Vor genau zwei Monaten, am 6. Januar 2023, bekamen wir eine E-Mail der Berliner Polizei. Eine Oberkommissarin informierte uns, dass sie gegen queer.de wegen des Verdachts der "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" ermittelt. Grund ist unser am Silvestertag veröffentlichter Nachruf auf den emeritierten Papst Benedikt XVI. "Mit Ratzinger starb einer der größten queerfeindlichen Hetzer". Frau K. wollte wissen, wer den Text geschrieben hat.
Die Ermittlungen und die Aufforderung, das tatverdächtige Redaktionsmitglied zu outen, ausgelöst durch eine Onlineanzeige einer unbekannten Person, sind in vielerlei Hinsicht ein Skandal. Sie sind ein Angriff auf die Pressefreiheit. Die Polizeioberkommissarin hat sich missbrauchen lassen für den leicht durchschaubaren Versuch, Tatsachen zu leugnen und kritische Stimmen mundtot zu machen und zu kriminalisieren. Vor allem aber sind die Ermittlungen rechtswidrig, weil leicht erkennbar gar kein Anfangsverdacht besteht und bestehen kann.
Alle Antragsberechtigten sind längst tot
Bevor die Polizei Berlin bei queer.de zu schnüffeln beginnt, hätte sie zunächst einen Blick in das Strafgesetzbuch werfen und den Background der anzeigeerstattenden Person prüfen müssen. Bei der "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" handelt es sich nämlich nach § 194 Abs. 2 um ein sogenanntes Antragsdelikt – und das Antragsrecht steht nur den in § 77 Abs. 2 genannten Angehörigen zu. Nun hat, wie allgemein bekannt, der Herr Ratzinger weder Ehefrau oder Ehemann noch eingetragenen Lebenspartner hinterlassen, ebenso keine Kinder oder Enkel, auch seine Eltern und Geschwister sind bereits gestorben. Im Falle von Benedikt kann eine "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" also überhaupt nicht mehr festgestellt werden.
Diese Fakten sind, dank der Recherche und Nachfrage von Journalist*innen, längst auch den Ermittlungsbehörden bekannt ("Hatte der verstorbene Papst Benedikt XVI. einen Liebhaber?", kommentierte etwa sehr lesenswert Jens M. Lucke in seinem Blog). Dennoch wurde das Verfahren bis heute nicht eingestellt. Über die Gründe kann man ebenso nur den Kopf schütteln.
Akte bereits zum zweiten Mal verschwunden
Bereits am 11. Januar 2023 wurde das Verfahren von der Berliner Polizei an die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt übertragen – zur abschließenden Entscheidung. Auf dem Weg dahin war die Akte jedoch zunächst verschwunden. "Der Vorgang ist […] weiterhin hier nicht eingegangen," teilte uns die Zweite Pressesprecherin der Generalstaatsanwaltschaft Berlin am 14. Februar 2023, also über einen Monat später, mit – nach mehreren Nachfragen. "Wir wissen derzeit auch nicht woran es liegt."
Offenbar begann dann doch noch eine hektische Suche in der Behörde. Denn schon zwei Tage später, am 16. Februar 2023, teilte uns der Erste Pressesprecher den Fund der verschollenen Akte mit. Eingestellt wurden die Ermittlungen jedoch noch immer nicht: "Das Verfahren wird heute an die Staatsanwaltschaft Köln zur Übernahme zuständigkeitshalber abgegeben", schrieb er uns. "Insofern bitte ich, die weiteren Anfragen dorthin zu richten."
Das haben wir getan, doch über zwei Wochen später ist die Akte erneut verschwunden. Der Eingang des Ermittlungsverfahrens sei in Köln "(bislang) nicht feststellbar", teilte uns die Staatsanwaltschaft Köln am Freitag mit. Unsere Anfrage an die Pressestelle wurde interessanterweise von der "LSBTI-Ansprechperson" beantwortet, von der ich bislang dachte, dass sie für den Schutz queerer Menschen zuständig sei und nicht für die strafrechtliche Verfolgung queerer Medien.
Eine deutsche Justizposse
Die Ermittlungen gegen unsere Redaktion, die mit einer inkompetenten, unsensiblen und übereifrigen Polizeioberkommissarin in Berlin begannen, haben sich zu einer deutschen Justizposse entwickelt. Seit zwei Monaten beschäftigen sich Staatsanwaltschaften in zwei Städten mit Ermittlungen, die eigentlich nie hätten aufgenommen werden dürfen, und gleich zweimal wird die Akte verschlampt. Das Vertrauen von LGBTI in die Arbeit von Polizei und Justiz wird so ganz bestimmt nicht gestärkt.
Das Ratzinger-Verfahren hat uns zwar ein großes Medienecho und auch viel Solidarität beschert, gleichzeitig aber auch geschadet. Laut der Tageszeitung "Welt" verbreiteten wir "Ratzinger-Häme", die "Junge Freiheit" bezeichnete unseren Nachruf als "haßerfüllten Schmäh-Artikel", selbst der "Spiegel" verharmloste Benedikts queerfeindliche Hetze als "umstrittene Einordnung". Genau das hatte sich wohl die anzeigenerstattende Person erhofft: Verleumde nur dreist, etwas bleibt immer hängen.
Gerne hätten wir eine Gegen-Strafanzeige wegen falscher Verdächtigung gemäß § 164 StGB gestellt. Leider kam dies nicht infrage, da dafür eine konkrete Person der "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" hätte bezichtigt werden müssen, kein unbekanntes Redaktionsmitglied. Wobei: Oberkommissarin K. aus Berlin hätte dies vor Einleitung von Ermittlungen wohl kaum geprüft...