Einem mutmaßlich vorhersehbaren TV-Abend im deutschen Fernsehen ist der erfreuliche Twist gelungen: Der beste Act gewinnt tatsächlich den Vorentscheid. Lord of the Lost setzt sich bei "Unser Lied für Liverpool" mit "Blood & Glitter" gegen sieben Konkurrent*innen durch und repräsentiert Deutschland im Mai auf der Eurovision-Bühne mit eingängigem Glam-Rock, glitzernder Androgynität und jeder Menge Pyrotechnik.
Es ist schon fast unverschämt, mit welcher (musikalischen) Vielfalt die ARD sich brüstet – und sich zugleich vergeblich an einer schalen, immergleichen Lagerfeuer-Stimmung versucht. Abermals als Moderatorin aktiv, eröffnet Barbara Schöneberger mit Blaskapelle und Zepter die Sendung und ebnet mit zahlreichen "Wetten, dass…?"-Querverweisen sowie belanglosen Zwischeninterviews den Weg für eine behäbige Schunkelstimmung. Der NDR geht nicht mit der Zeit, sondern beharrt auf seiner übernostalgischen Verklärung des Fernseh-Events.
Überflüssige Gäste und überbetonte Nationalisierung
Auf dem Gottschalk-esken Sofa dürfen Florian Silbereisen, Riccardo Simonetti und Ilse DeLange Platz nehmen und die Sendezeit unnötig in die Länge ziehen, von denen nur letztere durch ihr Wirken in der niederländischen Country-Band "The Common Linnets" ESC-Bezug vorweisen kann. Silbereisen schafft es nur schwer, sich aus seiner Selbstbezogenheit zu lösen und bezieht jede Kritikäußerung über die acht (statt ursprünglich geplanten neun) antretenden Acts auf die eigene Autobiografie. Die Kandidatur von Frida Gold mit "Alle Frauen in mir sind müde" musste von der erkrankten Leadsängerin Alina Süggeler kurzfristig zurückgezogen werden (queer.de berichtete).
Simonetti etwa äußert den Wunsch, Deutsche sollen sich mal wieder am Stolz auf die eigenen Held*innen erproben. Diese – zugegeben, sehr ESC-typische – überbetonte Nationalisierung ist ein den Spätabend durchziehendes Motiv. In seinem Einspieler scheint Sänger und Tänzer Trong sich daher überdeutlich erklären zu wollen, wieso er sich trotz seiner vietnamesischen Herkunft als deutscher ESC-Act bewirbt. "Danke Deutschland, dass ich bei dir meinen Traum leben kann" – diese Zeile fügt er kurzerhand in seinen Song "Dare To Be Different" ein. Trotz seines süßen Charismas und den beeindruckenden akrobatischen Fähigkeiten verbirgt sich hinter dem energetischen Auftritt nicht mehr als belangloser Mutmacher-Pop, dessen plakative Hülle schnell durchsichtig wird.
Bühnenbilder, die nicht wirklich passen
Der Abend zeigt: Einige Songs funktionieren auf der Bühne nicht annähernd so gut wie in ihrer Studioversion. René Miller steht in der Performance seiner Ballade "Concrete Heart" breitbeinig auf einem meterhohen Steingebilde – das nicht nur eine plumpe Metapher für toxische Beziehungen darstellt, sondern auch eine unangenehme Überheblichkeit gegenüber dem Publikum befeuert.
Der spätere Jury-Liebling Will Church verwirrt mit einem dystopischen Bühnenbild, das so gar nicht zu dem sanften "Hold On" passen möchte. Ohnehin ist sein Auftritt trotz überzeugender Stimme belustigend inkonsequent, ist doch seine Aussage ein Plädoyer für das Innehalten bei ausufernden Eigenvorhaben – genau mit diesem Tenor bewirbt er sich bei der weltweit größten Musikveranstaltung und damit potenziell auf massig sozialen und öffentlichkeitswirksamen Druck. Die internationalen Fachjurys sollen den ehemaligen "The Voice"-Kandidaten später mit dem ersten Platz ihrer Wertung belohnen.
Mehr Schilfgras im deutschen Fernsehen
Die märchenhafte Illusion in Anica Russos "Once Upon A Dream" in Nachtlicht und Glitzerkleid möchte nicht aufgehen. Die unglückliche Kameraführung enttarnt zudem das massige Schilfgras sofort als Props. Die etwas ratlosen Strophen gehen unter, neben unterhaltsamerer Konkurrenz wirkt dieser – stark an der bulgarischen Kandidatin Victoria im Jahr 2021 angelehnte – Beitrag zu schwerfällig. Schöneberger quittiert das mit einem kecken Plädoyer für mehr Schilfgras im deutschen Fernsehen, sie könne auch für die Moderation der nächsten Landesgartenschau gebucht werden.
Die vierköpfige Band Lonely Spring hat sich während ihrer Schulzeit im bayerischen Passau gegründet und legt mit "Misfits" eine punkige Hymne für all diejenigen vor, die sich sozial verstoßen fühlen. Leider stiehlt das mit Schaufensterpuppen überfüllte, unübersichtliche Bühnenbild dem Song jegliche Dynamik, den Musikern fehlt hinter den unzähligen Silhouetten der Raum zur Entfaltung.
In dem poppigem Folk-Track "Melodies of Hope" steht Patty Gurdy das Instrument im Weg: Auch wenn die Drehleier – auf die sich auch ihr Künstlername bezieht – zentraler Bestandteil der Inszenierung ist, macht sie nur selten von ihr Gebrauch. Der Performance dieses durchaus tanzbaren Songs fehlt es an Beweglichkeit, ihrem Wurzelrock an Kontext. Trotz ihrer großen Fangemeinde, bei der sie sich im Einspieler für die Spenden zum Wiederaufbau ihres in der Ahrtal-Flutkatastrophe zerstörten Tonstudios bedankt, belegt sie den letzten Platz.
Ikke Hüftgold sorgt für Stadion-Atmosphäre
Schöneberger bezeichnet ihn als "Räuber Hotzenplotz meets Rammstein", er selbst bezeichnet sich als den "unerwünschten Besuch": Wildcard-Gewinner und Malle-Schlagersänger Ikke Hüftgold kokettiert in seinem "Lied mit gutem Text" mit der schlechten ESC-Platzierung Deutschlands in den vergangenen Jahren und liefert einen chaotischen, aber durchaus dynamischen Auftritt, der einen spannenden Stilbruch bringt.
Mit platten Lyrics wie "La La La ist international!" und einem (unangenehm präsenten) Fanclub in stilgetreuen Perücken und Plastikanzügen, die Schöneberger konsequent den "roten Block" nennt, wirbelt Hüftgold das brav vor sich hinklatschende Publikum in den Kölner MMC Studios mit einer stadionähnlichen Atmosphäre auf. Die Zuschauer*innen würdigen das mit 101 Televoting-Punkten.
Und gerade als Schöneberger an dem "Franziska-Giffey-Pult", wie sie es bezeichnet, die Fachjury-Punkte bekannt gibt (seltsamerweise noch während des offenen Publikumsvotings) und sich durch den meilenweiten Vorsprung von Will Church gewohnte Frustration über das Wahlverhalten im deutschen Vorentscheid breitmacht, bringt der zu lang geratene Fernsehabend die überraschende Wendung: Die Zuschauer*innen küren mit 146 Televoting-Punkten den besten Act Lord of the Lost als Gewinner des Abends – eine hinsichtlich Ästhetik, Authentizität und Eingängigkeit unübertroffener Beitrag, der sich im internationalen Vergleich in diesem Jahrgang durchaus nicht verstecken muss.