In Deutschland steckt der Eurovision Song Contest in der Krise: Fortwährend letzte und vorletzte Rangplätze in den vergangenen Jahren, sinkende Einschaltquoten, Frustration bei den Fans. Letztere machen dafür vor allem den Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dessen veraltetes Auswahlverfahren verantwortlich: Es gehe, so der Vorwurf, vielmehr um Radiotauglichkeit denn Innovation als Auswahlkriterium für den Vorentscheid.
Die Entscheidung, die Sendung "Unser Lied für Liverpool" am 3. März (abermals moderiert von Barbara Schöneberger) erst um 22.20 Uhr in der ARD auszustrahlen, sei in diesem Kontext als ein weiteres Indiz für den niedrigen Stellenwert zu betrachten, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk dem TV-Event im Mai beimisst.
Und so gleicht die Bekanntgabe jeglicher Details aus dem Bewerbungsverfahren des deutschen Acts einem Spießrutenlauf für die ESC-Delegierten, lastet doch so ein hoher Druck auf ihnen, die deutsche Fangemeinde aus ihrem Tief zu ziehen. Am Freitag war es dann so weit – die ersten acht von neun Kandidat*innen für den Vorentscheid im März wurden angekündigt. Das Teilnehmer*innen-Feld wird durch einen Wildcard-Act komplettiert, für die sechs Acts in einem TikTok-Voting ins Rennen gehen. Der erste Höreindruck zeigt: Der NDR scheint sich die Kritik ein Stück weit zu Herzen genommen zu haben.
Stilistische Bandbreite
Auch wenn einige Songs zunächst stark austauschbar und uninspiriert klingen, ist eine stilistische Bandbreite zu erkennen, die den letztjährigen Auswahlen (sowie der internen Wahl in 2020 und 2021) fehlte. Mit seiner Selbstliebe-Hymne "Dare To Be Different" etwa präsentiert der Sänger und Tänzer TRONG eine flotte Discopop-Nummer, die er als Ausdruck des Andersseins und unklarer Zugehörigkeit mit vietnamesischen Elementen kombiniert. Auch wenn der Text plakativ gerät und der Beitrag insgesamt zu stark an Israels "I.M." angelehnt ist (mit dem Michael Ben David letztlich im Halbfinale steckenblieb), ist das Charisma und die Energie des androgynen Profitänzers nicht von der Hand zu weisen – könnte ergo einige Zuschauer*innen verzaubern.
Mit seinem Song "Dare To Be Different" dürfte TRONG die Herzen der queeren ESC-Fans im Sturm erobern (Bild: Trang Nguyen)
Ob Patty Gurdy mit ihrem charmantem Trash-Faktor so punkten kann wie einst der Publikumsfavorit aus Norwegen "Spirit In The Sky" 2019? Auf den ersten Blick scheint der Act "Melody Of Hope" alle Kriterien zu erfüllen, die es für einen eingängigen Eurovision-Hit braucht: Ein skurriles Instrument – kommt in Form einer Drehleier, nach der die gebürtige Patricia Büchler ihren Künstlernamen ausgewählt hat (im Englischen: "hurdy-gurdy"). Ein mitreißender Refrain – bei einer guten Startnummer-Platzierung könnten auch die letzten angetrunkenen ESC-Fans "Shine bright now, love only guides us – my melodies of hope" mitgrölen. Dazu ein stampfender Pop-Beat, eine strahlend gut gelaunte Künstlerin und eine Leichtigkeit, die den deutschen Beiträgen so lange fehlte.
Um an den Überraschungserfolg von Michael Schulte 2018 als "deutscher Ed Sheeran" anzuknüpfen, können Zuschauer*innen auch zwischen zwei Balladen wählen, die fest für die Sendung Anfang März qualifiziert sind. Mit "Hold On" besingt der ehemalige "The Voice of Germany"-Kandidat Will Church (der dort mit einem Cover des niederländischen Siegertitels "Arcade" startete) die Notwendigkeit innezuhalten – und zur Verdeutlichung dieser Besinnlichkeit nicht davor Halt macht, sich im Musikvideo im Fluss zu reinigen und durch seine Jesus-artige Frisur zu streichen. Auch wenn Church zweifelsohne über ein großes gesangliches Talent verfügt, fühlen sich einzelne Phrasen sehr behäbig an ("Show me how to find my way home"). Ein etwas kontextloser, wenn auch gut vorgetragener Beitrag.
In eine ähnliche Kerbe schlägt René Millers "Concrete Heart". Miller, der bereits für Stars wie Zoe Wees und Steve Aoki geschrieben hat, versucht sich nun mit seiner poppigen Ballade an einem Soloauftritt, der sich in seiner selbstmitleidigen Vortragsweise nur schwer von Größen à la Ed Sheeran oder Hozier trennen lässt. "But I'm still holding on, with nothing in these arms, 'cause you loved me with a concrete heart" heißt es da im Refrain – ich hoffe, das Publikum erkennt bei der Wahl an, dass die Welt von Songs über toxische Beziehungen bereits überschwemmt ist.
Hymne für Außenseiter*innen
"I am a superstar, no one seems to understand": Was textlich zunächst an Beyoncés neuestes Album "Renaissance" erinnern mag, ist ein Auszug aus dem rockig-funkigen "Misfit" von Lonely Spring. Was sie selbst als Hymne für Außenseiter*innen bezeichnen, könnte beim Eurovision Song Contest genau an der richtigen Stelle sein – ist der ESC doch seit jeher Sammelbecken und Repräsentationsort für queere und marginalisierte Menschen. Gelingt den vier Jungs der Sprung, ihre Unbefangenheit und Selbstironie aus dem Musikvideo auf die Bühne übertragen, dürfte einer durchaus stabilen Platzierung nichts im Wege stehen.
Mit "Misfit" von Lonely Spring gibt es einen weiteren Song fürs queere Herz (Bild: Katharina Aigner)
Den einzigen (bereits feststehenden) Act in deutscher Sprache stammt von der hierzulande durch "Wovon sollen wir träumen" und "Liebe ist meine Rebellion" bekannten Band Frida Gold. Ihr Beitrag "Alle Frauen in mir sind müde" ist ein sanfter, reduzierter Song, der stark über seinen Text funktioniert. "Ich kenne nichts, was so ist wie das Lachen einer Frau, die sich wohl fühlt in ihrer Haut" besingt sie – in ihrem Rücken haben sich Pfeile als Metapher für die systematische patriarchale Unterdrückung gebohrt. Der Song endet aber nicht in dieser Hoffnungslosigkeit: "Jedes Lachen einer Frau, und das Feuer in ihren Augen und die Kraft in ihrem Bauch – lass uns die Zukunft darauf bauen." Inwiefern es Frida Gold gelingt, die intensiv-intime Atmosphäre des Songs vor einem Publikum umzusetzen, wird erst die Performance im März zeigen.
Die Inspiration an zurückliegenden ESC-Beiträgen ist in "Once Upon A Dream" nicht von der Hand zu weisen: Optisch erinnert Anica Russo mit ihrer auffälligen roten Mähne an die schwedische Melodifestivalen-Fanfavoritin Dotter, in seinem dramatischen Aufbau ist der Song eine Mischung aus Lettlands "Love Injected" (2015) und dem griechischen "Die Together" (2022). Der Song macht in punkto Gefühlsexplosion kontextspezifisch vieles richtig, auch hier stellt sich die Frage nach der Umsetzbarkeit der märchenhaften Atmosphäre auf der Bühne.
Mit ihrem ESC-Sieg und ihrem kometenhaften Karrierestart zeigte Måneskin, wie sehr die Welt Glam-Rock liebt – Lord of the Lost möchte diesem Vorbild folgen. Die Leadsingle ihres Nr.1-Chart-Albums "Blood And Glitter" ist ein ästhetischer sowie musikalischer Hingucker, der das Narrativ stets angepasster, farbloser Beiträge aus Deutschland aufsprengen könnte. Der sofortige offensichtliche Vergleich zu "Zitti E Buoni" könnte ihnen ein Nachteil sein, da sie qualitativ nicht an das italienische popkulturelle Phänomen heranreichen – im Rahmen der vorgestellten acht Beiträge drücke ich ihnen aber gerne die Daumen.
Abstimmung über den neunten Song bei TikTok
Über den neunten Act kann das Publikum ab sofort bis zum 3. Februar via TikTok abstimmen. Zur Option stehen Beiträge von bekannten Größen wie Schlagersänger Ikke Hüftgold ("Lied mit gutem Text") oder Pop-Sängerin Leslie Clio ("Free Again"). Zudem stehen zur Auswahl das unangenehm plumpe "Heaven" (Betül); die zweisprachige gefühlsduselige Ballade "10/10" (JONA), die höchstens in einem zehnsekündigen TikTok-Format funktioniert und das hochgradig peinliche "Summertime" (Mitchy & André Katawazi feat. NASHUP). Meine einzige Hoffnung bei diesen Wildcard-Künstler*innen ist der Metal-Song "Draw The Line" von From Fall To Spring. Am 4. Februar werden die Gewinner*innen des Votings bekanntgegeben.
Das Finale des Eurovision Song Contest wird nach dem Sieg der ukrainischen Band Kalush Orchestra am 13. Mai in der Liverpool Arena stattfinden. Welchen Platz Deutschland belegen wird, bleibt bis dahin abzuwarten. Zwar sind es nicht die mutigsten und lautesten Beiträge, aber dennoch rechne ich dem NDR in der Vorbereitung des Vorentscheids eine deutliche Verbesserung an. Und wer weiß, vielleicht regnet es ja in diesem Jahr doch einige "12 Points go to Germany"…