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Ab Donnerstag im Kino

Ein lesbisches Monster der Selbstsucht mit Charisma

Ganz großes Kino: "Tár" ist eine brillante Geschichte über Machtmissbrauch, Geschlechterrollen, queere Liebe und klassische Musik – alles zusammengehalten von Cate Blanchetts herausragender Schauspielleistung.


Cate Blanchett als fiktive Star-Dirigentin Lydia Tár in "Tár" (Bild: Focus Features)

Die Welt der klassischen Musik ist elitär. An diesem Bild will Tod Fields "Tár" nichts ändern. Im Gegenteil, das Leben von Lydia Tár (Cate Blanchett) könnte kaum privilegierter sein. Sie fährt teure Autos, jettet in Privatfliegern um den Globus, auf dem Fuß gefolgt von ihrer persönlichen Assistentin Francesca (Noémie Merlant), lebt mit ihrer Partnerin Sharon (Nina Hoss) in einer schwindelerregend großen Sichtbeton-Villa. Geld spielt keine Rolle für die Star-Dirigentin, die seit vielen Jahren die Berliner Philharmoniker dirigiert und praktisch alle Auszeichnungen gewonnen hat, die zu gewinnen sind. Doch auf der Höhe ihres Erfolgs beginnt die Fassade der großmeisterlichen Ausnahmekünstlerin zu bröckeln, als Anschuldigungen gegen sie laut werden…

Sehr zu Beginn des Films sehen wir Lydia Tár, wie sie einen Kurs als Gastdozierende für angehende Dirigierende an der Juilliard School in New York gibt. Darin scheinen die zentralen Themen des Gegenwartsdiskurses schnell abgefrühstückt zu sein. Eine junge queere Person wendet etwas gegen Bach als alten weißen Mann ein, und die erfahrene, kanonsichere Lydia Tár macht sie dafür fertig. Und damit hat sich die Sache. Zumindest denkt Lydia das. Denn hier setzt "Tár" erst an und zieht über die Dauer des Films etliche weitere Ebenen der Brechung ein.

Elitismus und Korruption


Poster zum Film: "Tár" startet am 2. März 2023 im Kino

Regisseur Todd Field, dessen letzte Regiearbeit, der viel beachtete Film "Little Children", bereits 14 Jahre zurückliegt, hat sich für "Tár" eine gesellschaftliche Schicht im Elfenbeinturm vorgenommen. Klassische Musik ist ein Hobby junger, armer Idealisten oder alter, schwerreicher Konservativer. So zumindest die Vorurteilsvorstellung knapp zusammengefasst. Doch gerade, weil diese Welt derart elitär abgeschieden ist, eignet sie sich umso besser, um die Macht, Hierarchien und Korruption so famos zu betrachten.

Trotz viel musikalischem Inhalt ist "Tár" begrüßenswert voraussetzungsarm. So ist es überhaupt nicht notwendig, irgendetwas über Mahler zu wissen, um seine fünfte Symphonie, die den Film emblematisch durchzieht, im Kontext der Handlung verstehen zu können. Sehr gelungen wird alles Wichtige dialogisch vermittelt, ohne dabei belehrend oder gar unbeholfen erklärend daherzukommen. Im Gegenteil, selbst diejenigen Szenen, die vornehmlich Informationen mitteilen, werden wiederum dadurch gebrochen oder in sich selbst gespiegelt, dass die Art der Informationsvermittlung eine weitere Ebene erzählt. Oder dass die Information im Dialog in Frage gestellt wird.

Konkreter: Die Art und Weise, wie Lydia Tár in ihrem Seminar die junge queere Person mit politischen Ansichten durch ihr geballtes Fachwissen herunterputzt und mundtot macht, charakterisiert Tár als Figur. Es sind diese kurzen Momente des Alltags, die von Beginn an erahnen lassen, dass die berühmte Dirigentin unter der für die Coverfotos verkaufsfördernd optimierten Oberfläche eine manipulative und berechnende Person ist, der nicht über den Weg zu trauen ist.

Kino der Zurückhaltung

"Tár" ist ein filmisches Ereignis, das für das Kino, für die Leinwand gemacht ist. Der Film kann in vielerlei Hinsicht nur schallend gelobt werden, cineastische Meisterklasse ist noch ein Understatement. Über mehr als zweieinhalb Stunden Dauer kommt der Film fast gänzlich ohne Knalleffekte aus. Die Kameraführung ist stark zurückgenommen; in manchen Momenten hat man den Eindruck, geradezu voyeuristisch einzudringen, dann liegt eine Szene wieder distanziert und wie kalt zum Sezieren hingeworfen auf der Leinwand. In diesem Wechsel spiegelt sogar der Blick der Kamera die Verhaltensmuster von Manipulator*innen wie Lydia Tár wider. Kalt und berechnend, egoman und eigentlich ohne echte Empathie.

Die erzählte Handlung des Films ist eine große Geschichte des Hochmuts vor dem Fall. Als absolute Meisterin ihres Fachs wähnt Tár sich unangreifbar, über den Dingen, der Welt eigentlich nicht mehr würdig. Für sie gelten die normalen Regeln nicht mehr, sie macht einfach neue. Es ist die Mischung aus Talent und Unverfrorenheit, gepaart mit Cate Blanchetts geradezu verschwindender Statur, die immer wieder gruseln macht, wenn Társ soziopathisches Verhalten mit brodelnden Blasen aufplatzt. Dass Todd Field dieses Verhalten ausgerechnet anhand einer lesbischen Figur aufzeigt, hat dem Film bereits im Vorfeld einige Kritik eingebracht.

Schauspielerische Ausnahmeleistung


Lydia Tár (Cate Blanchett, re.) und ihre Lebenspartnerin Sharin Goodnow (Nina Hoss) in "Tár" (Bild: Focus Features)

Und schließlich ist hier eine schauspielerische Ausnahmeleistung zu bestaunen. Blanchett gibt hier die Vorstellung ihres Lebens – eine von bereits etlichen. Sie verschwindet in der Figur, und nur wenige Sekunden nach dem Vorspann existiert nur noch Lydia Tár, ein Monster der Selbstsucht mit Charisma. Wo schlechtes Schauspiel gerne mal zu Make-up, Maske, exzessiven Perücken und Prothesen greift, um die eigene Unzulänglichkeit zu verbergen, geht das wirklich Meisterhafte oft mit herausragendem Kostüm einher. Die maßgeschneiderten Hemden, die Kappen, Sonnenbrillen, wehend weiten Hosen, die Tár trägt, umspielen sie im doppelten Sinne. Es wirkt geradezu so, als wäre die Kleidung ein Schauspielpartner, mit dem Blanchett zusammen im Tanz den Habitus der Dirigentin herausarbeitet.

Lydia Tár ist vollkommen von ihrer eigenen Macht korrumpiert und rennt, von ihrer Unverwundbarkeit überzeugt, eigentlich sehenden Auges in den Untergang. Der Film stellt mit einer wahren Leichtigkeit und wie nebenbei die giftigen Gefüge des Machtmissbrauchs zur Schau, die in elitären Strukturen zu liegen scheinen. Bis heute dem Geniekult des 18. Jahrhunderts anhängend, demnach große Kunst nur von großen Menschen geschaffen wird, für die die normalen Regeln nicht angewendet werden können, sind die elitären Strukturen der fruchtbare Grund, auf dem die Skrupellosen wie Tár gedeihen.

In Wahrheit ist es nämlich eine komplett kapitalisierte Version der Kunst. Alle materiellen Bedürfnisse sind nicht nur gedeckt, sondern übersättigend gestillt. Tár, selbst ein Aufsteigerkind, kämpft lange nicht mehr für die Kunst, sondern nur noch für ihre Lüste – und im Angesicht des drohenden Sturms für den Erhalt ihrer Privilegien. Selbst ihr Traum, alle fünf Symphonien von Mahler als Dirigentin aufzunehmen, ist kein ideeller Traum der Kunst, sondern ein materieller der verkauften Tonträger, Memoiren und Eintrittskarten. Und am Ende geht es eben bei den Dingen dann immer darum, wem sie gehören. Wem sie allein gehören.

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Infos zum Film

Tár. Drama. USA 2022. Regie: Todd Field. Cast: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Mark Strong, Julian Glover, Allan Cordune. Laufzeit: 158 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 12. Verleih: Universal Pictures Germany. Kinostart: 2. März 2023