In keinem anderen Bühnenwerk wurde Homophobie so drastisch und pointiert thematisiert wie in Falk Richters "Small Town Boy". Vor etwas mehr als neun Jahren wurde das Stück im Berliner Gorki-Theater uraufgeführt. Die Rahmenhandlung erzählt von einer Clique junger schwuler Männer, die aus der Provinz nach Berlin geflüchtet sind. Sie versuchen, im Großstadtdschungel mit ihrer neu gewonnenen Freiheit umzugehen und ihren Frust zu bekämpfen.
Ein ungewöhnliches und sehr emotionales Stück. Zweifellos schrieb Richter damit Theatergeschichte. Der Dramatiker und Regisseur entwarf als Höhepunkt eine minutenlange Wutrede für einen der schwulen Protagonisten. Dabei holt dieser in seiner Verzweiflung zu einer politischen Generalabrechnung aus, in deren Zentrum Putin mit seiner queerfeindlichen Politik steht. Auch all diejenigen bekommen ihr Fett weg, die den russischen Diktator umwerben. Im Zusammenhang mit der Opernsängerin Anna Netrebko fällt gar das böse Wort vom "Diktatorenflittchen".
Die Szene mit dem "Diktatorenflittchen" (Bild: IMAGO / DRAMA-Berlin.de)
In Teilen des Publikums sorgte das für jubelnde Zustimmung: Eine derart subjektive Äußerung durch eine Identifikationsfigur ist durchaus nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass Putins Homophobie jahrelang ignoriert, verharmlost oder sogar stillschweigend in Kauf genommen wurde – nicht nur von Netrebko. Heute hat sich angesichts der neuen "Friedensbewegung" um Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht der Kreis derjenigen erweitert, die die verachtende Politik von Putin verharmlosen. Wie soll man damit umgehen?
Das Stück ist aktueller denn je
"Small Town Boy" erscheint aktueller denn je. Ganz davon zu schweigen, dass sich die angespannte Lage inzwischen zu einer weltweiten Katastrophe ausgeweitet hat, wie sie im Jahr 2014 noch kaum vorstellbar war. Wer hatte damals schon geahnt, dass es zu einem brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine kommen würde? Wer hätte sich vorzustellen gewagt, dass die russische Führung zur Rechtfertigung einer solchen Attacke die Weltöffentlichkeit mit unverblümten Ressentiments gegen Homosexualität bzw. Queerness konfrontieren würde? Auf diese Frage werden wir zurückkommen, denn im Blick auf russische Kulturgeschichte existiert tatsächlich ein blinder Fleck, der – sobald er als Einwand in einer Debatte auftaucht – häufig kleingeredet wird.
Umso mehr wäre es an der Zeit, "Small Town Boy" wieder auf den Spielplan zu setzen – und zwar in einer überarbeiteten, aktualisierten, möglicherweise etwas weniger auf Empörung, sondern mehr auf nüchterne Analyse fokussierten Version. Ursprünglich war es ohnehin nicht als ein gewöhnliches Drama gedacht, sondern als "Rechercheprojekt" zum Thema Homophobie, wie Richter von Anfang an betonte. Als work in progress.
Zuletzt war das Stück während des Corona-Lockdowns 2020 im Stream zu sehen. Davor hatte es bereits ein Gastspiel am Badischen Staatstheater in Karlsruhe – in einer modifzierten Fassung unter der Regie von Atif Hussein mit anderer Besetzung, da das Skript vorsah, die autobiografischen Facetten der Schauspieler*innen in die Handlung zu verweben. Aufführungen gab es zudem in Frankreich, in den Niederlanden und in Tschechien.
"Spiegel": Stück hat das Zeug zum "Dauer-Hit"
"Small Town Boy" fand von Anfang an nicht nur beim Publikum Zuspruch, sondern auch bei der Kritik. Spiegel Online schrieb bereits kurz nach der Premiere 2014, der Abend habe "das Zeug dazu, ein Dauer-Hit zu werden", die Schauspieler seien "eine Wucht".
Einzig die famose Schmährede wurde als überflüssig empfunden – damit würden beim linksliberalen Großstadt-Publikum doch nur "offene Türen" eingerannt.
Offenbar konnte man sich in der "Spiegel"-Kulturredaktion damals nicht vorstellen, dass sich bald Teile der Linken rund um Sahra Wagenknecht auf einen queerfeindlichen Feldzug gegen "skurrile Minderheiten" und einen Kuschelkurs mit dem rechten Rand einlassen würden – wobei Homophobie bei der Linken nicht ohne Tradition ist. Lange wurde Homosexualität als dekadenter Auswuchs der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet.
Zudem ist es nicht ohne Ironie, dass just der Namensgeber des Uraufführungstheaters von "Small Town Boy" – Maxim Gorki – im Mai 1934 in den beiden Tageszeitungen "Prawda" und "Istwestija" einem verhängnisvollen geflügelten Satz zum Durchbruch verholfen hat, der quasi als russisches Exportgut später auch von deutschen Intellektuellen (wie etwa dem Sexualforscher Wilhelm Reich) voller Überzeugung zitiert wurde: "Rottet die Homosexuellen aus und der Faschismus ist verschwunden!" Die berüchtigte Variante "Nazi = Homo" war in Deutschland noch bis in die 2000er Jahre in der antifaschistischen Graffiti-Szene ein beliebter Slogan. Es ist bemerkenswert, dass diese Tatsache von manchen Linken immer noch geflissentlich übersehen wird.
Keine Auseinandersetzung mit der Homophobie des Namensgebers
Gorki, führender Schriftsteller zu Sowjetzeiten, war für seine Homophobie berüchtigt. Schon damals war für ihn gleichgeschlechtlicher Sex unter Männern die Folge von antirussischen ausländischen Einflüssen. Nicht zuletzt seiner Scharfmacherei ist zu verdanken, dass Putin heute mit seiner abstrusen Verteufelung von Queerness und seiner wirren These von schwulen Nazis in der Ukraine auf ein in Russland kulturell tief verwurzeltes Vorurteil zurückgreifen kann.
Das Berliner Maxim-Gorki-Theater hat mit stalinistisch geprägter Homophobie freilich nichts am Hut. Ganz im Gegenteil, seit dem Amtsantritt der heutigen Intendanz 2013, bestehend aus Shermin Langhoff und Jens Hillje, hat sich das Staatstheater binnen kürzester Zeit zu einem mustergültigen Experimentierfeld für Diversität und Queerness entwickelt. Nirgendwo sonst wird so offen und leidenschaftlich debattiert wie hier. Auch deswegen wurde es nur wenige Monate nach der Premiere von "Small Town Boy" von der Zeitschrift "Theater heute" zum "Theater des Jahres 2014" im deutschsprachigen Raum gewählt.
Bislang ist allerdings noch nicht wirklich öffentlich wahrnehmbar geworden, dass sich das Haus mit seinem homophoben Namensgeber angemessen auseinandergesetzt hätte. In einer Weiterentwicklung und Neuauflage des Rechercheprojekts "Small Town Boy" ließe sich das nachholen.
Das erste Zitat war es, das mir kürzlich in der Auseinandersetzung mit Putin fehlte, der mit seiner Menschenfeindlichkeit sinngemäß mit Queerness als Auswuchs dekadenter Demokratie die russische Bevölkerung kriegsverhetzt. Zur darauf aufbauenden Hetze auch pseudolinker Kreise gehörte, "rottet alle Homos aus und die Nazis sind verschwunden". Im Geiste so wohl weiter und mit Putin verbunden, denunzieren sie die Demokratie als Herrschaft von Nazis, wie konkret bezogen von Putin auf die demokratische Entwicklung in der Ukraine und allgemein.