Victor Jestin, 1994 geboren, lebt in Paris. Nach seinem viel beachteten Debüt "Hitze" folgt nun mit "Der Tanzende" sein zweiter Roman, der ebenfalls mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde (Bild: librairie mollat / wikipedia)
Das "La Plage" ist ein Kleinstadtclub, der genau den Erwartungen entspricht. Hier werden immer die gerade aktuellen Mainstream-Hits aus den Charts gespielt. Hier gibt es verlässlich Gin Tonic von der verlässlich hinter der Bar stehenden Alicia. Und genau hier beginnt Arthurs Beziehung zum Tanzen. Bei einem kuriosen Kindergeburtstag lädt Guy, Besitzer des "La Plage", die Kinder aus der Klasse seines Sohnes zum Grundschul-Tanznachmittag ein. Anders als die anderen ist Arthur wie erstarrt, als er plötzlich tanzen soll. Er hat Angst – doch auch Blut geleckt. Dies ist der Anfang einer langen Beziehung zum "La Plage", zur Tanzfläche und seinem Körper im Rhythmus der Musik.
Im neuen Roman "Der Tanzende" (Amazon-Affiliate-Link ) des Franzosen Victor Jestin steht das Tanzen als moderne Erfahrung der inneren Emigration und der Flucht vor sich selbst und der Welt im Zentrum. Arthur ist ein unbeholfener Außenseiter, der sich immer unsicher ist, ob er sich richtig verhält, ob "die anderen" ihn cool genug, interessant genug, attraktiv genug finden. Arthurs Zugang zu Welt ist immer nur ein indirekter, weil er immer durch diese Selbstbetrachtung durch die Blicke der Menschen in seiner Umgebung gehemmt ist.
Ein packendes Phänomen
"Der Tanzende" von Victor Jestin ist am 28. Februar 2023 bei Kein & Aber erschienen
Arthur ist recht indifferent gegenüber – eigentlich allem in seinem Leben. Er richtet sich nicht ein, weil er sich "für solche Dinge" nicht interessiert, ist von seiner Familie entfremdet, hat keine nennenswerten sozialen Kontakte, seine beste Freundin ist die Barkeeperin Alicia, mit der er keinen weiteren Austausch pflegt, als sich ein Getränk von ihr einschenken zu lassen. Er probiert es aus, mit Frauen zu tanzen, mit Männern zu tanzen, wirkt auch sexuell unentschlossen.
Im Sinne seiner Distanz zu seiner Umwelt und vor allem auch zu sich selbst mag der Protagonist in "Der Tanzende" als ein moderner Held in einer spätkapitalistischen opportunistisch optimierten Gesellschaft erscheinen. Und in der Tat ist es eine spannende Frage: Was bewegt die stumpfen Typen aus der Fraktion Discomuskeln? Doch die über Gebühr intellektualisierenden komplizierten Worte mal weglassend, ist der Roman leider sehr schnell sehr langweilig.
Stumpfer Charakter ohne Beziehung zu sich selbst
Arthur ist selbst der Erzähler seiner Geschichte, berichtet in der ersten Person rückblickend in jedem Kapitel von der wohl bedeutsamen Begegnung mit je einer Person auf der Tanzfläche. Darin besteht das sehr grundlegende Problem, das es verhindert, der Frage, was Arthur und Männer wie ihn bewegt, beizukommen. Denn Arthur ist eben ein sehr stumpfer Charakter ohne Beziehung zu sich selbst, der dann auch eigentlich nichts Interessantes über irgendwas zu sagen hat. Er stellt sich in jeder Lebenssituation unsicher und unbeholfen an, kann sich für nichts begeistern und langweilt sich durch seine eigene Existenz.
Sein Leben ist ereignislos, was zu einer ereignislosen Handlung des Romans führt. Die Konstruktion, je ein Kapitel einer Tanzbekanntschaft zu widmen, verstärkt den Effekt noch. Jedes Kapitel will bedeutungsschwer einen Aspekt des Verfließen-Lassens des Lebens auf der Tanzfläche illustrieren, indem eine neue Figur als Spiegel für Arthur auftritt, ihm eine neue Facette des Tanzes offenbart. Dadurch entsteht aber auch kein wirklicher narrativer Faden, keine wirkliche Ergründung dieser kurzen Beziehungen. Denn einer wirklichen Studie der Einsamkeit, des Stumpfsinns, die vielleicht interessante Einblicke liefern könnte, geht "Der Tanzende" so nämlich sogar auch aus dem Weg. In einem Halbsatz erwähnt Arthur ab und zu etwas über seine Weltsicht, das aufhorchen lässt, dann aber nie wieder aufgegriffen oder vertieft wird.
Eine einschläfernde Sprache
Es ist eine nicht so einfache Angelegenheit in der Literatur, sich unangenehmen Phänomenen zu nähern. Von der Langeweile zu erzählen, ohne dabei selber langweilig zu sein, ist nicht trivial. Victor Jestin misslingt es in "Der Tanzende" auf ganzer Strecke, von Stumpfheit und Entfremdung zu erzählen, ohne dabei das Lesen zur Qual werden zu lassen. Es erscheint geradezu als fataler Fehler, eine Figur nicht nur ins Zentrum der Geschichte zu stellen, sondern auch zur erzählenden Instanz zu machen, die (a) kein Interesse an der Welt hat, die sie schildert, diese nicht einmal anschaut, um dieses Desinteresse zumindest auszustellen, und (b) so stumpf ist wie ein Messer aus Holz.
Bis in seine Sprache hinein ist Arthur ein grober Klotz. Er hat nichts mitzuteilen, hat eigentlich auch kein Interesse, sich mitzuteilen – der Erzählanlass der Geschichte ist auch etwas fragwürdig, wieso erzählt diese Figur überhaupt? Und schließlich besitzt er auch keine Sprache, um zumindest auf eine mitreißende Weise zu erzählen.
Arthurs Klotzhaftigkeit, die sich in einer steten Unbeholfenheit und Unsicherheit ausdrückt, macht – auf diese Weise erzählt – schnell wütend. Mensch will ihm zurufen: Jetzt stell dich nicht so an! So schwer ist das Leben nicht! Ein gut erzähltes Buch würde diese Überheblichkeit auffangen, vorwegnehmen, geschickt auf die Lesenden zurückwerfen. Denn natürlich ist es nicht so einfach. Die Entfremdung und die Einsamkeit sind wahr. Und sie sind es auch mehr als wert, literarisch verarbeitet zu werden. Doch das vermag "Der Tanzende" nicht zu leisten. Eine wirkliche Ergründung, ein tieferes Eintauchen in den als Archetyp angelegten Arthur, den Clubgänger, passiert nicht. Und so geschieht es, dass der Roman am Ende seine eigene Figur eigentlich verrät, indem er sie ausliefert und gelangweilt unbeteiligt danebensteht, während sie unbeholfen durch die Erzählung stolpert.
Infos zum Buch
Victor Jestin: Der Tanzende. Roman. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. 224 Seiten. Kein & Aber. Zürich 2023. Hardcover: 23 € (ISBN 978-3-0369-5898-9)
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