Gerade für viele queere Menschen ist das Wichtigste im Leben nicht die Familie, sondern Personen, deren Verbindung sich nicht durch einfache Blutsverwandtschaft erklären lässt. Sie gehen Freundschaften ein, schließen Komplizenschaft, bilden Banden oder gründen eine Wahlfamilie. Auch die einflussreichen französischen Intellektuellen Didier Eribon, Geofrroy de Lagasnerie und Édouard Louis verbindet ein intimer Zusammenschluss – Lagasnerie als Eribons Lebenspartner und Louis als ehemaliger Student Eribons. Die französische Gesellschaft, insbesondere ihre politisch Linke, hat mit ihnen drei starke Stimmen, die sich unter anderem für die Rechte queerer Menschen und soziale Gerechtigkeit stark machen. Dabei ähneln sich auch die Biografien der schwulen Schriftsteller, die sie in ihren Werken verhandeln: Eribon erzählt in seinem autobiografischen Werk "Rückkehr nach Reims" wie er nach dem Tod seines Vaters zum ersten Mal nach Jahrzehnten der Entfremdung von Familie und Herkunft wieder in seine Heimatstadt Reims zu seiner Mutter reist. Louis berichtet in seinem autofiktionalen Romandebüt "Das Ende von Eddy" von seiner unglücklichen Jugend als schwuler Junge einer Arbeiterfamilie in der französischen Provinz.
Auch der französische Dramatiker Jean-Luc Lagarce verhandelt in einem seiner Werke die Rückkehr eines schwulen Sohnes in seine Heimatstadt. 1990 schrieb er das Theaterstück "Einfach das Ende der Welt", das erst neun Jahre später in Paris zur Uraufführung kommen sollte, weil es nach seiner Veröffentlichung großes Unverständnis der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. Lagarce selbst konnte die Uraufführung nicht mehr miterleben – er verstarb 1995 mit nur 38 Jahren an Aids. Heute zählt Lagarce in Frankreich zu den meistgespielten Theaterautor*innen, "Einfach das Ende der Welt" wurde 2016 sogar von dem schwulen frankokanadischen Regisseur Xavier Dolan mit Starbesetzung verfilmt.
Gefeierte Inszenierung aus Zürich macht Station in Bochum
Am Schauspielhaus Zürich inszenierte 2020 Christopher Rüping das Stück in eigener Fassung. Die Inszenierung wurde von Publikum wie Fachpresse gefeiert und mit zahlreichen Auszeichnungen überschüttet: 2021 eingeladen zum Berliner Theatertreffen, von der Fachzeitschrift "Theater heute" zur Inszenierung des Jahres gewählt und mit dem Nestroy-Preis als beste deutschsprachige Aufführung ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde Maja Beckmann u. a. für diese Produktion zur Schauspielerin des Jahres und Benjamin Lillie als Schauspieler des Jahres ausgezeichnet. Im Rahmen von Transfer Zürich/Bochum ist die Inszenierung nun für wenige Male auch am Schauspielhaus Bochum zu sehen, wo sie ebenfalls vom Publikum mit tobendem Applaus und stehenden Ovationen gefeiert wird.
"Von Geburt an tragen wir die Geschichte unserer Familie und unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch den Platz, den sie uns zuweisen", schreibt Eribon in "Rückkehr nach Reims". Es ist die Geschichte der eigenen Familie, die in uns eingeschrieben ist und der wir nicht entkommen können, auch wenn wir uns von unserer Familie lossagen. Diese bittere Erkenntnis muss auch Benjamin machen, der vor zwölf Jahren seine Familie in der französischen Provinz zurückgelassen und sich aufgemacht hat in ein neues Leben in der Großstadt. Nun kehrt er zurück, der verlorene Sohn, der mittlerweile ein erfolgreicher Künstler geworden ist. Aber nicht aus Sehnsucht nach seiner Familie, sondern weil er krank ist und nicht mehr lange leben wird. Ausgerüstet mit einer kleinen Videokamera versucht er Begegnungen, Momente und Gespräche einzufangen, eine Nähe zu seiner Familie herzustellen, die von einer großen Kluft gezeichnet ist.
Rückkehr in die verhasste Provinz (Bild: Diana Pfammatter)
Vor den Augen der Zuschauer*innen eröffnet sich zu Beginn des Abends ein ins kleinste Detail ausdifferenziertes Bühnenbild, das dem Elternhaus des Protagonisten nachempfunden ist – ein Modellnachbau samt Originalteilen, wie Schauspieler Benjamin Lillie behauptet. Die Küche, das Wohn- und Badezimmer und natürlich sein Kinderzimmer. Mit seiner Videokamera taucht er nochmal ein in die vergangene, zurückgelassene Welt, bewegt sich zart wie voll kindlicher Freude und Neugierde durch die Räume und hält drauf auf die Relikte einer vergangenen Zeit: Videokassetten, Urlaubsandenken, Geschirr, Kleider, Fotos und die unter seinem Bett versteckten "Playboy"- und "Playgirl"-Magazine. Untermalt wird die eigene, knapp halbstündige Spurensuche mit toller Live-Musik von Matze Pröllochs am Schlagzeug, das Kamerabild dabei liveprojiziert auf eine über dem Bühnenboden schwebende Leinwand.
Neid, Vorwürfe, Verletzungen und Ängste
Dass zwölf Jahre später aber alles anders aussehen wird, ist Benjamin klar. Drum lässt er kurzerhand das gesamte Bühnenbild samt hunderter Einzelteile von den Requisiteur*innen abräumen, die Kulissen von den Bühnentechniker*innen an die Seite bauen und schickt die Zuschauer*innen in die Pause. Dann ist die große Bühne leer und er steht alleine da, mit der Videokamera in der Hand. Folgerichtig: Denn Heimat ist nicht nur das Gerippe des Wohnhauses, sondern viel mehr die Menschen, die Familienangehörigen, die es bewohnen und ihm einst ein Zuhause waren. Und dann sind sie auch schon da: die Mutter, die kleine Schwester und der Bruder mit seiner Frau, die den heimgekehrten Sohn in Empfang nehmen. Die Distanz zwischen ihnen von Anfang an groß: Benjamin auf der einen, die vier auf der anderen Seite. Selbst beim gemeinsamen Kuchenessen stehen die Stühle meterweit auseinander. Nichts scheint mehr übrig von der melancholischen, warmen Erinnerung, die sich zuvor angedeutet hat. Viel mehr eine Kluft, gefüllt von unausgesprochenen Worten, unterdrückten Gefühlen und ungelösten Konflikten.
Dabei ist erstaunlich zu beobachten mit welcher Feinfühligkeit und Detailliertheit die Spieler*innen ihren Figuren Konturen geben, wie sie durch ihr Sprechen und Agieren in der Begegnung mit dem Heimgekehrten etwas Momenthaftes, Spontanes entstehen lassen und die offenen Fragen sich ganz ohne Worte stellen lassen: Warum bist du gekommen? Was suchst du hier? Was willst du von uns? In den Dialogen erhalten die skizzierten Konflikte dann ihre Füllung: Es geht um Neid, Vorwürfe, Verletzungen und Ängste. Dabei erlaubt die Dramaturgie der Gespräche und die Haltungen der Figuren keine eindeutige "Täter-Opfer-Zuschreibung", fast im Minutentakt wendet sich die Gunst, die wir als Zuschauende den Figuren entgegenbringen. Das Reenacten von Erinnerungen und das Interviewen vor der Livekamera durch den Protagonisten wirft immer wieder die Fragen nach Authentizität und Perspektiven auf: Für den Bruder ist die Flucht von Benjamin vor zwölf Jahren eine egoistische Tat gewesen, für Benjamin selbst überlebensnotwendig, um dem Anderssein, der eigenen Sexualität, der eigenen Identität Luft zum Atmen zu verschaffen.
Wie würdest du sterben wollen?
Und so entfalten sich die Spannungen innerhalb der Familie in ihrer Vielfalt und natürlichen Widersprüchlichkeit auf der Bühne und schaffen es durch die Darstellung der Spielenden und der Musik, das Publikum soghaft in die Geschichte hineinzuziehen. Immer wieder wird dabei auch die vierte Wand gebrochen und das Publikum befragt: Wie würdet ihr sterben wollen? Und wo?
Die Flucht aus einengenden Strukturen, das Zurücklassen der eigenen Familie, das Akzeptieren des eigenen Begehrens und der eigenen Identität, der Neuanfang an einem anderen Ort, aber auch der Versuch einer Annäherung, nach Monaten oder Jahren, die Rückkehr – all dies sind Prozesse, die zum Leben eines Menschen dazugehören können, der oder die von der Mehrheitsgesellschaft als "anders" gelabelt wird. Wenn Benjamin am Ende verzweifelt um eine Umarmung mit seinem Bruder ringt und jener sie ihm wiederholt verweigert und körperlich ausweicht, muss das nicht bedeuten, dass es ein Fehler war zurückzukehren und die Hoffnung gehabt zu haben, dass sich die zwischenmenschliche Kluft doch noch einmal schließen wird.
Es gibt kein Recht auf Versöhnung – auch nicht wenn das Ende der (eigenen) Welt bevorsteht. Aber seine Bedürfnisse zu kommunizieren, sich verletzbar zu zeigen und dem anderen zuzuhören, ist ein guter erster Schritt für eine Annäherung. Der Ausgang dennoch ungewiss.