Pünktlich zu erneuten Diskussionen um das nach wie vor nicht klar terminierte Selbstbestimmungsgesetz erscheint am Montag das neue Buch von Autor und Aktivist Linus Giese: "Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung" (Amazon-Affiliate-Link ). Der schmale Band des Münchner Kjona Verlags stellt das erste Buch der hoffnungsvoll benannten Reihe "Briefe an die kommenden Generationen" dar.
Linus Giese dürfte vielen Leser*innen bekannt sein, veröffentlichte er doch 2020 eines der Werke, die ich dem neuen deutschen literarischen "trans Kanon" zuordnen würde: "Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war". Sein neues Werk ist ein Brief an einen trans Jungen, der ihm vor einiger Zeit begegnet ist – eine Begegnung, die Giese einfach nicht vergessen konnte.
Der Stand des gesellschaftlichen trans Diskurses
"Lieber Jonas" erscheint am 20. Februar 2023 im Kjona Verlag
An die jüngere trans Generation, aber auch an alle Interessierten gerichtet, philosophiert er über den derzeitigen Stand des gesellschaftlichen trans Diskurses. Er beweist dabei viel Empathie und wehrt sich mit der seinem Schreiben innewohnenden Sanftheit gegen die Zuschreibungen, die von der Normgesellschaft gerne gegenüber trans Menschen getroffen werden. Von den vielen einem Zitat würdigen Sätzen ist mir einer besonders im Kopf geblieben: "Was macht es mit dir, zu wissen, dass Menschen in Zeitungskommentaren deine Existenz debattieren?" Diese Frage stellt Giese an den jüngeren Jonas und gleichzeitig an seine Leser*innenschaft.
Er wandert weiter durch viele Themen: der Vorwurf der "Frühsexualisierung", der Mangel an nicht-binärer Kinderliteratur, die Erklärung, was Cis- und Heteronormativität bedeutet, ein kleiner Ausflug in trans Geschichte, das Narrativ des Coming-outs… Immer wieder kommt er auf seine eigenen Erfahrungen zurück, was das Buch vielleicht zugänglicher für Menschen macht, die nicht viel mit der trans Community zu tun haben.
Allerdings bin ich mir unsicher, ob die Betonung von Leid (die mich auch schon in "Ich bin Linus") gestört hat) wirklich konstruktiv ist. Über eigenes, persönliches Leid, kontextualisiert durch die Erklärung von Diskriminierung zu schreiben, ist absolut relevant. Doch soll "Lieber Jonas" (wie auch "Ich bin Linus") ja ein Aufklärungsbuch sein, ein Diskursbeitrag, ein Gesprächsangebot für die Normgesellschaft – zumindest lese ich es so. In diesem Kontext bin ich mir immer wieder unsicher, wie produktiv es ist, trans Menschen als irgendwie inhärent körperlich und seelisch leidend zu zeigen. Vielleicht bin ich hier fehlgeleitet – vielleicht bin ich selbst als trans Person es müde, immer wieder davon zu lesen, wie hart es doch sei, weil ich es eben weiß, andere es aber nicht wissen.
Die noch immer fehlenden Vorbilder
Obwohl Giese auch schon vor der Veröffentlichung von "Ich bin Linus" schrieb und auf Social Media aktiv war, katapultierte ihn der Erfolg seines erstes Buches zweifelsohne in eine völlig neue Position, mit der er sich auch in "Lieber Jonas" auseinandersetzt. Es ist eine schwierige Rolle: Junge trans Menschen sehen ihn als großes Vorbild, setzen Erwartungen in ihn, betrachten ihn als Freund oder Therapeuten. Stichwort parasoziale Beziehungen: einseitige Zuwendung gegenüber Persönlichkeiten, die auf Social Media immer für einen verfügbar sind, und die man glaubt, zu kennen, mit denen man glaubt, befreundet zu sein. Giese hadert damit, ob er diese Rolle, gewissermaßen als großer Bruder vieler junger trans Menschen, immer gut erfüllt hat.
Ich würde hier gerne darüber schreiben, wie frustrierend es ist, dass Giese diese Rolle überhaupt erfüllen muss – als Experte für trans Fragen aktivistisch tätig zu sein ist die eine Sache, auf der eigenen Arbeitsstelle von völlig Fremden um Hilfe gebeten zu werden, eine andere. Aber eigentlich beweist dieser Ausflug doch nur, dass junge trans und queere Menschen kaum Personen haben, an die sie sich wenden, denen sie vertrauen können, bei denen sie sich sicher fühlen. Und dass es mehr von diesen Menschen geben muss: gute Ärzt*innen, Therapeut*innen, Lehrer*innen, unterstützende Familienmitglieder.
"Lieber Jonas" kann durch seine liebevolle Grundhaltung hoffentlich in Mittel sein, mehr Unterstützung zu erlangen – denn wenn dieses Buch einen nicht von der Wichtigkeit der geschlechtlichen Selbstbestimmung jeder Person überzeugt, dann weiß ich auch nicht, was es noch vermögen könnte. Genauso bildet der Band ein einziges, großes, ausgezeichnetes Plädoyer für das Selbstbestimmungsgesetz, zusammengesetzt aus vielen kleineren klugen und leicht verständlichen Argumenten.
Infos zum Buch
Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung: Briefe an die kommenden Generationen. Band 1. 80 Seiten. Kjona Verlag. München 2023. Gebundene Ausgabe: 18 € (ISBN 978-3-910372-06-1). E-Book: 13,99 €. Ein Hörbuch ist zeitgleich bei Argon erschienen.
Links zum Thema:
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Finde ich auch schwierig.
Einerseits schreib ich mir hier ja selbst viel von der Seele.
Andererseits habe ich eigentlich wenig Lust, mir das von dritter Seite reinzuziehen, weil meine Schmerzgrenze eh am Anschlag ist, und da via Empathie noch eine Schippe draufzulegen, bringt das System dann zum Zerreißen.
Aber in einem Buch, das sich an die da draußen wendet, muss es vermutlich drinstehen.
Denn da ich denen gegenüber immer der dauer-ausgleichende, therapeutisch begleitende Erklärbär bin, der gefälligst unheimlich viel Verständnis dafür haben muss, dass natürlich noch niemand mitbekommen hat, dass es das Gesetz zur Dritten Option gibt oder dass ich gar nicht einfach mal kurz beim Standesamt meinen Namen ändern kann..
... während ich gleichzeitig Misgendering von den paar Leuten ertragen muss, die mir so viel bedeuten, dass ich sie deshalb lieber nicht mehr als nur sehr, sehr sanft darauf hinweise und niemals mehr als einmal am Tag und schon gar nicht irgendwie emotionsgeladen oder so...
... ist es jetzt nicht so, dass die Leute in meinem realen Leben allzu viel davon mitbekommen dürfen, dass mich die Mikro- und Makroaggressionen schon innerlich soweit zerfetzt haben, dass ich keine Ahnung mehr habe, was "Vertrauen" eigentlich ist.
Ich schätze, man muss ihnen schon sehr explizit auf die Nase binden, dass es wehtut, das Alien zu sein. Ich finde jetzt zwar, dass das eigentlich nachvollziehbar wäre. Aber erfahrungsgemäß ist es so: Von alleine kommen Leute da nicht drauf.
Und dann werden sich vermutlich auch noch einige Leute umgucken, dass die aus Betroffenenperspektive geschilderten Struggles vermutlich irgendwie gar nicht so aussehen, wie Cissen das in ihren Geschichten regelmäßig darstellen. Gehe ich jedenfalls jetzt mal von aus, dass sich das unterscheidet.
Ich denke, als trans Person, die seit Jahren geoutet im Leben rumläuft, ist man nicht die Zielgruppe für so ein Buch. Und einiges an seelischem Verschleiß kommt auch erst mit der Zeit.