Am Samstag wollen die "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer und die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht in Berlin "für Friedensverhandlungen" im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine demonstrieren. Oder aus ihrer Sicht: In der Konfrontation zwischen den USA und ihren europäischen Vasallen auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Ihr Motto lautet dabei "Aufstand für Frieden".
Zugrunde liegen ein krudes "Manifest für Frieden" sowie gesellschaftspolitische Haltungen und charakterliche Eigenschaften zweier Frauen, die sich trotz unterschiedlicher Lagerzugehörigkeiten doch immer auffallend ähnlich waren. Dass sie nun zusammen fanden, ist konsequent. Denn ihr ignoranter Blick auf die Ukraine kann als einschlägige Widerspiegelung ihres sonstigen politischen Engagements gelesen werden.
In dem wird immerzu für die vermeintliche Mehrheit der Menschen gesprochen. Artikulieren die Menschen sich dann aber in Akten ihrer Selbstbestimmung, sehen die beiden Intellektuellen darüber großzügig hinweg. So auch bei ihrer Betrachtung des Kriegsgeschehens. Hier kommt die Ukraine nicht als politisches Subjekt vor, sondern nur als Land, "in" dem von anderen Krieg geführt wird.
Falsche Repräsentanz
Die beiden Frauen haben innerhalb der Partei "Die Linke" beziehungsweise im deutschsprachigen Feminismus seit Langem eine Sprecherinnenrolle eingenommen, mit der sie die Wahrnehmung der Partei einerseits und der Bewegung andererseits prägen. Dabei haben sie es auch immer wieder bewusst angestrebt, dass ihre Person ihre Repräsentationsfunktion für ihr jeweiliges Lager deutlich überstrahlt.
Kein Widerspruch, kein Protest schien in den vergangenen Jahrzehnten verhindern zu können, dass Alice Schwarzer erstens als Vertreterin "des" deutschen Feminismus in jede Talkshow eingeladen wurde und sie, zweitens, dann auch mit eben diesem Selbstverständnis aufgetreten ist. Ähnliches gilt für Wagenknecht und ihre Partei.
Die so "Repräsentierten" waren mit den dabei entstandenen Verzerrungen oft nicht bloß unzufrieden. Wagenknechts Gebahren, freilich nur möglich durch Unterstützung erheblicher Teile der Linken und eines Teils der Wähler*innen, hat große Fragezeichen über die Fortexistenz der Partei aufgeworfen. Auch wenn es in den vergangenen Wochen um eine mögliche Spaltung wieder etwas ruhiger geworden ist: Große Teile der gesellschaftspolitisch progressiven Flügel sehen keine Zukunft in einer Organisation, in der Sahra Wagenknecht weiter uneingeschränkt wirken kann (queer.de berichtete).
Warum? Weil sie mit ihrer Egomanie, ihrer rücksichtslosen Selbstinszenierung und ihren Querschüssen an den demokratischen Beschlusslagen vorbei nicht zuletzt die Bemühungen tausender Parteimitglieder torpediert.
Nur wenige Tage vor dem Krieg hatte Wagenknecht zuletzt noch öffentlich darauf bestanden, dass es keinen Einmarsch Russlands in die Ukraine geben werde. Und überhaupt: Der Aggressor sei sowieso die NATO, Russland geradezu dazu gezwungen, sich dagegen zu "verteidigen". Doch statt über diese gravierende Fehleinschätzung ins Nachdenken zu kommen, machte Wagenknecht nach einer minimalen Pause und ohne jede Korrektur ihres Weltbildes weiter wie gehabt.
Ein ähnlich angespanntes Verhältnis zur "Repräsentantin" gilt für Feminist*innen in Deutschland. Es gibt hier kaum eine junge oder eine Frau im mittleren Alter, die nicht die ätzende Erfahrung gemacht hat, von älteren Männern oder ihren eigenen anstrengenden Vätern in der Diskussion mit Alice Schwarzers Positionen vergemeinschaftet oder gewarnt zu werden, doch bitte nicht zu werden wie sie.
Interessanterweise aber hat sich diese Zwangsvergemeinschaftung in den vergangenen Jahren genau umgekehrt: "Warum bist du nicht so vernünftig wie Alice Schwarzer?" schallt es Feminist*innen inzwischen von genau den selben misogynen Männern entgegen. Der Grund: Seit Schwarzer verstärkt gegen antirassistische Kritik an postkolonialen Zuständen, insbesondere aber gegen queere und transgeschlechtliche Anliegen poltert, haben unzählige Männer und Frauen mit überschaubarem Weltbild in sexuellen und geschlechtlichen Fragen erstmals ihr Herz für die deutsche Talkshow-Fürstin entdeckt. Dabei wenden sich natürlich auch Bewegungssemester gegen Schwarzer, die nicht mit Social Media & Co. groß geworden sind.
Schwarzers schon vor dieser Entwicklung in "Emma" nachlesbare Entfernung von der Vorstellung, dass die Selbstbestimmung anderer Menschen eine wesentlich berücksichtigenswerte Kategorie im Nachdenken über die Welt sein müsste, hat insbesondere transgeschlechtliche Frauen und trans Jungs getroffen. Hinzu kommt ein Agitieren gegen Sexarbeit, das in der Entscheidung für diese Art der Arbeit letztlich nichts anderes als reine Fernsteuerung durch mächtigere Männer erkennen kann. Dass, wer Zustände ändern will, gerade in Austausch mit anderen Formen der Subjektivität treten muss, wie prekär diese auch immer sein mögen, scheint im Schwarzerschen Weltbild eher untergeordnet. Denn hierzu müssten sie zunächst ein mal anerkannt werden.
Beleidigt, gekränkt, populistisch
Es darf indes kaum angenommen werden, dass Schwarzer nicht prinzipiell klüger wäre: Die bisweilen beeindruckende Präzisionslosigkeit beim Sprechen über Trans-Themen rührt nicht aus intellektueller Unfähigkeit. Hier ist der Wille am Werk, mit weniger statt mehr Wissen und Verständnis vermeintlich feministische Politik zu machen.
Das selbe gilt für Wagenknecht, die immer wieder völlig unnötig eine Konkurrenz zwischen den Rechten (weißdeutscher) armer Menschen und Arbeiter*innen einerseits, den Menschenrechten von LGBTI und BIPoC-Personen andererseits proklamiert hatte. Lieber redete sie der gesellschaftspolitisch konservativen Arbeiter*innenklasse nach dem Mund, statt aufrichtig zunächst die Differenzen zwischen sich und den Arbeiter*innen anzuerkennen. Und ihnen dann trotzdem zu sagen, warum ihr Wohlergehen im Sozialismus liegt.
Ganz so, als hätte Wagenknecht nicht Philosophie studiert, wäre keine ausgewiesene Kennerin komplizierter marxistischer Texte und würde nicht obendrein selbst zur Einkommenselite zählen. Doch entgegen des orthodox-marxistischen Verständnisses unausweichlicher Geschichte ist die deutsche Arbeiter*innenklasse bekanntlich lieber mit wehenden Hakenkreuzfahnen ins letzte Gefecht statt in das um ihre Zukunft gezogen – gegen, nicht mit ihren sowjetischen Klassengeschwistern.
Bis heute andauernde Konklusion dieser Erfahrung im hardcore-antiimperialistisch Lager: Der Feind hat den dummen, zu keiner Verantwortung fähigen Pöbel effektiver verführt als wir. Also muss unsere Propaganda besser werden. So unkte Wagenknecht etwa bei "Lanz", man müsse sich heute dafür entschuldigen, "normal" zu sein. Und auf die Frage, wen sie mit "immer skurrileren Minderheiten" meint: Die meisten Menschen fühlten sich doch als Mann oder Frau und hätten darum kein Verständnis für Probleme beim Misgendern.
Wer sich zu so einem unaufrichtigen Willen entschließt, zu dem gehört der entsprechende, mit der Zeit gebildete Charakter. Nicht wenige "Töchter" der vermeintlichen feministischen Vorkämpferin Alice Schwarzer etwa wittern jedenfalls ein gewisses Maß an Kränkung, Beleidigtsein. Dafür, dass die Nachkommen es wagen, in großer Mehrheit in anderen Pfaden zu wandeln als denjenigen der Erfahrungswelten längst verblasster Jahrzehnte. Ausgetreten freilich von ihr und ihren Mitfrauen.
Putin zu verstehen...
Kürzlich gaben Wagenknecht und Schwarzer dem "Spiegel" zu ihrem Demonstrationsvorhaben ein Interview. Statt auf die durchaus bissigen Fragen und Entgegnungen gelassen und im Wissen um die eigene Integrität zu reagieren, redete sich insbesondere Schwarzer in Rage. "Antidemokratisch" sei das, wie die "Spiegel"-Kolleg*innen da ihr Interview führten.
Und: "Entschuldigung, darf ich Sie fragen, warum Sie diese absurde Frage stellen?" entgegnet sie auf das Ansprechen der Unterstützung des Friedensmanifests durch Größen von ganz rechts außen. Inzwischen hat übrigens Sahra Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine ganz offen gesagt, dass auch AfD-Politiker*innen bei der Kundgebung willkommen seien. Zurück zum Doppelinterview: Man werde ja gleich "als Putin-Versteherin verspottet", wenn man in einem kriegerischen Konflikt überlege, was die Motive des Gegners seien und was er tun könnte, beklagt sich die Publizistin außerdem noch. Aha?
Im Jahr 2014, unmittelbar nach der Annexion der Krim, verteidigte Schwarzer sogar das russische Pseudoreferendum auf der Halbinsel und bezeichnete deutsche Medien, die das alles durchaus mehrheitlich anders sahen, mit einem NS-Vergleich als "quasi gleichgeschaltet". Die Menschen, die am ukrainischen Majdan-Aufstand teilnahmen, nannte sie nur "von aufrecht empört bis nationalistisch bzw. faschistoid", das ukrainische Parlament "traditionell käuflich". Der Westen: schreitet "unaufhaltsam weiter gen Osten". Eine ukrainische Demokratie zwischen all den Faschist*innen, Korrupten und Empörten jedenfalls schien Schwarzer nicht erkennen zu wollen.
"Würde die Ukraine Teil der EU, stünde die NATO direkt an der russischen Grenze", wütete sie weiter unter Boykott auch nur eines Blicks auf die Landkarte. Der nämlich hätte verraten, dass sowohl EU als auch NATO mit Estland und Lettland längst an Russland grenzten – ganz ohne Dritten Weltkrieg. Trotzdem drohte mit der Westwendung der Ukraine jetzt vermeintlich eine ganz neue Qualität, eine "Einkreisung".
Denn: So lange sei es nicht her, dass Nazi-Deutschland "Russland" überfallen habe: "am Ende lagen da 25 Millionen Tote: Kinder, Frauen, Männer. 25 Millionen." Und wem das noch nicht irre und eindeutig genug war, für den hatte Schwarzer noch folgenden Satz auf Lager: "Die Kinder und Enkel der Ermordeten leben heute in Russland."
Als hätte das größte antisemitische Wehrmachtsmassaker nicht in Kyiv, sondern in Moskau stattgefunden! Als wäre die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik nicht Teil der überfallenen Sowjetunion gewesen, als lägen am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin nicht auch tausende ukrainische, belarusische, kasachische, litauische und weitere Soldat*innen der Roten Armee anderer inzwischen unabhängiger Staaten.
Statt Sanktionen verlangte Schwarzer schon damals, was auch jetzt wieder Rettung bringen soll: Verhandlungen. Und statt "Großmachtsprüche aus Washington" sollte es, na klar, "Telefonate auf Augenhöhe zwischen Berlin und Moskau" geben. Bei den verlangten Verhandlungen auf Augenhöhe nicht dabei: Die Ukraine. Und wo schrieb Schwarzer all das? In einem Text mit dem prägnanten Titel "Warum ich trotz allem Putin verstehe!"
… heißt, gar nichts zu verstehen
Doch es ist nicht bloß "Verständnis", das Wagenknecht und Schwarzer mit Putin verbindet. Denn neben der Unfähigkeit der beiden deutschen Intellektuellen, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung durch das putinsche Russland im Vorhinein und im Nachhinein angemessen einzuschätzen, ist im vergangenen Jahr noch etwas aufgefallen: Die Unfähigkeit Putins und seines Machtzirkels, den erbitterten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung und der Armee vom ersten Tag des Überfalls an vorauszusagen.
Die russische Führung hat sich in der Unvernunft, die ukrainische Subjektivität nicht für irgend etwas anderes zu nehmen denn für eine ferngesteuerte NATO-Marionette, in einem Ausmaß militärisch verschätzt, das in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Alleine deshalb verbieten sich bereits Vergleiche mit den Invasionen etwa des Irak oder Afghanistans, die im pro-russischen Milieu so beliebt sind: Der politischen Entscheidung für diese Kriege lag jeweils die realistische Kalkulation zugrunde, zumindest den konventionellen Teil des Krieges zu gewinnen. Längst gefährdet der Krieg, der auch gegen die nationale Identität der Menschen geführt wird, nicht das Überleben der Ukraine, sondern Putins.
Die Russ*innen verkalkulierten sich in ihrer Zukunftsberechnung, weil ihnen ihre ideologischen Scheuklappen (und das desaströse Vertrauensniveau innerhalb des russischen Apparates und der Gesellschaft) ein realistisches Bild ihrer Gegner*innen verunmöglichen. Ihr Versuch, das Kyiver "Naziregime" in den ersten Kriegstagen zu enthaupten, wurde vor den Toren der Stadt unter horrenden russischen Verlusten zurückgeschlagen. Wessen Herrschaft ganz prinzipiell auf der symbolischen Aufwertung der Eigengruppe beruht und sich darum von einem abwertenden Blick auf Fremdgruppen abhängig macht, der ist unfähig, Ebenbürtigkeit zu erkennen.
Genau das aber ist auch das Rezept, das Schwarzer und Wagenknecht ihrem jeweiligen Publikum verschreiben. Statt vor allem gleiche Macht für alle Geschlechter soll es gefälligst Respekt für die Leistung und Weisheit gealterter, pazifistischer, weißer Frauen aus dem Bildungsbürger*innentum geben. Und Wagenknecht wendet sich über ihre eigenen digitalen Kanäle direkt an ihre Fans und verkauft ihnen unterdrückte Einsichten in die neusten Machenschaften der Eliten und ihrer Befehlsempfänger*innen. Hinterher dürfen sich beide Seiten jedenfalls ein kleines bisschen besser und mit Durchblick ausgestattet fühlen.
Dass die deutsche Gesellschaft im Übrigen umgekehrt unfähig ist, den zentralen Stellenwert antigenderistischer Verschwörungsideologie zu registrieren, der dem russischen Unterfangen zugrunde liegt, hat gleichsam mit hiesigen Widersprüchen und Spannungen zu tun: Die Alternative wäre, Homosexuellen- und Trans-Hass sowie Antigenderismus als Weltsicht zu begreifen, aus der heraus inzwischen Kriege mit genozidalem Charakter vom Zaun gebrochen werden. Dann aber müsste sich auch kritisch mit den eigenen bisweilen zwielichtigen Gefühlen gegenüber LGBTI beschäftigt werden.
Wer das nicht tut, dem bleibt am Ende Staunen. Erst in dieser Woche zeigten sich etwa "Tagesschau"-Kolleg*innen wieder ein mal überrascht davon, dass Putin in seiner Rede zur Lage der Nation ausgerechnet den westlichen Umgang mit LGBTI erwähnte.
Dass Putin das schon ausführlich in seiner Kriegserklärung und viele weitere Male getan hatte, inklusive Verweisen auf den gemeinen Umgang mit J. K. Rowling, konnten hiesige Journalist*innen so schwer einordnen, dass sie es lieber einfach nicht berichteten. Sie hielten es für einen bloß unwichtigen Spleen eines Durchgeknallten. Dabei meint Putin es ernst, wenn er in seiner Kriegserklärung sagt, dass die NATO den Russ*innen queere "Pseudowerte" aufzwinge, "die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen".
Diese setzen die NATO-Länder "bereits aggressiv in ihren Ländern durch", sie würden "direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind". Im Westen ist auch wegen dieser Ignoranz gern von einem imperialistischen Krieg gegen die Ukraine die Rede. Die wesentlich "anti-imperialistischen" Motive der russischen Sicht werden übersehen. Seit Jahren wird der paranoide, queerfeindliche Hass russischer Propaganda auch in westlichen Haushalten empfangen, verbreiten von Russland finanzierte Organisationen diese Weltsicht.
Und natürlich spielen solche ideologischen Motive, wonach sich die russische Führung von westlicher Verschwulung und Geschlechtsumwandlung bedroht sieht, denn auch keine Rolle in der Russlandsicht von Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und ihren Anhänger*innen. Sie denken ja selber, dass queere Emanzipation einen Coup der Mächtigen darstellt, wahlweise die feministische oder die Arbeiter*innenbewegung zu spalten oder den symbolischen Status der Kategorie "Frau" in den Dreck zu ziehen. Darin steckt nicht zuletzt eine gewisse narzisstische Aufwertung: Es macht das eigene Agieren umso wichtiger, weltbedeutender.
Doch wie bei solchen Selbstaufwertungen üblich, bringen derlei Mechanismen zwei Folgeprobleme mit sich. Erstens wird es so immer schwieriger, ein zutreffendes Bild von seinem Gegenüber, von anderen politischen Subjekten im Kopf zu behalten, ihr Verhalten einzuschätzen. Und zweitens macht es niemals satt. Es macht immer nur süchtig.
weact.campact.de/petitions/manifest-gegen-das-manifest-von-w
agenknecht-und-schwarzer