Auf dem Planeten Gethen herrscht ewiger Winter. Von dickem Eis bedeckt und von Schneestürmen heimgesucht, ist das Wetter auf Gethen rau, aber stabil. Ganz im Gegensatz zur politischen Lage. Zwischen den Ländern Karhide und Orgoreyn herrschen starke Spannungen. Mitten hinein in die aufgeladene Situation gerät der Erdenbewohner Genly Ai. Als Abgesandter des Weltenverbunds des Ekumen ist er damit beauftragt, die Bevölkerung von Gethen davon zu überzeugen, ebenfalls Mitglied zu werden.
Während bei anderen Werken manchmal eine beträchtliche hermeneutische Gymnastik unternommen werden muss, um Queercoding hineinzulesen, steht die Queerness von "Die linke Hand der Dunkelheit" (Amazon-Affiliate-Link ) völlig außer Frage. Genly Ai sieht sich nämlich nicht nur mit politischen Unruhen konfrontiert. Für besondere Verwirrung sorgt bei ihm nämlich die Geschlechtslosigkeit bzw. die geschlechtliche Uneindeutigkeit der Wesen, die Gethen bevölkern. Als der Roman 1969 erstmalig erschien, sprach mensch von Androgynität oder Hermaphroditismus, heute gilt Le Guins Roman als eines der ersten literarischen Vorkommnisse von Genderfluidität. Ein literaturgeschichtlicher Moment, auf den sich zum Beispiel auch Buchpreisgewinner*in Kim de l'Horizon beruft.
Alles gelogen!
Was die Literatur als Kunstform auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, die Unwahrheit zu sagen und Geschichten zu erzählen, die der Realität zuwiderlaufen. Im Vorwort zu "Die linke Hand der Dunkelheit" ordnet Autorin Ursula K. Le Guin ihr literarisches Schaffen dieser Leitidee unter und erklärt ihr Werk als explizit spekulativ. Es gehe ihr nicht darum, mit den Mitteln der Science-Fiction Prognosen über die Zukunft aufzustellen, sondern über Alternativen zu unserer Welt nachzudenken.
"Die linke Hand der Dunkelheit" erschien erstmals 1969, einem Jahr, das geprägt ist von einer Vielzahl politischer Verwerfungen in den Vereinigten Staaten. Von der Antikriegsbewegung und dem Protest gegen den Vietnamkrieg über das Wettrüsten im Kalten Krieg, das sich auf den Weltraum ausdehnt und 1969 in der Mondlandung kulminiert, bis hin zur Gay-Rights-Bewegung und den Stonewall-Aufständen. All das lässt Le Guin indirekt in ihren Roman einfließen. Sie entwirft Welten, die sich von den auf der Erde bestehenden Herrschafts-, Macht- und Unterdrückungsstrukturen lösen. Mit den Mitteln der Science-Fiction wirft sie Fragen über die Natur und den Zusammenhang unterschiedlichster Phänomene wie etwa Krieg und Gender auf.
Die Bevölkerung des Planeten Gethen ist genderfluid. Die meiste Zeit haben sie kein Geschlecht. Lediglich für einige Tage im Monat legen sie sich zu Paarungszwecken darauf fest, männlich oder weiblich zu sein. Der Roman ist in vielerlei Hinsicht ein bahnbrechendes Werk sowohl der fantastischen, als auch der feministischen und queeren Literatur, der das Verhältnis zwischen Männlichen und Weiblichen radikal in Frage stellt. Hier liegt jedoch auch der Aspekt, der immer wieder am heftigsten kritisiert wurde: das generische Maskulinum. Außerhalb der Paarungstage werden alle Wesen zu "er". Dies wird auch in der gelungenen neuen deutschen Übersetzung von Karen Nölle beibehalten, die sich damit möglichst um Originalgetreue bemüht. Hier sei Le Guin nicht weit genug gegangen, nicht radikal genug gewesen. Einer Kritik, der die Autorin selber zustimmt. Keine zehn Jahre nach Erscheinen der Romans, setzte sich Le Guin in ihrem Essay "Is Gender really necessary?" (dt. "Ist Gender wirklich notwendig?") kritisch mit "Die linke Hand der Dunkelheit" auseinander.
Die Umwertung aller Werte
"Die linke Hand der Dunkelheit" ist im Januar 2023 bei Fischer Tor in neuer Übersetzung erschienen
Ziel der spekulativen Literatur ist es oft, in einer Art Versuchsanordnung von Ideen zu neuen Einsichten zu kommen – oder zumindest Fragen zu stellen. An einer Stelle wird in diesem Sinne etwa das irdische Verständnis von Perversion in sein genaues Gegenteil verkehrt. Auf Gethen ist die Geschlechtslosigkeit der Normalzustand. Wenn ein Wesen sich dazu entscheidet, über die kurze Paarungszeit hinaus ein bestimmtes Geschlecht beizubehalten, gilt dies als Pervertierung des natürlichen Zustandes.
Die eigentliche Handlung von "Die linke Hand der Dunkelheit" sei hier größtenteils ausgespart. Denn die feministische und queere historische Bedeutsamkeit des Romans ist beachtlich. Wirklich empfehlenswert bis zum heutigen Tage bleibt er aber vor allem deshalb, weil er gut ist. Le Guin erzählt mit einer kunstvollen und wohl gearbeiteten Sprache.
Ihr Herangehensweise an die Beschreibung fremder Welten wurde oft als anthropologisch bezeichnet; in dem Sinne, dass sie beim Lesen zwar an die Hand nimmt, doch das Erzählen nah am quasi wissenschaftlichen Beobachten bleibt. So gibt der Roman sich insgesamt als Bericht Genly Ais aus, den dieser für den Weltenverbund des Ekumen verfasst und in den er unterschiedliche andere Quellen einflicht und Stimmen zu Wort kommen lässt. Am Anfang erklärt dieser, er werde den Bericht jedoch so abfassen, als erzählte er eine Geschichte, da die Wahrheit eine Frage der Phantasie sei. Eine Tatsache stehe oder falle, hänge davon ab, wie von ihr erzählt werde. So legt Le Guin sich selbst ihren eigenen Maßstab vor, dem sie auch durchaus gerecht wird. "Die linke Hand der Dunkelheit" lebt durch und wird getragen von der Sprache.
Sowohl auf politischer wie auf psychologischer Ebene vermag der Roman mitzureißen. Die Konstruktion der Erzählung ist dabei alles andere als simpel und verlangt durchaus einiges an Aufmerksamkeit. Zwischen mehreren erzählende Figuren, den wechselnden Geschlechtern und wechselnden Namen muss mensch sich schon erst einmal zurechtfinden. "Die linke Hand der Dunkelheit" ist auch über 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung ein Buch, das es zu lesen lohnt. Es gilt, Scifi-Großmeisterin Ursula K. Le Guin zu vertrauen und in die Winterwelt von Gethen zu folgen. Die Reise in der Lektüre lohnt – für Scifi- und Queer-History-Fans gleichermaßen.
Infos zum Buch
Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit. Roman. Übersetzt von Karen Nölle. 352 Seiten. Fischer Tor. Frankfurt 2023. Taschenbuch: 18 €(ISBN: 978-3-596-70712-6). E-Book: 16,99 €
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