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"Gespräch über Kunst und Politik"

Zwei Linke sprechen aus, worauf keiner hören will

Der schwule Schriftsteller Édouard Louis und Regisseur Ken Loach unterhalten sich in einem neuen Buch durchaus radikal über Klassenverhältnisse, Homophobie und dass die Politik daran nichts ändern will.


Der Dialogband beruht auf einer Diskussion zwischen Ken Loach (li.) und Édouard Louis in der Reihe "Studio B Unscripted" auf Al Jazeera (Bild: Screenshot Al Jazeera)

56 Jahre trennen die zwei Gesprächspartner, doch sie unterhalten sich überhaupt nicht wie ein Großvater mit seinem Enkel: Édouard Louis, eine der aktuell international meistbeachteten linken und schwulen Stimmen Frankreichs, und Ken Loach, Altmeister des sozialkritischen Dramas, begegnen einander auf Augenhöhe. Keine Besserwisserei, kein Belehren der jungen – oder alten – Generation, sondern ein produktiver Austausch.

Es liegt auf der Hand, dass die beiden im selben Team spielen. In einer politischen Talkshow würden sie nebeneinander sitzen – oder überhaupt nur einzeln eingeladen werden. Beide stammen aus der Arbeiterklasse, haben dann studiert, sind seitdem künstlerisch tätig und setzen sich in ihrem Werk mit ihrer Herkunft auseinander.

Homophobie als Symptom materieller Unsicherheit?


Das "Gespräch über Kunst und Politik" ist im Verlag S. Fischer erschienen

So verwundert es nicht, dass der erste Dialog der beiden den Titel "Arbeit und Gewalt" trägt und Édouard Louis von seinem Vater erzählt, der einen Arbeitsunfall erlitt, und in der Verfolgung durch Politik und Gesellschaft Parallelen zu Loachs Filmfigur Daniel Blake erkennt. Der Regisseur, in die Labour Party ein-, dann aus-, wieder eingetreten und schließlich ausgeschlossen, erkennt darin – wie in vielen anderen Schicksalen – Regierungen, "die für die Menschen nur noch restlose Verachtung übrig haben". Sein Gegenüber stimmt zu, auf der fünften Seite des Dialogs ist die Richtung also bereits mehr als eingeschlagen.

Reibung kommt zwischen den beiden auf, als es um die toxische Homophobie der Arbeiterklasse, unter der Louis lange litt, geht. Ken Loach sieht Queerfeindlichkeit eher als Symptom der materiellen Unsicherheit und des Arbeitsstresses, während Louis zwar grundsätzlich zustimmt, aber differenzierter darauf blickt: Er spricht sich für eine komplexe Betrachtung der Arbeiterklasse aus – weder abwertend noch romantisierend -, die doppelt zu Opfern der politischen Gewalt werden: Zuerst, wenn sie sie erleiden, und wieder, wenn sie sie reproduzieren: "Wenn mein Vater in meiner Kindheit wirtschaftlich weniger bedrängt gewesen wäre, hätte er vielleicht angesichts dessen, was er 'unnormal' nannte, meiner Homosexualität, mehr Verständnis gezeigt."

Eine sicher streitbare, aber durchaus einleuchtende These. Kein allgemeingültiges Argument, schon gar keine Rechtfertigung, und auch keine Erklärung für all die Queerphobie der sogenannten bürgerlichen Mitte oder darüber finanziell hinaus. Vielmehr stellen wirtschaftliche Sorgen ein Puzzleteil von vielen dar, das Hass – auf welche Minderheit auch immer – begünstigt, und eines, da sind sich Louis und Loach mehr als einig, das von Politik und Gesellschaft in Kauf genommen wird.

Die "einfachen Leute" sind aus linken Diskursen verschwunden

Dann ist das Publikum dran und stellt Fragen, etwa ob die Regierungen genug gegen Obdachlosigkeit tun, oder ob die Künstler mit ihrem Werk die eigenen Protagonisten überhaupt erreichen. Denn das Gesprächsformat findet im Rahmen der Reihe "Studio B Unscripted" von Al Jazeera statt, weshalb es auch vollständig auf Youtube zu finden ist.

Direktlink | Das Original-Gespräch auf Al Jazeera
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Anschließend sprechen die beiden unter der Überschrift "Politik und Transformation" vor allem über den Untergang der Linken und den gleichzeitigen Aufstieg rechter Parteien, die sie in ihren Heimatländern erlebt haben und weiterhin erleben. Was die beiden hier diskutieren, erinnert so sehr an "Rückkehr nach Reims" von Louis' Freund und Förderer Didier Eribon, dass es erschreckend ist, wie wenig linke Parteien und Bewegungen sich dies zu Herzen nehmen: Aus ihren Diskursen und Bemühungen sind, so Édouard Louis' Worte, "die einfachen Leute verschwunden" – eine Feststellung, ganz ohne auf den "skurrilere Minderheiten"-Zug á la Wagenknecht einzusteigen.

So entstehe ein Vakuum, das rechte Parteien nutzen. Diese prägen Diskurse, während linke Parteien nur darauf reagieren, statt eigene Diskurse zu etablieren bzw. sie zu erneuern. Das sind wahrlich weder neue noch revolutionäre Ideen. Dafür müssten Linke eine neue (An-)Sprache erfinden – doch das sind sie uns bis heute schuldig.

Infos zum Buch

Édouard Louis, Ken Loach: Gespräch über Kunst und Politik. Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. 80 Seiten. Verlag S. Fischer. Frankfurt 2023. Gebundene Ausgabe: 17 € (ISBN 978-3-10-397173-6). E-Book: 14,99 €

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#1 CourceAnonym
  • 11.03.2023, 13:34h
  • Naja, das Bürgergeld von der SPD macht schon mal einen gewaltigen Unterschied zu den arbeitgeberlastigen Parteien/CDU/CSU/FDP/AfD, wenn der Respekt vor den arbeitslosen keine Eintagsfliege ist, könnten die zahlreichen prekären AfD-wähler durchaus wieder links wählen
  • Antworten » | Direktlink »
#2 la_passanteAnonym
#3 WirklichAnonym
  • 11.03.2023, 14:15h
  • Ist das wirklich so einfach, Armut ist verantwortlich für Homophobie? Wenn jemand weniger arm ist, dann ist er auch weniger homophob?
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#4 goddamn liberalAnonym
  • 11.03.2023, 14:32h
  • Antwort auf #3 von Wirklich
  • Aus meiner Erfahrung kenne ich keine toxische Homophobie der Arbeiterklasse,

    Da ging und geht es lockerer zu als in anderen Bevölkerungsschichten.

    Ken Loach ist allerdings von toxischem Antisemitismus nicht ganz frei zu sprechen.
  • Antworten » | Direktlink »
#5 SeraphinaAnonym
  • 11.03.2023, 14:43h
  • Antwort auf #3 von Wirklich
  • Wenn es denn so einfach wäre, hätte z. B. die Gründer-AFD nicht größtenteils aus privilegierten Akademiker*innen bestanden, materielle Unsicherheit so gut wie es geht beseitigen kann jedoch helfen weniger Menschen in die Hände beeinflussender Populisten zu treiben, die die möglicherweise bereits vorhandenen homophoben Tendenzen so richtig in einem "erwecken". Komplett verhindern, dass irgendwelche Menschen sich hingezogen fühlen zu u. a. Homo- und Trans hassenden Ideologien kann man indes nicht (zumindest nicht ohne selbst extrem diktatorisch zu werden und selbst dann ist es nur eine Fassade von den Menschen aus Angst).
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#6 PrideProfil
#7 PrideProfil
#8 gooddamn liberalAnonym
  • 11.03.2023, 15:53h
  • Antwort auf #6 von Pride
  • Kann man so sagen.

    Das hat auch nichts mit der derzeitigen ultrareaktionären Regierung in Israel zu tun:

    "Loach also joined "54 international figures in the literary and cultural fields" in signing a letter that stated, in part, "celebrating 'Israel at 60' is tantamount to dancing on Palestinian graves to the haunting tune of lingering dispossession and multi-faceted injustice". The letter was published in the International Herald Tribune on 8 May 2008." (wiki)

    Zur Erinnerung: 1948 gründeten mehrheitlich sozialistische Kämpfer*innen auch mit Unterstützung der Sowjetunion den jüdischen Staat im Kampf gegen Nazi-Verbündete wie den Großmufti al-Husseini, auf dessen Seite auch ehemalige SS-Leute mitmachten.

    Was soll an Loach eigentlich links sein?
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#9 So nicht behauptetAnonym
  • 11.03.2023, 16:33h
  • Antwort auf #3 von Wirklich
  • Wird so auch nicht behauptet.

    Hier ist nochmal der im Text befindliche entscheidende Wortlaut:
    "Kein allgemeingültiges Argument, schon gar keine Rechtfertigung, und auch keine Erklärung für all die Queerphobie der sogenannten bürgerlichen Mitte oder darüber finanziell hinaus. Vielmehr stellen wirtschaftliche Sorgen ein Puzzleteil von vielen dar, das Hass auf welche Minderheit auch immer begünstigt, und eines, da sind sich Louis und Loach mehr als einig, das von Politik und Gesellschaft in Kauf genommen wird."
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#10 Pu244Anonym
  • 12.03.2023, 02:20h
  • Ich halte die These für Blödsinn. Der Klerus ist materiell schon immer extrem gut versorgt gewesen und hatte eine absolut sichere Stellung. Dennoch ging der Hass auf Homosexuelle zum Großteil von dieser Gruppe aus. Auch müßten die Reichen und Mächtigen eine besondere Toleranz gehabt haben und noch immer haben. Dem war und ist aber nicht so.

    Das ganze soll wohl relativ plump die Fehler der eigenen Klientel entschuldigen. Bei Édouard Louis kann ich nachvollziehen, dass er das Verhalten seines Vaters etwas anderem zuschieben möchte.

    Ein hasserfülltes Ekel wird mit mehr Geld lediglich ein reiches, hasserfülltes Ekel, das nun mehr Mittel hat, andere zu verfolgen. Ein Toleranter und aufgeschlossener Mensch wird nicht weniger tolerant, wenn es mit den Finanzen nicht so üppig bestellt ist.
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