Kathrin* Schultz arbeitet in der neu gegründeten Berliner Initiative queerhome. Das Projekt arbeitet zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit speziell unter Queers und wird vom Senat gefördert. Mit Schultz haben wir uns über die besonderen Bedarfe von Queers in der Wohnungslosenhilfe, sozialisationsbedingte Hemmnisse beim Zugang zu Hilfsangeboten bei FLINTA und Lesben* und den Ausblick auf die Wohnungslosenpolitik der "Regenbogenhauptstadt" unterhalten.
queer.de: Aus den USA weiß man aus Studien, dass bei Queers eine deutlich erhöhte Gefahr zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit besteht. Was ist dazu eigentlich aus Deutschland bekannt?
Schultz: Das ist ein großes Manko. In Deutschland fehlen hierzu tatsächlich noch die Zahlen. Die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung will zu Queers und queeren Lebenslagen jetzt eine Studie machen. Daran wird queerhome auch maßgeblich beteiligt sein. Aber wir wissen noch nicht genau, wann die Studie dann tatsächlich erscheint.
Natürlich sind auch für eine Stelle wie unsere solche Zahlen sehr wichtig. Wir können bisher immer nur spekulieren. Aber selbst wenn wir nur von den offiziellen Zahlen ausgehen, wonach 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung queer sind, läuft das schon auf sehr hohe Zahlen hinaus.
Wichtig ist es immer, die Unterscheidung zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit zu machen. Wir sprechen von 6.000 bis 10.000 Obdachlosen in dieser Stadt, also Menschen, die wirklich auf der Straße stehen. Dann hätten wir mindestens 600 queere obdachlose Personen. Bei Wohnungslosen, also Menschen, die kein festes Mietverhältnis haben, sind die Zahlen aber noch wesentlich höher. Da sprechen wir von 200.000 Personen. Wir wären dann also bei mindestens 20.000 Queers.
Wir hoffen, dass abseits solcher Schätzungen nach dem Querschnitt bald belastbarere Zahlen kommen. Das würde unsere Arbeit sehr erleichtern.
Müsst ihr bei Politiker*innen für Verständnis werben, dass queere Wohnungs- und Obdachlose besondere Bedarfe haben, oder möchte die Politik das gerne in die allgemeine Obdach- und Wohnungslosenhilfe eingemeindet sehen?
Schultz: Wir leisten auf diesem Feld tatsächlich Öffentlichkeits-, Vernetzungs- und Lobbyarbeit. Die Stelle queerhome ist bei einem Selbsthilfeträger gelandet und das ist sehr gut. Wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen sozialer Wohnhilfe, queer finanzierten Projekten sowie Einzelinitiativen und Personen, die im politischen Kontext im Bereich Wohnen aktiv sind. Wir können dadurch politisch anders agieren, als würden wir selbst zur Wohnhilfe gehören, zu diesem Verwaltungsapparat. Das war uns sehr wichtig.
Seit November vergangenen Jahres wird queerhome jetzt von der Landesstelle für Gleichbehandlung finanziert. Das Projekt steht unter der Trägerschaft des queeren Sonntagsclubs, der eine fünfzigjährige Vereinsgeschichte abseits der Wohnraumfrage hat.
Und wie sieht eure Arbeit darüber hinaus aus?
Schultz: Neben dem genannten Strang gibt es die Beratung von Klient*innen und Angehörigen. Zu denen, die von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen sind und mit denen wir arbeiten, zählen übrigens auch queere Aktivist*innen sowie Gewerberäume, in denen queere Initiativen sitzen.
Der dritte Punkt ist die Sensibilisierung von Fachkräften. Wir beraten Mitarbeiter*innen in der sozialen Wohnhilfe und auf den Ämtern. Aber auch bei queeren Trägern gibt es noch fehlendes Wissen über die besonderen Bedarfe von queeren Wohnungs- und Obdachlosen.
Es gibt bei euch einen Schwerpunkt für die Zielgruppe der FLINTA-Personen. Was muss man sich unter dem vorstellen?
Schultz: Ich arbeite seit sechs Jahren mit queeren Wohnungslosen. Früher war ich in der sozialen Wohnhilfe tätig. Wir haben dort ziemlich schnell gemerkt, dass es sehr viele Grenzen in der Tätigkeit gibt. Wir können hier zum Beispiel Menschen ohne Berliner Meldeadresse nicht beraten oder solche, bei denen der Aufenthaltsstatus nicht klar ist. Und was hier auch bekannt ist, ist, dass speziell Frauen* später als andere in Beratungsstellen landen, öfters zu spät.
Zu lesbischen, nichtbinären, intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Personen gibt es da keine Studien, aber speziell bei Frauen* wissen wir, dass es sehr oft eine verdeckte Wohnungslosigkeit gibt. Sie stehen etwa oft im Zusammenhang mit ihrer Wohnung in starken Abhängigkeitsverhältnissen. Es gibt da auch bestimmte Sozialisationsgründe.
Wir vermuten, dass das bei Transweiblichkeiten ähnlich ist, also bei transgeschlechtlichen Frauen und in Richtung Weiblichkeit transitionierten, nichtbinären Personen. Aber dazu gibt es ebenfalls keine Datengrundlage. Uns geht es hier nicht um ein Ranking. Aber Queers haben einfach besondere Bedürfnisse. Und auch innerhalb dieser Gruppe gibt es Abstufungen davon, wer was benötigt.
Unser zweiter Schwerpunkt liegt übrigens bei Menschen, die in der Sexarbeit tätig sind. Die sind ebenfalls sehr häufig von Wohnungs- und eben auch von Obdachlosigkeit betroffen. Hier bauen wir gerade ein neues Kooperationsnetzwerk von Projekten auf, die bisher bereits tolle Arbeit leisten.
Das Thema Wohnen spielt in Berlin darüber hinaus schon seit vielen Jahren in vielen Beratungsstellen eine große Rolle. Oft waren Queers dabei aber so eine Art Randthema. Niemand hatte so richtige Expertise. Das Ziel von queerhome ist es, hier zu bündeln, Projekte zusammen zu führen und Allianzen zu bilden.
Mit welchen Problemen haben queere Personen denn in den bisherigen Angeboten der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe zu kämpfen?
Schultz: Queere Personen sind unserer Einschätzung nach überhaupt erst ein mal häufiger davon betroffen, wohnungs- oder obdachlos zu werden. Nicht selten bricht durch ein Coming-out oder eine Transition das familiäre Netzwerk weg. Das wird, glaube ich, noch oft unterschätzt.
Hinzu kommt: Viele der Menschen verlassen ihre Dörfer oder Kleinstädte, weil sie dort nicht gut leben können, und kommen zum Beispiel nach Berlin. Und in dem großen Pool von Menschen mit Fluchthintergrund ist es ebenfalls so, dass hier queere Personen eher versuchen, nach Berlin zu kommen.
Die Bezirksämter – sozusagen die Berliner Entsprechung der Kommunen – sind verpflichtet, Menschen möglichst vor Obdachlosigkeit zu bewahren. Sie halten dazu in der Wohnhilfe sogenannte Wohnunterkünfte vor – auch, weil es keinen Rechtsanspruch auf Einzelzimmer gibt.
Notunterkünfte und Wohnheime aber, wo wirklich auch auf trans, nonbinäre oder queere Belange eingegangen wird, gibt es nicht. In den Unterkünften, die es gibt, haben wir oft Mehrbettzimmer. Die Toiletten- und Duschräume sind baulich nicht so gegeben, um Rückzugsräume zu ermöglichen.
Notunterkünfte und Wohnheime sind davon ab unserer Meinung nach sowieso nicht besonders queerfreundlich. Aber wir müssen eben mit dem arbeiten, was wir haben.
Bei den Vereinen, die in der sozialen Wohnhilfe die langfristige Beratung machen, damit die Betroffenen ebenfalls langfristig wieder in Wohnraum gelangen können, fehlt häufig queerspezifisches Wissen. Alle, die wiederum länger in der queeren Arbeit unterwegs sind, kennen diese Dinge. Es muss natürlich immer gekämpft werden, dass die besonderen Bedarfe gehört und nicht einfach weggewischt werden. Hier setzen unsere Sensibilisierungsmaßnahmen an.
In New York wurden Unterkünfte speziell für transgeschlechtliche Personen juristisch erkämpft. In San Francisco gibt es solche speziellen Unterkünfte, die sich nur an trans Personen richten, seit 2019 von der Kommune aus (queer.de berichtete). Ein Modell für die Regenbogenhauptstadt Berlin?
Schultz: Ja, definitiv. Es gibt hier zwei, drei Sachen in diese Richtung. Etwa die Zufluchtswohnungen der AWO für LSBTIQ, die von Gewalt betroffen sind. Die haben jedoch nur vier Plätze. Jüngst gab es da eine Ausschreibung für ein neues Haus. Dann gibt es ein eigenes Flüchtlingswohnheim für Queers. Da soll noch ein zweites entstehen.
Es bräuchte aber ein eigenständiges ASOG-Wohnheim, also ein Wohnheim nach dem Allgemeinen Ordnungsgesetz – jenem Gesetz, nach dem die Bezirksämter Menschen vor unfreiwilliger Obdachlosigkeit zu schützen haben.
Gleichzeitig ist es wichtig, die Mitarbeiter*innen in den bestehenden Heimen und Unterkünften zu schulen. Denn auch für solche neuen Initiativen wie einem eigenständigen ASOG-Wohnheim speziell für Queers gibt es in Berlin kaum Gewerbeflächen. Gut ist, dass sich Projekte, die eine ehemalige Frauenförderung haben, sich inzwischen häufiger für trans und nichtbinäre Personen öffnen.
Wir haben in Berlin also ein breites Feld, auf dem auch was passiert. Nur geschieht das zu langsam. Dass die Politik das Thema jetzt erst entdeckt hat, kann leider als Beispiel dafür gelten.
Wir haben bei queerhome zwei 40-Stunden-Stellen, aber jetzt schon so viel Arbeit, dass wir noch 20 neue Leute einstellen könnten. Es gibt ein Bekenntnis der Politik, etwas zu machen. Aber noch sind das Tropfen auf heißen Steinen.
Wo wir schon bei der Politik und bei den Frauen sind: Der Sozialdienst der katholischen Frauen nimmt an den ersten Berliner "Housing First"-Projekten teil. Wäre das nicht ein Vorbild für die queere Wohnungslosenhilfe, die immer so viel mit Problemen in den Unterkünften zu kämpfen hat?
Schultz: Housing First ist ein großes Thema in dieser Stadt. Es geht hier darum, erst ein mal die Leute in Wohnraum zu bringen und die große Maschinerie eines Beratungskonzeptes nicht vorzulagern.
Der Ansatz wird immer so ein bisschen als Allheilmittel verkauft, auch von der Politik. Ich finde, dass es eine sehr interessante Herangehensweise als Beratungskonzept ist. Auf der anderen Seite stehen die klassischen – wir sagen immer: 67er-Hilfen – die es ja auch gibt und die ebenso wichtig sind.
Was heißt das, 67er-Hilfen?
Schultz: Das bezieht sich auf den §67 des zwölften Sozialgesetzbuches. Das ist eine bestimmte Rechtsform, nach der viele Projekte in Berlin arbeiten, auch große Träger wie die Caritas, Internationaler Bund, Albatros und so weiter. Der Paragraph besagt: Menschen, die von besonderen sozialen Schwierigkeiten betroffen sind, bekommen von ihrem Bezirksamt eine Beratungsmaßnahme finanziert – entweder mit Trägerwohnung oder auch ohne.
Das Ziel: Diese Schwierigkeiten langfristig abzubauen. Wohnen ist hier aber nur ein Teil. Es müssen immer noch andere Sachen hinzukommen. Es wird sehr intersektional gedacht, was ja erst ein mal gut ist: Es geht um Gesundheit, um Schulden, um Beruf.
Viele fallen hier aber einfach aus dem Raster, wie ich zuvor bereits erwähnte: Wer nicht gemeldet ist, wer keinen Aufenthaltsstatus hat, hat gar kein Anrecht auf diese Sozialleistung.
Und für viele Leute, mit denen ich in diesem 67er-Konzept auch gearbeitet habe, ist diese Beratung wirklich eine Überforderung. Man muss riesige Anträge stellen, jedes mal die Lebensgeschichte erzählen. Viele wollen das auch gar nicht.
Gerade queere Personen...?
Schultz: Genau. Housing First ist, denke ich, als weitere Möglichkeit sehr wichtig. Aber es wird auch sehr stark in der Stadt und bei der Wohnungslosenhilfe selber diskutiert. Hier gibt es glaube ich auch bei den Trägern viele Ängste.
Es gibt bei Housing First eine neue Ausschreibung über 6 Millionen Euro. Viele auch neue Träger werden sich da bewerben. Wir wiederum werden versuchen, mit denen zu kooperieren. Interessant wird dann aber: Woher sollen die Wohnungen kommen?
Die Träger, die sich auf die Projekte bewerben, sind ja selber für die Akquise zuständig, sie müssen den Wohnraum für ihre Housing-First-Angebote also selbständig auf dem Wohnungsmarkt beschaffen. Es wäre nun die Aufgabe der Verwaltung, auch die städtischen Wohnungsgesellschaften mehr in die Pflicht zu nehmen, bei Housing First mitzuarbeiten.
Gibt es spezielles Wissen zum Zusammenhang von Lesben und Obdachlosigkeit?
Schultz: Wir wissen wirklich zu wenig. Meine Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, Lesben* mit solchen Angeboten zu erreichen.
Bei queerhome ist das Verhältnis ausgeglichener als in meinen vergangenen Erfahrungen etwa beim Humanistischen Verband. Lesben* fragen vermehrt an. Aber ich würde sagen, dass es vom Verhältnis her immer noch zu wenig Lesben* sind im Vergleich zu trans und schwulen Wohnungs- und Obdachlosen. Und das, obwohl ich selber 25 Jahre in dem Bereich gearbeitet habe und weiß, wie man Ansprachen an das Zielpublikum gestaltet. Ich bin ja auch Vorstandsfrau im Lesbenring e.V.
Wir müssen uns das alles genau anschauen und wir brauchen auch Zeit für die Kooperationen, zum Beispiel mit dem LesLeFam e.V. Auf unserer Agenda steht jedenfalls, dass queerhome irgendwann auch bundesweit arbeiten soll.
Ich bin selber lesbische alleinerziehende Mutter und weiß, wie schwierig es an manchen Stellen gerade auch finanziell ist. Auch, wenn zwei Frauen zusammen wohnen: Wir kennen ja den Gender Pay Gap. Es ist dann einfach weniger Geld da. Weiblich sozialisierte Personen neigen dazu, wie vorhin schon angesprochen, eher zu spät um Hilfe zu fragen. Sie versuchen eher, irgendwelche Zwischenlösungen zu finden.
Was die genauen Zahlen angeht, sind wir eine Kooperation mit der Fachhochschule Neubrandenburg eingegangen. Die Forscher*innen wollen in dem Bereich eine kleine Studie machen. Auch in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe versuchen wir, das Thema weiter voran zu bringen.
Was uns noch wichtig ist: Wir wollen uns nicht nur auf die Politik verlassen. Wir fragen auch speziell die Community an. Wir brauchen Unterstützung von Ehrenamtlichen, von Leuten, die sich für das Thema interessieren, aber auch von privaten Vermieter*innen und Leuten, die WGs anbieten.
Uns geht es auch um Empowerment der queeren Community und nicht nur darum, darauf hinzuweisen, was fehlt. Wir wollen neue Bündnisse und Netzwerke schaffen und würden uns wirklich freuen, wenn Leute sich melden.
Ein großes Thema dabei sind auch die Randgebiete Berlins, die wir stärken wollen. Viele Queers wollen natürlich lieber im innerstädtischen Bereich wohnen, aber ich glaube, diese Zeit ist einfach vorbei. Aktivist*innen aus den Randgebieten sollen sich herzlich eingeladen fühlen, sich zu melden.
Ein Wort in eigener Sache
Hinter gutem Journalismus stecken viel Zeit und harte Arbeit – doch allein aus den Werbeeinnahmen lässt sich ein Onlineportal wie queer.de nicht finanzieren. Mit einer Spende, u.a. per
Paypal oder Überweisung, kannst Du unsere wichtige Arbeit für die LGBTI-Community sichern und stärken.
Abonnent*innen bieten wir ein werbefreies Angebot.
Jetzt queer.de unterstützen!
Noch kann ich nicht entscheiden, wie ich mit meinem Erfahrungswissen umgehen soll, denn ein nicht unerheblicher Teil davon ist, wie in dem Sektor tätige Leute, Männer zumal, aber nicht ausschließlich, die sich als links und queer etikettieren, mit ihrer Macht über wohnungslose Frauen umgehen, cis und trans, und welche Folgen das hat. Und ich befürchte nicht unbegründet, daß genau diese Leute zu dieser Initiative laufen, wenn sie nicht schon dort sind, und diesen Leuten geglaubt wird und nicht den wohnungslosen und ex-wohnungslosen Frauen, denn das ist immer so.
Was sich nämlich unter solchen Bedingungen abspielt, glauben sowieso nur diejenigen, die vergleichbare Erfahrungen selbst gemacht haben. Ich deute hier nur sehr, sehr vorsichtig an, wohlweislich.
Aber ich will doch sehen, was ich tun kann, wenn sich das so entwickelt wie oben skizziert.