbildern entsprechen zu müssen. Das hatte ich mir angesichts meiner eigenen Sichtweise bislang so noch gar nicht unbedingt bewusst gemacht. Aber es ist wichtig, sich das bewusst zu machen, den mitunter dauert es ja ein Leben lang, diese Rollen, in die man in der Jugend schlüpft, wiederabzulegen. Auch ich habe diesen Panzer, den ich mir früh zugelegt hatte, erst ganz langsam irgendwann wieder aufbrechen können.
Poster zum Film: "Close" läuft seit 26. Januar 2023 im Kino
Was brauchte es dafür?
Das ich wirklich ich selbst sein und meine wahre Identität leben konnte? Ich brauchte dafür die Hilfe meiner besten Freundin, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre. Wir waren Anfang 20, als sie sich in mich verliebte, was diesen Prozess für mich letztlich zu einer wunderschönen Erfahrung machte. Denn weil sie mir so viel bedeutete, war mir klar, dass ich sie nicht einfach an meinem Panzer abprallen lassen konnte. Und so war sie dann tatsächlich die erste, der gegenüber ich mich geöffnet habe. Das war der Moment, in dem ich mich endlich meinen echten Gefühlen gestellt und aufgehört habe, eine Rolle zu spielen. Danach ging dann in Sachen Selbstfindung eigentlich alles sehr schnell und reibungslos.
Um noch einmal auf "Close" zurückzukommen: Wie genau haben Sie eigentlich mit Ihren beiden jungen Hauptdarstellern Eden Dambrine und Gustav de Waele gearbeitet, zwischen denen eine enorme Nähe und viele Emotionen spürbar sind?
Der Schlüssel dazu ist echte Liebe und Zuneigung, denn mir war klar, dass ich nicht einfach wahllos zwei junge Menschen vor die Kamera stellen kann, die dann so tun sollen, als seien sie engste Freunde. Deswegen haben wir schon in der Casting-Phase angefangen, eine Verbindung zu etablieren. Wir veranstalteten zum Beispiel eine Art Workshop-Tag mit allen jungen Schauspielern, die für die Rollen in Frage kamen, an dem wir in stundenlangen Übungen und Spielen immer neue Kombinationen der Jungs ausprobierten. Eden und Gustav schienen sich von Beginn an irgendwie zueinander hingezogen zu fühlen. Zwischen ihnen gab es eine Chemie, wie man sie nicht faken kann.
Und wie ging es dann weiter?
Wir haben uns dann schnell für die beiden entschieden, auch weil ich erkannte, wie viele Gefühle die beiden ausdrücken können, ohne dafür Worte zu brauchen. Anschließend war das Wichtigste einfach, dass wir viel Zeit miteinander verbrachten. Nicht so sehr zum Proben, auch wenn wir natürlich viel über das Drehbuch gesprochen und uns mit den darin verhandelten Themen, die Eden und Gustav auch aus ihrem eigenen Alltag kannten, beschäftigt haben. Aber vor allem ging es darum, zwischen den beiden und letztlich uns dreien eine Vertrautheit und Intimität zu etablieren. Bis irgendwann die Kamera lief, mussten sie wirklich miteinander emotional verbunden sein.
Letzte Frage noch mit Blick auf die Zukunft: Könnten Sie sich nach Ihren bislang sehr persönlichen, zarten Filmen eigentlich auch vorstellen, mal eine größere Produktion zu stemmen? Etwa eine Auftragsproduktion in Hollywood, wo man ja längst auf Sie aufmerksam geworden ist?
Puh, irgendwie kann ich diese Frage nicht wirklich beantworten. Ein brennendes Bedürfnis ist es mir aktuell nicht, entsprechend bemühe ich mich nicht aktiv darum. Aber ich will mich solchen Überlegungen auch nicht komplett verwehren und bin sicherlich offen für Gespräche aller Art. Ich weiß auf jeden Fall, dass ich jede Menge Fragen hätte und immer versuchen würde, auch in einer großen Produktion Elemente zu finden, zu denen ich einen persönlichen Bezug etablieren kann. Einen Film, mit dem ich nicht auch mein Innerstes zum Ausdruck bringen kann oder für den ich nicht mit Leidenschaft brenne, würde ich nur schwer drehen können.
Infos zum Film
Close. Drama. Belgien, Frankreich, Niederlande 2022. Regie: Lukas Dhont. Cast: Eden Dambrine, Gustav De Waele, Emilie Dequenne, Léa Drucker. Laufzeit: 104 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 12. Verleih: Pandora Film. Kinostart: 26. Januar 2023