Die Welt ist hart, rau und unnachgiebig. Und das ganz besonders in den Arbeitervierteln Glasgows. Hier sind Anfang der 1990er Jahre die Nachwirkungen der neoliberalen Umgestaltung des Landes unter Margaret Thatcher in vollem Umfang zu spüren. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und wird zunehmend höher, weil die Industriebetriebe schließen, die arbeitenden Väter entlassen werden. Viele greifen aus Frust zur Flasche – oder aus Langeweile. Oft entlädt sich das in häuslicher Gewalt gegenüber und auch zwischen den Müttern und Kindern. Die Zukunftsperspektive liegt irgendwo zwischen prekär und kriminell.
Douglas Stuart hat seinen neuen Roman "Young Mungo" (Amazon-Affiliate-Link ) "allen sanften Söhnen Glasgows" gewidmet. Neben Armut und dem politischen Vergessen-Sein sind die Arbeiterviertel der Stadt nämlich noch von einer weiteren Sache geprägt: von extremem Machismo. Hier ist es wichtig, wer der Stärkste ist, wer der Brutalste ist, wer der Potenteste ist. Emotionen werden hier nicht zugelassen. Hier gibt es keinen Platz für die sanften Söhne, zu denen auch der titelgebende Mungo zählt.
Während das Bild von Wolfgang Tilmans mit dem Titel "The Cock (kiss)", das als Cover dient, das Thema des Romans bereits vor der ersten Seite in unmissverständlicher Klarheit und mit Stolz in die Welt wirft, ist der Text deutlich zurückhaltender. Zu Beginn wird Mungo mit zwei Freunden, die seine Mutter bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hat, auf einen Campingtrip geschickt. Die sollen einen richtigen Mann aus ihm machen. Denn das ist die größte Sorge von Mungos Mutter, genannt Mo-Maw, dass ihr Sohn ein "Junggeselle" bleibt. Allein die Vermutung, der Sohn könnte auf Männer stehen, auszusprechen, ist nicht auszuhalten. Die Vorstellung, er könnte "kein echter Mann" sein, unerträglich.
Fortgesetzte Einfühlsamkeit
Die deutsche Übersetzung von "Young Mungo" ist am 20. Februar 2023 bei Hanser Berlin erschienen
Douglas Stuart ist selbst gebürtiger Glasweger (so die offizielle Bezeichnung der Bewohner Glasgows). Nach seinem Studium in London lebt er heute in New York als erfolgreicher Modedesigner und Autor. Bereits für seinen Debütroman "Shuggie Bain", den unser Autor Stefan Hölscher als virtuos, klassisch und lesenswert empfiehlt, wurde Stuart mit dem renommierten Booker-Prize ausgezeichnet. Wenn mensch die beiden Bücher nebeneinanderlegt, könnte ihm für "Young Mungo" vorgeworfen werden, er habe sich selbst plagiiert, ihm seien die Ideen ausgegangen. So sehr ähneln sich die beiden Werke in Setting, Themen und Blickwinkel. Und das obwohl es sich nicht um eine Fortsetzung handelt. Lediglich spielt der eine Roman in den 1980ern, während Thatcher noch im Amt ist, der andere in den 1990ern.
Doch das wäre zu kurz gegriffen. "Young Mungo" ist keineswegs nur ein Nachtrag. Viel mehr schafft Stuart es erneut, sich seinen Figuren auf die richtige Weise zu nähern, um deren tragische Geschichten überhaupt erzählbar zu machen. Prekariatsgeschichten zu erzählen, ohne dabei in Voyeurismus zu verfallen, ist eine nicht zu unterschätzende Leistung und gelingt die meiste Zeit sehr gut. Immer wieder gibt es im Roman einzelne Stellen, an denen mensch sich fragt, ob das jetzt nicht etwas überzogen, etwas zu gewollt derbe und brachial ist. Wenn wirklich alles schief geht, die Geschichte der Figuren die schlimmstmögliche Wendung nimmt, ist "Young Mungo" immer mal wieder kurz vor dem Melodram. Beispielsweise ist Mo-Maw nicht nur arbeitslose Witwe, vom Leben frustriert, sondern auch noch stark alkoholabhängig. Und das auch so sehr, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder verwahrlosen lässt, dass sie hungern. So sehr, dass sie ausfallend wird, dass sie sturztrunken durch das Haus und die Straßen torkelt; so sehr, dass sie bereits stadtbekannt ist – und so weiter. Jede Figur erlebt Elend in der schlimmstmöglichen Eskalationsstufe. Doch zu keinem Zeitpunkt bringt das dicke Auftragen den Roman ernsthaft in Gefahr.
Auch in den tiefsten Abgründen, in die der Roman blicken lässt, findet sich dennoch immer Menschlichkeit. Douglas Stuart nähert sich seinen Figuren mit Liebe und Empathie. Er schaut nicht auf die Suchtkranken, Arbeitslosen, die Verstoßenen hinab, versucht nicht zu schocken oder vorzuführen. Mit an leidend grenzendem Phlegmatismus nimmt die erzählende Figur die Schicksale der Figuren hin. Wie auch diese sie selbst hinnehmen. Hier wird das Mitleid nicht zu einer Floskel, einem herablassenden "Ach wie schlimm". Stattdessen leidet mensch beim Lesen tatsächlich mit. So liegt denn auch die wahre Gewalt, die "Young Mungo" beschreibt, gar nicht so sehr darin, was den Figuren geschieht, sondern in der Hoffnungslosigkeit, mit der alle alles hinnehmen. Die Unausweichlichkeit und Unabänderlichkeit der Dinge ist das wahre, übermächtige und nicht greifbare Schreckgespenst im Leben Mungos.
Alle ertragen ihr Leben
Über weite Strecken spricht der Roman selbst überhaupt nicht aus, "wo das Problem liegt". Die große Stärke der Erzählung liegt darin, dass Mungos Anderssein geradezu nebensächlich erzählt wird. So entstehen in den meist kurzen Kapiteln Szenen von großer suggestiver Kraft, die sein Coming-of-Age erzählen, einer großen Erzählung folgen und doch wie zufällig dem Alltag enthoben wirken. Dabei vermag Douglas Stuart immer, in kleinsten Details große erzählende Momente zu legen. Jede Nebenfigur wird plastisch, wenn einige wenige, richtig gesetzte Details sie zum glaubhaften Menschen machen. So steckt zum Beispiel im Käse, den Mungos Nachbarin Mrs. Campbell in der Schürzentasche mit sich herumträgt, ein ganzes Universum, das doch nur angedeutet wird und unerzählt bleibt. Die Figuren bleiben ambivalent, bleiben menschlich und sind dadurch nur umso wahrhaftiger.
Was "Young Mungo" immer wieder zu einer schwer zu ertragenden Lektüre macht, ist nicht direkt die Drastik dessen, was Mungo und den Menschen in seinem Umfeld passiert, sondern die Beiläufigkeit und Unaufgeregtheit, mit der das passiert. Alle ertragen ihr Leben. Und die Lesenden müssen bereit sein, dieses schmerzende Ertragen ebenfalls auszuhalten. Der Preis sind herrliche Momente der Zartheit und der Komik. Es sind immer wieder die Versuche, die Einsamkeit in der Welt zu überbrücken, die plötzlich durch die Härte hindurch sprießen. Wenn Mungo und sein Bruder Hamish, der ganz dem Bild des glasweger harten Kerls entspricht, doch einmal einen Moment der Verständigung erleben, wenn Mungo den jungen Alex kennenlernt und sich beim Taubenfangen ein neues Gefühl zwischen den Jungen anbahnt. Dies sind die Momente, die auch beim Lesen trotzdem Hoffnung schaffen.
Wie auch schon bei Stuarts Debüt, besorgte Sophie Zeitz die deutsche Übersetzung. Lediglich beim Titel stellt sich die etwas frustrierte Frage, wieso keine passende Übertragung ins Deutsche vorgenommen wurde. Davon abgesehen, ist "Young Mungo" sehr gelungen übersetzt und so auch im Deutschen ein sprachlich lesenswertes literarisches Ereignis. Auf der Handlungsebene nicht unbedingt subtil, bis hin zu sehr plakativ, und dafür bei der Herausarbeitung der emotionalen Feinheiten umso eindrücklicher. "Young Mungo" kann zu Tränen rühren und im nächsten Moment zum Lachen bringen.
Infos zum Buch
Douglas Stuart: Young Mungo: Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz. 416 Seiten. Hanser Berlin. Berlin 2023. Fester Einband: 26 € (ISBN 978-3-446-27582-9). E-Book: 19,99 €
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