San Francisco, 14. Januar 1981. Brownie Mary rührt gerade Marihuana in die heiße Butter, als es an ihrer Tür klingelt. Der Mann möchte ein paar ihrer magischen Kekse kaufen. "Kein Problem", sagt die 58-Jährige. Und schon klicken die Handschellen. Der Mann ist Zivilfahnder. Die Verhaftete ist Mary Jane Rathbun und damals noch unbekannt. Aber in den folgenden Jahren avanciert sie unter ihrem Spitznamen Brownie Mary zu einer der maßgeblichen Vorkämpfer*innen für medizinisches Cannabis.
Mary Jane Rathbun (1922-1999) wuchs in einem Arbeiter*innenviertel in Minneapolis auf und verließ ihr erzkonservatives Elternhaus bereits mit 13 Jahren. Dass ihre irisch-katholische Mutter als Vornamen nichtwissend ein Synonym für Marihuana wählte, "geschieht ihr gerade recht", sagte Rathbun später. "Sicherlich rotiert sie gerade in ihrem Grab angesichts meines Rufs." Als Teenager beteiligte sich Rathbun an Gewerkschaftsprotesten von Bergwerkskumpeln und initiierte Kampagnen für das Recht auf Abtreibung. Während des Zweiten Weltkriegs zog Rathbun nach San Francisco und arbeitete dort bis zu ihrer Rente als Kellnerin. Tagein, tagaus servierte sie Pancakes in einer IHOP-Filiale mitten im berühmten Castro-Viertel, dem queeren Hotspot der USA.
Der Knochenjob zehrte an ihren Kräften, zumal sie wegen einer Osteoarthritis und zweier künstlicher Kniegelenke unter starken Schmerzen litt. Um Linderung zu erfahren und die klamme Haushaltskasse zu füllen, begann Rathbun in den 1970er Jahren, Cannabis-Brownies zu backen – für sich selbst und um sie im Castro-Viertel zu verkaufen. Die Nachfrage war riesig. Rathbun engagierte bezahlte Küchengehilf*innen und verteilte Flyer im Viertel: "Magisch leckere Kekse und Brownies. Geöffnet von 14 bis 19 Uhr. Sonntags geschlossen." Die Flyer riefen bald die Drogenfahndung auf den Plan, aber Brownie Mary nahm ihre Verhaftung mit Humor: "Ich habe Unternehmerin gespielt. Ich dachte, nur darum dreht sich alles in diesem Land. Aber ich habe wohl das falsche Business gewählt."
Befreundet mit Harvey Milk
Brownie Mary mit ihrem begehrten Produkt (Bild: Maureen Hurley)
Das Marihuana erhielt die kettenrauchende Rathbun unter anderem von ihrem Freund Dennis Peron (1945-2018), der sich selbst als "Hippie-Schwuchtel" bezeichnete und als Cannabis-Aktivist zeitlebens 26-mal verhaftet wurde. Peron wurde während des Vietnamkriegs zwangsverpflichtet und schmuggelte von dort, wie viele andere US-Soldaten auch, Hanfsamen von bester Qualität in die USA. Wer es damals im konservativen Mief des restlichen Landes nicht aushielt, zog in den 1960ern und 1970ern nach San Francisco, einem Hexenkessel der Hippie-Szene und Schwulenbewegung. Wenn ihr gemeinsamer Freund Harvey Milk eine Rede hielt oder die Antikriegsbewegung protestierte, waren Peron und Rathbun stets mittendrin.
Nachdem die Polizei nicht nur 16 Kilogramm feinste Markenbutter, sondern auch 9 Kilogramm Marihuana und 648 Cannabis-Brownies bei Rathbun beschlagnahmt hatte, verurteilte sie die Richterin zu 30 Tagen Haft, drei Jahren auf Bewährung und 500 Stunden Sozialarbeit. Die absolvierte Rathbun im San Francisco General Hospital. Und dort wurde aus ihrem vormaligen Business eine humanitäre Angelegenheit. Denn immer mehr Krebspatient*innen verlangten nach Rathbuns Brownies, um die Schmerzen der Chemotherapie zu lindern und ihr versiegendes Hungergefühl wiederzubeleben.
Kostenlose Brownies für Aids-Patient*innen
Als die Aids-Epidemie ausbrach, eröffnete das Krankenhaus im Januar 1983 mit dem "Ward 86" die weltweit erste Station zur Behandlung der damals noch weitgehend unerforschten Viruserkrankung. Rathbun hatte ihre Sozialstunden schon längst absolviert, arbeitete aber weiter als Freiwillige im Ward 86. "Sie ist seit Beginn der Aids-Epidemie hier, zu einer Zeit, in der es extrem schwierig war, Leute zum Arbeiten im Ward 86 zu bewegen, geschweige denn als Freiwillige", sagte die zuständige Pflegeleiterin J.B. Molaghan. Selbst viele Ärzt*innen hatten Angst, sich mit der vermeintlichen "Schwulenpest" anzustecken, und verweigerten den Kontakt mit Infizierten. Und die bestellten so viele Cannabis-Brownies, dass Rathbun kaum mit dem Backen nachkam. In der Hochphase waren es 1.600 Brownies pro Monat, jeder einzelne enthielt so viel Cannabis wie zwei Joints.
Kein anderes Medikament linderte so signifikant die quälenden Schmerzen und die starke Übelkeit der Aids-Patient*innen, deren mittlere Überlebensrate damals bei 18 Monaten lag. Zudem halfen die appetitanregenden Brownies gegen das Aids-bedingte Wasting-Syndrom, einer ungewollten und teils lebensbedrohlichen Gewichtsabnahme von über 10 Prozent des Körpergewichts. Gesunde zahlten zwar weiterhin 2 US-Dollar pro Brownie, doch alle Krebs- und Aids-Patient*innen bekamen sie von Brownie Mary kostenlos. Zum Dank warfen ihr anonyme Spender*innen tagtäglich Marihuana in den Briefkasten.
Einige Mediziner*innen kritisierten Brownie Marys Experimente, die stillschweigend von der Krankenhausleitung toleriert wurden. Doch abgesehen von der Symptomlinderung zeigten erste Bluttests, dass sich bei vielen Patient*innen die T-Zellen, also die Lymphozyten der Immunabwehr, verdoppelten, nachdem sie regelmäßig Cannabis konsumiert hatten. Daraufhin kontaktierte der schwule Onkologe Donald Abrams die Cannabis-Expertin, und sie assistierte ihm bei den weltweit ersten, bahnbrechenden Studien zum Thema.
"War on Drugs" statt Bekämpfung von Aids
Die alleinstehende Rathbun, deren einzige Tochter 1974 bei einem Autounfall verstarb, nannte ihre Patient*innen "meine Kinder". Wenn sie nicht kellnerte, backte sie Brownies und arbeitete unermüdlich im Ward 86. Dort erfüllte sie vielen Patient*innen ihren letzten Wunsch und organisierte auf der Station sogar Musikkonzerte mit Sharon McNight und Rita Rockett. Trotz dieser kleinen Freuden war die Situation für sie emotional belastend: "Jedes Jahr kaufe ich ein neues Adressbuch. Jedes Jahr muss ich 40 oder 50 Namen durchstreichen."
Der amtierende Präsident, Ronald Reagan, behauptete damals öffentlich, dass Aids eine Vergeltungsrache Gottes sei, weil es die Schwulen und Drogenabhängigen zuerst getroffen habe. Erst 1986 nannte Reagan Aids beim Namen, als bereits über 16.000 Menschen an den Folgen der Viruserkrankung verstorben waren. Derweil führte Reagan den "War on Drugs" fort, den Richard Nixon 1971 verkündet hatte. Für Nixon waren "Drogen der Staatsfeind Nummer 1", die Gesetze verschärfte er so, dass Marihuana auf eine Stufe gestellt wurde mit Heroin und DMT. Dass daraufhin etliche Mediziner*innen öffentlich erklärten, dass Marihuana nicht gefährlicher sei als Alkohol, ignorierte Nixon und gründete stattdessen 1973 die berüchtigte Drogenfahndung DEA (Drug Enforcement Administration). Im Rückblick erläuterte John Ehrlichman, der innenpolitische Assistent von Nixon, 1994 den eigentlichen Grund für den Krieg gegen die Drogen:
Nixon hatte zwei Feinde: die linke Antikriegsbewegung und die Schwarzen. Wir wussten, dass wir es nicht illegal machen konnten, gegen den Krieg oder Schwarz zu sein. Aber indem wir die Öffentlichkeit dazu brachten, die Hippies mit Marihuana und die Schwarzen mit Heroin zu assoziieren, und dann beides stark kriminalisierten, konnten wir diese Gemeinschaften zerschlagen. Wir konnten ihre Anführer verhaften, ihre Häuser durchsuchen, ihre Treffen auflösen und sie tagtäglich in den Abendnachrichten verunglimpfen. Wussten wir, dass wir bei den Drogen gelogen haben? Natürlich wussten wir das!
1992 zum zweiten Mal verhaftet
Am 21. Juli 1992 wurde Rathbun abermals verhaftet – bei einer Razzia der DEA im Haus eines Freundes, während sie gerade Cannabis-Kekse backte. Die Drogenfahndund beschlagnahmte 1,1 Kilogramm Marihuana. Brownie Mary war nicht gut zu sprechen auf die DEA: "Diese Typen bekommen einen Orgasmus, wenn sie dein Haus durchwühlen. Das war eine legitime Verhaftung '81. Ich hatte ein kleines Heimgewerbe am Laufen. Aber dieses Mal habe ich für die 'Kinder' gebacken. Ich habe nie auch nur einen einzigen Brownie an irgendjemanden dort im Krankenhaus verkauft."
Im ganzen Land wurde die Presse auf Brownie Mary aufmerksam, zumal nicht nur ihre Geschichte, sondern auch das großmütterliche Aussehen der selbsternannten Anarchistin medienwirksam war: graue, gelockte Haare und große Hornbrille, dazu ihre Halskette mit einem goldenen Cannabis-Blatt und ihre bunten Polyester-Westen samt Anstecker mit provokanten Botschaften wie: "Born-Again Atheist", "Jesus, protect me from your followers" und "Legalize Medical Marijuana".
Eine denkwürdige Gerichtsverhandlung
In der Gerichtsverhandlung "The People v. Rathbun" stand die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit hinter Rathbun. Der Staatsanwalt forderte fünf Jahre Haft: "Ich werde dieser alten Dame in den Arsch treten." Schon am ersten Verhandlungstag beschwerte sich der Richter über Rathbuns Äußeres: "Die Marihuana-Aufnäher an Ihrer Kleidung sind keine angemessene Erscheinung vor Gericht. Das gleiche gilt für das goldene Cannabis-Blatt an Ihrer Halskette." Rathbun erwiderte: "Pah, diese Aufnäher fallen unter mein Recht auf freie Meinungsäußerung nach dem ersten Verfassungszusatz." Am nächsten Prozesstag trug Rathbuns Anwalt, der berühmte Bürgerrechtler J. Tony Serra, eine Krawatte mit aufgedruckten Cannabis-Blättern. All das war nicht nur ein symbolisches Kräftemessen, denn Rathbun wusste, dass nur ein Freispruch zu einer Legalisierung von Cannabis führen konnte.
Dementsprechend kämpferisch zeigte sie sich vor Gericht:
Ich plädiere auf nicht schuldig! Meine Kinder brauchen das, und ich bin bereit, für meine Prinzipien ins Gefängnis zu gehen. Ich habe Hunderte meiner Freunde in dieser Pandemie sterben sehen. Und verdammt noch mal, warum können AIDS-Patienten kein Marihuana bekommen, solange wir kein Heilmittel haben? Es gibt ihnen ihre Würde zurück. Wir müssen medizinisches Marihuana haben. Wir brauchen es jetzt. Ich werde also keine Deals eingehen. Wenn ich ins Gefängnis muss, gehe ich ins Gefängnis. Ich bin 70 Jahre alt. Ich komme mit dem Knast klar.
Noch vor der Urteilsverkündung sagte Brownie Mary im August 1992 vor dem Stadtrat von San Francisco aus. Vor dem Rathaus versammelten sich über 5.000 Unterstützer*innen. Unter tosendem Applaus rief Rathbun ins Megafon: "Wenn die Drogenfahnder glauben, ich würde aufhören, Brownies für meine aidskranken Kinder zu backen, können sie sich ins Knie ficken. Sie kürzen meine Sozialhilfe um 47 Dollar. Wenn die Regierung so viel für einen Drogenkrieg ausgeben kann, der absolut keine Berechtigung hat, warum müssen sie dann meine Sozialhilfe kürzen? Das ist scheiße! Der Marihuana-Gott hat mich auserwählt! Sie können die Anklage nicht fallen lassen, ohne zuzugeben, dass ich nichts falsch gemacht habe. Und wenn sie das tun, werde ich mein Marihuana zurückverlangen. Die US-Regierung sollte mich dafür bezahlen, dass ich meine Brownies backe!"
Der 25. August wurde zum "Brownie Mary Day"
Im Rathaus sagte Rathbun anschließend vor dem Stadtrat aus, zusammen mit Aids-Patient*innen und Mediziner*innen. Die Politik stand nicht nur wegen des gewaltigen Medienechos unter Druck, sondern auch wegen eines vorangegangenen Volksentscheids: Am 5. November 1991 votierten 79 Prozent der Einwohner*innen San Franciscos für die von Rathbun mitinitiierte Proposition P, die eine Legalisierung von medizinischem Cannabis forderte. Nach der Anhörung erklärte der sichtlich beeindruckte Stadtrat den 25. August fortan zum "Brownie Mary Day" und entschied mehrheitlich, dass Nutzer*innen von medizinischem Cannabis künftig nicht mehr strafverfolgt werden sollten. Der Stadtrat erteilte Brownie Mary "aus humanitären Gründen eine de facto Erlaubnis", innerhalb der Stadtgrenzen Cannabis für medizinische Zwecke zu verteilen, "damit die Menschen nicht mehr leiden müssen".
Der wachsende öffentliche Druck erreichte auch den zuvor so eisernen Staatsanwalt, der schließlich davon absah, eine "kuchenbackende Großmutter" anzuklagen. Im Dezember 1992 ließ das Gericht alle Anklagepunkte gegen Rathbun fallen, weil sie "aus medizinischer Notwendigkeit gehandelt" habe.
Die wegweisende Proposition 215
Brownie Marys Rezepte sind auch als Buch erschienen
1993 veröffentlichten Rathbun und Peron ihr Gemeinschaftswerk "Brownie Mary's Marijuana Cookbook and Dennis Peron's Recipe for Social Change". Und ein Jahr später eröffneten die beiden den San Francisco Cannabis Buyers Club: Wer eine ärztliche Verordnung für medizinisches Canabis vorweisen konnte, erhielt es hier umsonst. "Verteilt es, bevor die Cops es sich schnappen!", sagte Peron. Schon bald hatte der Club über 10.000 Mitglieder. Doch damit begnügten sich Rathbun und Peron nicht und sie brachten eine Initiative auf den Weg, um medizinisches Cannabis in ganz Kalifornien zu legalisieren, die sogenannte Proposition 215. US-Präsidenten wie Gerald Ford, Jimmy Carter, Ronald Reagan, George Bush und Bill Clinton machten öffentlich Stimmung gegen den Vorschlag, doch die Kalifornier*innen stimmten am 5. November 1996 mit 55,6 Prozent dafür. Somit durften Patient*innen Cannabis besitzen, anbauen und konsumieren. Alle weiteren Legalisierungsschritte bis in die Gegenwart beruhen maßgeblich auf dieser Abstimmung über Proposition 215.
Im Juni 1997 führten Rathbun und Peron als Grand Marshals unter dem Motto "One Community, Many Faces" die San Francisco Pride Parade an. Die beiden Aktivist*innen betrachteten Rechte für queere Personen und die Cannabislegalisierung als "einen untrennbaren politischen Kampf, denn bei all dem geht es um unsere Freiheit".
Nach langer Krankheit und einer Wirbelsäulen-OP erlag Brownie Mary 1999 im Alter von 76 Jahren einem Herzinfarkt. Bei einer Gedenkveranstaltung sagte ihr langjähriger Mitstreiter Dennis Peron verschmitzt: "Ich glaube, sie macht gerade einen Deal mit Gott: Wenn du mich reinlässt, backe ich dir ein Dutzend Brownies auf Kosten des Hauses." Der Rechtsanwalt und Politiker Terence Hallinan ergänzte: "Brownie Mary war eine Heldin. Eines Tages wird man sich an sie als die Florence Nightingale der medizinischen Marihuana-Bewegung erinnern."
Ein Wunsch, den auch die bescheidene Brownie Mary teilte: "Vielleicht werde ich als fette alte Lady in Erinnerung bleiben, die dazu beigetragen hat, diese bescheuerten Marihuana-Gesetze loszuwerden. Das wäre schön."
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Passend der Legalisierung von Cannabis Debatte von Seiten Berlins. Allerdings habe ich jetzt so meine Zweifel mit der neuen Groko CDU/sPD Führung in der Hauptstadt.
Für mich hat diese Heilpflanze den Vorteil dass ich Durchschlafen kann. Was ohne nur mit Schlaftabletten möglich ist. Mein Hausarzt verweigert mir medizinisches Cannabis.