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Gastbeitrag
Queere Ahnenforschung
Wohl in den allermeisten Familien gibt es queere Personen, über die geschwiegen wird. Doch wie forscht man nach etwas, das bewusst verheimlicht wurde? Man muss zwischen den Zeilen lesen können und braucht Fantasie und auch Empathie.

Recherche in der eigenen Familie: Großonkel Toni gibt Ahnenforscher Dr. Yeshi Rösch einige Rätsel auf (Bild: privat)
- Von Dr. Yeshi Rösch,
26. Februar 2023, 03:39h,
Ich glaube daran, dass in jeder Familie sehr tragische, aber auch sehr glückliche Schicksale vereint sind, dass es Personen gibt, die vergessen wurden, an die sich niemand mehr erinnert hat und die erst durch Stammbaumrecherchen wieder ans Tageslicht treten. Oft sind das mit die interessantesten Persönlichkeiten einer Familie.
Wer spielt in der Familiengeschichte eine Rolle? Wer wird genannt und wer nicht? Wie kommt es, dass Personen übersehen werden?
Die klassische Ahnenforschung blickt gerne durch eine hetero- und cisnormative Brille: Sie sucht die ältesten Vorfahren der meist männlichen Linie, den "Stammhalter", feiert den ersten Träger des Familiennamens. Vielleicht ist man sogar adeliger Herkunft, besitzt ein Wappen? Nicht nur die Frauen und deren Schicksale werden dabei gerne übersehen, sondern auch alle diejenigen Vorfahren mit abweichendem Lebenslauf. Dies betrifft oft Kinderlose und Unverheiratete. Auch früh Verstorbene.
Der überzeugte Junggeselle und die alleinstehende Tante
Queere Ahnenforschung hinterfragt diesen Standard. In jeder Familie wird es mehr oder weniger Vorfahren gegeben haben, die schwul, lesbisch, bi, trans oder inter gewesen waren, in der Regel, ohne dass das bekannt wurde. Wie lebten sie? Konnten Sie ihr Leben in irgendeiner Weise nach ihren Wünschen gestalten? Waren sie in einer konventionellen Ehe, die eventuell auch Schutz bot? Inwieweit waren sie durch ein Leben im Verborgenen isoliert und beeinträchtigt?
War Großonkel Hans wirklich der fröhliche, überzeugte Junggeselle, wie ihn die Familie gern schildert? Hat er nur nicht die "richtige Frau" gefunden? War Tante Elsa wirklich so alleinstehend? Wer waren die Frauen, die auf jedem ihrer Fotos zu sehen sind?
Es gab (und gibt leider weiterhin) schwerwiegende Gründe, die eigene Identität vor der Familie zu verbergen. Bis 1988 galten homosexuelle Handlungen unter Männern in der DDR als Straftat, die mit Haftstrafen geahndet wurden – in der Bundesrepublik wurde der diskriminierende und lebenzerstörende Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches erst 1994 abgeschafft. Auch Lesben wurden bis dahin stark diskriminiert, geächtet und unsichtbar gemacht. Besonders folgenschwer wurden trans Personen ausgegrenzt. Vor 1981, d.h. vor dem westdeutschen Transsexuellengesetz, war es nicht möglich, den Geschlechtseintrag im Pass zu ändern. Wenn eine trans Frau mit einem Mann eine Beziehung einging, galt das als homosexuelle und damit strafbare Handlung.
Queere Ahnenforschung möchte hier einen Denkraum öffnen, die Recherchen dahingehend ausweiten und den Verstorbenen ihre Würde nachträglich zurückgeben.
Die Suche nach dem Unsichtbaren
Doch wie forscht man nach etwas, das bewusst verheimlicht wurde – vor der Umwelt und der Familie? Ein Ding der Unmöglichkeit?
Es sind unterschiedliche Methoden zu kombinieren: Ich studiere den Lebenslauf einer Person und versuche möglichst viele Dokumente über sie zu sammeln, vor allem private. Es ist ein seltener Glücksfall, wenn Briefe, Postkarten oder gar Tagebücher von jemandem auffindbar sind. Manchmal gibt es noch Zeitzeug*innen, die man befrage kann. Hier ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich, weil Familien den Ruf der Verwandten in ihrem Sinne schützen möchten.
Folgende Fragen gilt es zu klären: Gab es ein separates Postfach, weil die Verteilung von Privatbriefen in der Familie zu offensichtlich gewesen wäre? Welche Bücher und Zeitschriften wurden gelesen? Welchen Beruf hat die betreffende Person ausgeübt? Lehrerinnen durften zum Beispiel von 1880 bis 1919, d.h. bis zur Weimarer Gesetzgebung, nicht heiraten. Was für die einen vielleicht bitter gewesen sein mag, war für die anderen ein willkommener Freiraum. Nicht selten waren Frauen stolz darauf, ein "Fräulein" zu sein und damit nicht an einen Mann gebunden – obwohl oder gerade weil ein "Fräulein" erst durch Heirat mit einem Mann zur "Frau" wird. (Ein "Männlein" hingegen gab es in diesem Sinne nicht.)
Aufgrund der Kriminalisierung von homosexuellen Handlungen sind auch mögliche Haftstrafen ein Anhaltspunkt der Recherche. Dies gilt auch für trans Frauen, falls sie mit einem Mann eine Beziehung eingingen, da sie gesetzlich als Mann galten. Manchmal gibt auch der Umzug nach Berlin einen Hinweis auf eine mögliche Identität jenseits von Hetero- und Cis-Normativität: Im Berlin der etwas glorifizierten 1920er Jahren war es eher möglich, queere Identitäten auszuleben als in anderen Städten oder gar auf dem Land.
Man muss zwischen den Zeilen lesen können und braucht Fantasie und auch Empathie. Es hilft zu wissen: Wie ist das, im Verborgenen zu leben? Welche Verheimlichungstaktiken sind typisch? Ahnenforschung ist Detektivarbeit: Ich sichte Urkunden oder Kirchenbucheinträge und werde hellhörig, wenn dort Selbsttötung als Todesursache notiert ist. Auch wenn hier nicht interpretiert werden darf, ist der Freitod ein Hinweis auf eine ausweglose Lebenssituation: Auch heute ist die Suizidrate bei queeren Menschen eklatant höher als in der hetero- und cisnormativen Mehrheitsgesellschaft.
Unbekannt in der eigenen Familie

Großonkel Toni (Bild: privat)
In meiner eigenen Familie bewegt mich das Schicksal meines Großonkels Toni (s. Fotos). Über ihn ist wenig bekannt. Er hatte nie geheiratet, Partnerschaften sind nicht bekannt. Er war kein besonders guter Schüler, litt vermutlich unter dem frühen gewaltsamen Tod seines zwei Jahre älteren Bruders. 1930, sobald Toni volljährig war, wanderte er von München nach Kanada aus.
Wenn ich in der Familie seine Exilmotive erfragte, hieß es mit Genugtuung, er sei ein großer Hitlergegner gewesen. Das lässt aufhorchen. 1930 waren nur politisch extrem hellsichtige Menschen erklärte Hitlergegner. Gerne schmückt man sich in deutschen Familien mit angeblichen Widerständlern. Bei meinem Großonkel vermute ich daher andere Gründe: Eventuell suchte er der Enge seiner in Armut und strengem Katholizismus lebenden Großfamilie zu entfliehen. In seinem Schülerbogen aus den Jahren 1916-1923, den ein Archiv glücklicherweise aufbewahrt hatte, schreiben seine Lehrkräfte über den Zehnjährigen: "Schwache Schulleistungen, doch mit rühmlicher Veranlagung zu stiller Versonnenheit; meidet das Straßenbubenwesen." Über den 13jährigen: "Nervös! Ängstlich und zaghaft! Fleißig und brav. Sticht von den Knaben seines Alters durch gesetztes Betragen angenehm ab."
Wer war dieser Knabe, was ging in ihm vor? Als ich Bekannten Fotos meines Großonkels zeigte, meinten sie spontan: "Der wirkt doch recht schwul." In meiner Familie sorgte allein dieser Gedanke für großes Entsetzen.
Toni besuchte seine Familie nur ein einziges Mal, 1959, und erhielt auch keinen Besuch von Verwandten. Sein Leben und sein Werdegang in Kanada und sein einsames Sterben beschäftigen mich weiterhin.
Erinnerungskultur und Aufarbeitung
Welche unserer Vorfahren waren gezwungen, ein verborgenes Leben zu führen? Die Aufarbeitung von Diskriminierung sollte nicht nur im Privaten geschehen. Ich wünsche mir, dass marginalisierte Biografien aus ihrem Schattendasein herausgeholt würden. Die Queerness einer Person nach ihrem Tod weiterhin zu verschweigen, ist auch eine Form von Diskriminierung – wenn auch posthum. Ahnenforschung jedoch lohnt sich immer, Überraschungen jeder Art sind möglich.
Dr. Yeshi Rösch betreibt ein Büro für Ahnenforschung, das sich auch der Würdigung vergessener Personen widmet.

Links zum Thema:
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» auf sissymag.de
bei der Aussage, der § 175 ist 1994 gestrichen worden, sind stets zusätzliche Informationen notwendig. Homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern waren in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 1. September 1969, und in der DDR seit dem 1. Juli 1968 straffrei.
Es gab in der BRD, wenn auch sehr spät, zwei Liberalisierungen des § 175 StGB, nämlich die von 1969, und eine weitere am 23. November 1973. Die Definition des § 175 StGB wurde grundlegend geändert und enthielt ab 1973 praktisch nur noch eine Jugendschutzvorschrift als Straftatbestand. Die darin enthaltene Schutzaltersgrenze von 18 Jahren unterschied sich allerdings von der in heterosexuellen Zusammenhängen (16 Jahre) und stellte so bis 1994 noch immer ein Sonderstrafrecht dar.
In der DDR gab es vergleichbare Jugendschutzvorschriften, zusammengefasst in den §§ 149, 150 und 151 StGB-DDR, wobei letzterer mit Wirkung zum 1. Juli 1989 gestrichen wurde. Von da an lag das Schutzalter in der DDR für geschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen beiderlei Geschlechts bei 16 Jahren.
Es ist erkennbar, wie relevant eine gründliche journalistische Hintergrundrecherche ist, insbesondere bei einem Thema, bei dem es um Menschen und ihre Rechte geht.
Mit queeren Grüßen
rheinheart