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Ausstellung in Berlin

Wie Nan Goldin zur queeren Pionierin wurde

Letztes Jahr wurde sie zur einflussreichsten Persönlichkeit der Kunstwelt gekürt, in diesem feiert sie ihren 70 Geburtstag. Im März verleiht die Berliner Akademie der Künste Nan Goldin den Käthe-Kollwitz-Preis – und feiert sie schon jetzt mit einer Retrospektive.


Blick in die Ausstellung, vorn die Fotografie "Misty and Jimmy Paulette in a taxi", entstanden 1991 in New York City (Bild: Axel Krämer)

Kaum jemand hat durch das Medium der Fotografie so eindringlich und unbeschönigt vermittelt, was Liebe bedeutet. Mit ihrer Methode, tiefe Zuneigung und innere Verbundenheit zu visualisieren, war Nan Goldin ihrer Zeit weit voraus. Inszenierte Coolness, zur Schau gestellte Pärchenharmonie oder Schönheit im klassischen Sinne zählen nicht dazu; auch die selbstbewusste Ästhetisierung von körperlichen Makeln wäre eine unzureichende Charakterisierung ihres Werks. Nan Goldins Blick zeichnet vielmehr aus, sich in die Verletzlichkeit all jener einzufühlen, die sie in ihren Bildern festhält: Menschen, die sie liebt, mit denen sie eng vertraut ist, die sich ihr gegenüber unverstellt zeigen, verwundbar, zweifelnd, mit all den vom Schicksal zugefügten Kratzspuren und dennoch lebenshungrig. Goldin zeigt sie uns, wie sie sind: Fotografie als Abbild persönlicher Wahrhaftigkeit. Möglich ist das nur in einem Verhältnis bedingungslosen Vertrauens.

Goldin war immer auf der Suche nach dem, was Liebe ist, und sie kannte den damit verbundenen Schmerz. Sie wusste um die Superpower von geliebten Menschen, die unsere Lust am Leben befeuern, die uns jedoch auch umso mehr verletzen können, je näher sie uns sind. Ihre Bilder zeugen von dieser Intimität in allen Facetten, in allen Beziehungsphasen, in allen Höhen und Tiefen, und fast immer scheint es so, als sei die Fotografin selbst Teil des Geschehens – nicht als Beobachterin mit Objektblick, sondern selbst involviert, subjektiv und empathisch, inmitten einer emotionalen Erfahrung. Eines ihrer Zitate lautet: "Ich will fühlen, was der andere fühlt, und die zwischen Menschen klaffende Glaswand zerbrechen." Bildkomposition, Arrangement oder der bewusste Einsatz von Metaphern stehen bei ihr nicht im Vordergrund.

Menschen beim Feiern, Sex und Sterben


Nan Goldin auf dem Pressefoto der Akademie der Künste (Bild: Phil Penman)

Auf ihren Bildern sehen wir Menschen beim Feiern, beim prüfenden Blick in den Spiegel, beim Austausch von Zärtlichkeiten, beim Entkleiden, beim Sex, beim Streiten, beim Grübeln, beim Leiden, beim Konsum harter Drogen, beim Sterben.

Berühmt ist ihr Selbstporträt aus dem Jahr 1984, nachdem sie von ihrem damaligen Liebhaber verprügelt wurde: das linke Auge geschwollen, unter der Blutung lässt sich nur mühevoll die Pupille erkennen. Auf der Wange unter dem rechten Auge zeichnet sich in dunklen Farben eine Prellung ab. Beinahe wäre Nan Goldin erblindet. Ihr Blick in die Kamera hat nichts Anklagendes und wirkt dennoch entschlossen. Das Bild hilft ihr dabei, die toxische Beziehung zu ihrem Freund Brian zu beenden. Bemerkenswert sind die feuerrot geschminkten Lippen, die mit den Blessuren kontrastieren. Entstanden ist das Foto im Westen Berlins. Die Mauerstadt war damals bereits einer ihrer Ankerpunkte. Auf Einladung von Alf Bold, dem Programmleiter des Arsenal-Kinos, war Goldin 1983 erstmals angereist, kam von da an jährlich und blieb in den frühen Neunzigern dank eines Stipendiums für mehrere Jahre.

Gut eine Dekade ist seit ihrem ersten Berlin-Besuch vergangen. Alf Bold leidet inzwischen schwer an den Folgen seiner HIV-Infektion. Goldin kümmert sich um ihn, nennt ihn später ihren "besten Freund". Bold wiederum ist es ein wichtiges Anliegen, seinen Verfall von ihr fotografisch dokumentieren zu lassen. Aids ist damals noch eine tödliche Krankheit, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Es entstehen zahlreiche Aufnahmen. Goldin ist mit ihrer Kamera auch bei ihm, als er stirbt. "Alf, Auguste Viktoria Hospital" – so der Titel von Nan Goldins Abschiedsbild, das ihren Freund aufgebahrt in seinem Krankenbett zeigt, den Kopf von einer Kompresse umwickelt. Das Licht lässt die Falten des Lakens rund um sein Haupt plastisch werden; sie scheinen einen Strahlenkranz zu bilden. Auf der Bettdecke sind Blumen abgelegt.

Das Werk ist zweifellos ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument. Aktuell wird es in einer Berliner Nan-Goldin-Retrospektive ausgestellt. Es stammt aus einem Lebensabschnitt, in der die Künstlerin einen Großteil ihres Freundeskreises an Aids verlor. Viele, die es sehen, werden dabei an eine Epoche erinnert, die eine ganze Generation der queeren Community prägte. Traumatisierende Erlebnisse angesichts des Massensterbens zählen ohne Frage dazu. Aber auch Erfahrungen von Solidarität, Zusammenhalt, wärmendem Trost und trotzender Lebensfreude. Nan Goldin hat all dies in ihren Bildern mit Hingabe zum Ausdruck gebracht.

Die Akademie der Künste als perfekter Ort

Die Ausstellung wird am westlichen Standort der Akademie der Künste gezeigt, und zwar im Hansaviertel – in einem Baudenkmal von 1960, das inzwischen selbst Bestandteil queerer Ausstellungsgeschichte ist. An diesem Ort fand in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum vor rund 25 Jahren die in jeglicher Hinsicht beeindruckende Mammutschau "Good bye to Berlin? Hundert Jahre Schwulenbewegung" statt. Glanzvolle Eröffnung wurde im August 1997 gefeiert, knapp ein Jahr, nachdem auf dem Welt-Aids-Kongress in Vancouver der medizinische Durchbruch im Kampf gegen die Epidemie verkündet wurde – in Form von wirksamen antiretroviralen Kombinationstherapien. Für viele kam die medizinische Wende zu spät, zudem flaute das Massensterben nur allmählich ab.


Das Gebäude der Akademie der Künste von Werner Düttmann ist inzwischen selbst Bestandteil queerer Ausstellungsgeschichte. Hier fand 1997 die Mammutschau "Good bye to Berlin? Hundert Jahre Schwulenbewegung" statt (Bild: Axel Krämer)

Schritt für Schritt fing die Schwulenbewegung jedoch an, sich zu verändern. Die Abgrenzung zu anderen marginalisierten Gruppen verwischte, das Themenspektrum fächerte sich auf. Es durfte von nun an um mehr gehen als ums nackte Überleben. Kritik an der heteronormativen Gesellschaft wurde laut, das Konzept von queeren Identitäten fing an, sich zu entfalten. In "Good bye to Berlin?" ist davon noch wenig zu spüren. Umso erstaunlicher, dass es in Nan Goldins Schaffen längst Thema war, auch wenn sich dafür noch keine adäquate Sprache durchgesetzt hatte. In ihren früheren Arbeiten von den frühen 1970er bis zu den späten 1990er Jahren zeigte sie vor allem Dragqueens und trans Menschen, doch damals waren die Selbstbezeichnungen noch nicht ausdifferenziert. Dazu sagte sie in einem 2020 auf Youtube veröffentlichten Interview: "Ich muss meine Sprache anpassen. Es ist unglaublich, wie viele Menschen jetzt ein Gespür für sich selbst haben, und das ist wirklich wertvoll."

"Ein schwuler Mann im Körper einer Frau"

Nan Goldin hatte intime Beziehungen zu Männern und Frauen, sie bezeichnet sich selbst als bisexuell. Gegenüber dem Magazin "Sleek" erklärt sie: "Ich verliebe mich nicht in Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer geschlechtlichen Identität. Aber wenn ich gay bin, bin ich wirklich sehr gay." Kleingeistigkeit und Intoleranz irritieren sie: "Als ich bei Act Up aktiv war, wurde die Organisation von zwei Leuten geführt, einem Mann und einer Frau. Sie waren ein Paar, wollten aber auf keinen Fall, dass jemand davon erfährt. Bisexualität war zu der Zeit nicht akzeptiert."


Nan Goldin: Jimmy Paulette and Tabboo! in the Bathroom, 1991 (Bild: Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin)

In einem sehr ausführlichen Interview mit Heinz-Norbert Jocks im Magazin "Kunstforum", das sie im Jahr 2001 gibt, bekennt sie spontan: "Ich glaube, ich habe mehr von einem schwulen Mann als von einer lesbischen Frau. Ein schwuler Mann im Körper einer Frau, so ist das mit mir. Die schwule Sicht hat mit Glamour, einer bestimmten Art von Sensibilität und einer höheren Form von Ästhetik zu tun."

Kunst gegen die Stigmatisierung von Queerness

Ihre Kunst verstand Nan Goldin von Anfang an als eine Mission, bei der es darum ging, heteronormative Mythen von der romantischen Liebe und den binären Geschlechterrollen zu entlarven und gegen die Stigmatisierung von Queerness zu kämpfen. Das zeigte sich bereits in ihren künstlerischen Anfängen. Die 1953 in Washington geborene Künstlerin hatte bereits im Alter von 14 ihr Elternhaus verlassen, das sie als Hölle empfand, und war mit Freund*innen in Boston zusammengezogen. Drei Jahre zuvor hatte ihre acht Jahre ältere Schwester Barbara Suizid begangen. In der queeren Bar "The Other Side" fand sie ein zweites Zuhause und ihre Ersatzfamilie. Der Name der Bar wurde auch zu ihrem künstlerischen Programm, mit dem sie sich jahrzehntelang engagierte: Der von der Gesellschaft verdrängten "anderen Seite" wollte sie zur Sichtbarkeit verhelfen.

Sie bekam Post von Leuten, die sich dafür bedankten, dass Goldin mit ihren Bildern bei ihrem Coming-out geholfen habe "oder dabei, sich als Dragqueens oder als HIV-Infizierte zu outen". Einige der von Goldin Fotografierten sagten ihr, "sie hätten sich erst über meinen fotografischen Blick wirklich selbst kennen gelernt. Vorher wussten sie gar nicht so recht, wer sie waren, und sahen auch nicht, wie schön sie waren und wie viel sie einem bedeuteten. Das kapierten sie erst über meine Fotos. Ich mag es, Menschen einen Sinn von sich zu vermitteln, zu dem sie zunächst keinen Zugang haben." Für Goldin war Fotografieren "eine zärtliche Berührung und eine Bekundung meiner Aufmerksamkeit."

Fotos aus dem Nachtleben von Bangkok und Berlin


Nan Goldin: C putting on her make-up at Second Tip, Bangkok, 1992 (Bild: Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery © Nan Goldin)

Zu ihren glamourösen Bildern zählen jene, auf denen Nan Goldin das Nachtleben erkundet, begleitet von befreundeten Dragqueens und trans Personen – ob in Boston, Bangkok oder Berlin. Ein paar Fotografien dieses Genres sind in der Akademie der Künste zu sehen, sie fügen sich bestens in das Ausstellungskonzept ein. In den düsteren, minimalistisch gestalteten Räumen herrscht die Atmosphäre eines Darkrooms; die einzigen Lichtquellen sind die auf die jeweiligen Fotografien gerichteten Spotlights. Insgesamt sind mehr als 50 Schwarzweiß- und Farbaufnahmen aus fünf Jahrzehnten zu sehen, kurzum: ein repräsentativer Querschnitt aus Nan Goldins Lebenswerk.

Ihr Name ist gerade in aller Munde. Im vergangenen Jahr wurde Goldin von der Zeitschrift "Monopol" zur weltweit einflussreichsten Persönlichkeit der Kunstwelt gekürt. Sie habe mit ihrer Art der Fotografie Kunstgeschichte geschrieben und das Museum "als politischen Ort neu definiert". Die Akademie der Künste verleiht ihr im März den Käthe-Kollwitz-Preis, weil sie mit ihren Fotografien "Tabus gebrochen, Grenzen überwunden und sich damit für Akzeptanz und zunehmende Anerkennung der LGBTQ-Szene eingesetzt hat". Vielen Menschen sei der Blick auf diesen Teil der Gesellschaft erst durch die Künstlerin frei gemacht worden. Und im September wird die mittlerweile in Paris lebende Goldin ihren 70. Geburtstag feiern. Die queere Community hat allen Grund, darauf anzustoßen.

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#1 Miguel53deProfil
  • 29.01.2023, 19:20hOttawa
  • Toll, dass Queer über diese großartige Künstlerin schreibt. Es hat eine Weile gedauert, bis sie die große, internationale Anerkennung gefunden hat, die sie verdient.

    Es begann mit ihrem ersten Buch, Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit, das sie zuvor und auch später noch als Dia-Projektion öffentlich vorführte. Da waren weit mehr Fotografien zum Thema zu sehen, als im Buch selbst.

    Was in ihrer Biografie nicht erwähnt wird, dass es nicht Berlin war, wo ihre Karriere begann, sondern meine Heimatstadt Wuppertal. Sie war mit dem Free-Jazzer Peter Kowald befreundet, der in Wuppertal eine erste Ausstellung für sie organisierte. In ihrem ersten Buch gibt es ein Foto, Peter am Fenster oder so ähnlich. Das war auf einer gemeinsamen Bahnfahrt nach Berlin entstanden.

    Peter war ein Freund und mein erster Griechisch-Lehrer. Er hat später noch weitere Ausstellung mit ihr in Wuppertal organisiert und ich hatte das Glück, eine ihrer Dia-Projektionen in einem alten Kino zu erleben und sie kennenzulernen. Ich besaß auch eine signierte Fotografie.

    Wer hätte gedacht, dass sie eines Tages so anerkannt, so etabliert sein würde, wie sie es jetzt ist. Doch we schon gesagt, sie hat es verdient.
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