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Roman

Warum man von Virginie Despentes' neuem Roman nur die ersten 100 Seiten lesen sollte

Mit "Liebes Arschloch" hat Frankreichs lesbische Starautorin einen mit Spannung erwarteten neuen Roman veröffentlicht. Es geht um MeToo, Drogensucht – und leider auch um die Corona-Pandemie.


Virginie Despentes im Jahr 2017 (Bild: IMAGO / Agencia EFE)

Es ist weder erklärungsbedürftig noch eine abwegige Position, dass Covid drastische und nachhaltige Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens hatte (und hat). Die Gesundheit einzelner Menschen, das politische Vertrauen ganzer Gruppen, ökonomische Machtstrukturen – all das wurde und wird viel diskutiert. Weniger beachtet sind dagegen die Auswirkungen auf künstlerisches, literarisches Schaffen beziehungsweise auf die daraus entstehenden Kunstwerke. Und dabei war in den ersten Tagen des ersten Lockdowns absehbar: Es wird viel Pandemieschund geschrieben werden…

Besonderes zu erleben, ist noch kein Garant dafür, das auch in Worte fassen zu können. Oder anders ausgedrückt: Nur weil ein Ereignis außergewöhnlich ist, außer der Reihe, gibt es noch keine gute Geschichte ab. "Liebes Arschloch" (Amazon-Affiliate-Link ) von Virginie Despentes ist da leider geradezu ein Lehrbuchbeispiel.

Großer Anfang, rascher Abfall

Doch zuerst zum Inhalt: Oskar ist ein halbwegs erfolgreicher Autor, dem von seiner ehemaligen Presseassistentin vorgeworfen wird, sie sexuell bedrängt zu haben. Vor den digitalen und analogen Wellen der medialen Aufregung zurückgezogen, gräbt er sich in seinen Frust ein und schreibt eine wütende, beleidigende, tief unter die Gürtellinie zielende Nachricht an die alternde Starschauspielerin Rebecca Latté. Und zu seiner Überraschung antwortet sie ihm und beleidigt auf das Heftigste zurück. Der Beginn eines Briefromans für das 21. Jahrhundert.

Zu Beginn hat "Liebes Arschloch" einen große Sogwirkung. Neben Rebecca und Oskar kommt zwischendrin immer wieder auch die von Oskar bedrängte Zoe zu Wort, in Form ihrer Essays, die sie auf ihrem feministischen Blog verfasst. So gelingt es, die Themen des Romans, quasi durch Triangulation, von unterschiedlichen Seiten zu betrachten. Despentes, die "im Alter von 35 Jahren ihre letzte heterosexuelle Beziehung beendete", wie es bei Wikipedia so wunderbar verquer heißt, ist bekannt dafür, die großen Themen zu behandeln, ohne ihre Figuren dabei mit Samthandschuhen anzufassen. Mit ihrem feministischen Essay "King Kong Theorie" von 2006 setzte sie sich mit der Beziehung lesbischer Frauen zu traditionellen Geschlechterrollen auseinander und behandelt dabei auch die eigene Vergewaltigungserfahrung. In ihrer international viel beachteten Trilogie "Das Leben des Vernon Subutex" (2015-2017) zeichnete sie ein großes Panorama der Gegenwart; wie auch dort sind die Figuren in "Liebes Arschloch" erstmal dadurch faszinierend, dass sie nicht gefällig, sondern sogar sehr widerständig bis unsympathisch sind. Und doch kann man das Buch nicht weglegen, weil das alles eine solche Dringlichkeit hat. Zumindest etwa ein Drittel des Romans lang.

Politische Positionen reiben sich literarisch gegeneinander


"Liebe Arschloch" ist am 9. Februar 2023 bei Kiepenheuer&Witsch erschienen

De Unterhaltung über Feminismus, Sexualität, Gewalt, Medien, Drogen und Sucht, psychische Gesundheit etc. ist spannend. Rebecca ist keine Feministin. Sie definiert sich als Rockstar, die sich nie zum Opfer gemacht hat, sondern direkt zurückgeschlagen hat, wenn ihr jemand zu nah gekommen ist. Oskar sieht sich zu Unrecht verurteilt, macht seine Anklägerin für eine Schmierenkampagne gegen sich verantwortlich. Und doch sind die beiden sich nicht einig und streiten. Hier entstehen spannende Momente, in denen es Despentes gelingt, politische Positionen literarisch gegeneinander zu reiben. Leider hält sie die Spannung nicht durch, das plakativ Thesenhafte wird auf die Dauer langweilig und gestellt.

Anfangs ist die bewusste Kunstlosigkeit der Sprache noch ein akzeptables literarisches Mittel, das sogar ein gewisses Maß an Glaubhaftigkeit erzeugt. Es sind schließlich Menschen, die einander einfach Nachrichten im Internet schicken. Es ist ja vermeintlich kein Roman, kein gemachtes Werk, das wir lesen.

Keine Pandemie! Bitte!

Die große Schwäche setzt ein, als Despentes in der Welt des Romans ebenfalls Covid-19 ausbrechen lässt und alle Figuren in den Lockdown schickt. Es folgen die generischsten und uninteressantesten Beobachtungen aus Pandemiezeiten, die vorstellbar sind: Ach, die Straßen sind so leer! Wir gehen auf einmal so gern spazieren! Wie funktioniert denn dieses Zoom! Ach herrje und eiderdaus ist die Welt durcheinander und außergewöhnlich aus der Bahn… Das ist alles dermaßen platt und desinteressierend, dass die Lektüre mit jeder Seite mehr und mehr zur Qual wird. Mit jedem Satz will man weniger davon hören, wie diese Leute Toilettenpapier kaufen und TikTok entdecken. Ja doch, wir wissen es, wie waren alle da, will man den Figuren zurufen. Doch es bringt nichts, es ist ja schon gedruckt.

Dass "Liebes Arschloch" sich mit der Pandemie auseinandersetzt, ist ein großer Fehler in der Konstruktion des Romans. Oder vielmehr: Dass die Pandemie vorkommt, sehr zentral und ausführlich vorkommt, weit mehr ist als nur Hintergrundrauschen oder Rahmen der Erzählung abgibt, aber eben nicht wirklich reflektiert wird, zerstört die interessante Ausgangssituation des Romans. Wo es zu Beginn ein spannendes und faszinierendes Abklopfen von Positionen und Figuren ist, wird "Liebes Arschloch" hier dann zu simplen, ja plumpen Wiedererkennungsmomenten und Gemeinplätzen. Das ist Literatur als Meme.

Der Roman geht qualitativ in den Lockdown

An dieser Stelle versagt auch die Form. Wenn anfangs über Meinungen geschrieben wird, gleiten beide Figuren, Oskar und Rebecca, dann immer mehr aus der Briefform heraus und verfassen prosaische Beobachtungen. Oder anders: Hier erfüllt die Briefform keinen Zweck mehr und wirkt gekünstelt, aufgezwungen. Die Themen des Romans kommen dann auch nicht mehr recht zusammen.

Und es hilft da auch nicht, dass der Roman selber seine Schwächen mit ironischem Kopfnicken anerkennt. So wird etwa das Thema Drogensucht, das Oskar und Rebecca, die beide süchtig sind, verbindet, etwas mittelmäßig behandelt. Es gibt immer wieder kurze interessante Momente, jedoch fühlt man sich an einer Stelle geradezu geohrfeigt, als der Roman all die Autor*innen aufzählt, die ihre Drogensucht besser und spannender verarbeitet haben. Ein Kopfnicken in Richtung der Tradition und des Kanons ersetzt aber nicht die wirkliche literarische Auseinandersetzung. Stattdessen bleibt so nur die Einsicht: Die Erfahrung der Sucht und des Entzugs sind von vielen anderen besser eingefangen worden.

Leider gelingt es Despentes nicht, an ihre vorigen Bücher anzuknüpfen. "Liebes Arschloch" beginnt fulminant und geht dann qualitativ in den Lockdown. Die Spannung verpufft, und alles hängt dann bis zum Ende des Buches in der Luft. Die Empfehlung lautet: Die ersten hundert Seiten zu lesen und dann das Buch wegzulegen. Die Pandemiezeit des Romans kann ja, anders als in der Realität, einfach zugeklappt und ausgelassen werden.

Infos zum Buch

Virginie Despentes. Liebes Arschloch. Roman. Übersetzt von: Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. 336 Seiten. Kiepenheuer&Witsch. Köln 2023. Gebundene Ausgabe: 24 € (ISBN: 978-3-462-00499-1). E-Book: 19,99 €

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#1 VitelliaAnonym
  • 09.02.2023, 17:39h
  • Das stimmt:
    "Es wird viel Pandemieschund geschrieben."

    Medizinische Analphabeten wollten den Ärzten die Impfung erklären, wie schlecht sie angeblich sei - und noch mehr Unsinn.
    Damit sollte sich die Autorin in ihrem Buch nicht befassen, das hat wichtigere Aussagen zu machen.
    Das Pandemie-Gedöns lenkt nur davon ab.
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