Ich muss gestehen, dass ich vor dem Lesen des Sammelbands "Queere Tiere" (Amazon-Affiliate-Link ) ziemlich ahnungslos war. Ich wusste zum Beispiel nicht so recht, was denn unter den titelgebenden queeren Tieren zu verstehen ist. Der Begriff des Queeren ist ja so divers, dynamisch und widersprüchlich wie das, was er zu beschreiben versucht, und wird mitunter doch recht individuell ausgelegt.
Mir persönlich kommen dabei erst einmal menschliches Begehren und Begierden, soziale Umwälzungen, philosophische Überlegungen und bestimmte Kulturtechniken in den Sinn – an Tiere hätte ich spontan wohl nicht gedacht. Nach der Lektüre habe ich nun zumindest eine Ahnung davon, was die meisten der Mitwirkenden sich unter tierischer Queerness vorstellen, und mit vielem davon kann ich etwas anfangen. Der Weg zu Erkenntnis war allerdings manchmal etwas mühsam. Aber von vorne…
Gute Einführung in die komplexe Materie
Das Buch "Queere Tiere" ist im März 2023 im Berliner Querverlag erschienen
Wer nicht vegan lebt und sich nicht aktiv für Tierrechte einsetzt, der wird von der Herausgeberin India Kandel dankenswerterweise erst einmal in die komplexe Materie eingeführt, denn es gibt viel zu lernen in diesem über 300 Seiten starken Buch. Zum Beispiel erfährt man, warum Aktivist*innen der Tierbefreiungsbewegung den Ausdruck "tierlich" statt "tierisch" bevorzugen oder Tiere als nichtmenschliche, andere Tiere bezeichnen. Überhaupt wird anhand von Sternchen, Anführungszeichen und Fußnoten Distanz zu achtlos gebrauchten Begriffen aufgebaut und Sprache dekonstruiert. Ziel ist es, Ideologien wie Karnismus (die ethische Rechtfertigung des Verzehrs bestimmter Tierarten) oder Speziesismus (die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit) sichtbar zu machen.
Der Bezug zum Queeren ergibt sich dabei einerseits aus der historischen Verknüpfung verschiedener Emanzipationsbewegungen wie dem Feminismus, dem antikapitalistischen Sozialismus und dem Vegetarianismus sowie andererseits aus den Biografien der Mitwirkenden. Viele der Autor*innen erkennen im ausbeuterischen Umgang mit Tieren eigene Diskriminierungserfahrungen wieder oder nutzen queere Erfahrungen, um über Mensch-Tier-Beziehungen nachzudenken.
Lehrreiches und nachdenklich Stimmendes
Inhaltlich lässt sich der Sammelband als bunte Mischung bezeichnen: Es finden sie autobiografische Anekdoten, Gedichte, Illustrationen und Essays. Während mir der Comic und der Großteil der Lyrik etwas naiv und wenig erhellend vorkamen, fand sich unter den Texten immer wieder Lehrreiches und nachdenklich Stimmendes. Hannah Engelmann-Giths Ethik der Ähnlichkeit, Jeff Mannes' Theorie zu den Ursprüngen des Petplay-Fetischs oder Linus Hannes Ode an ein hilfreiches Pony gehörten für mich ebenso zu den Highlights wie Smillo Ebelings fordernde, aber lohnenswerte Aufforderung, Naturalisierungen und Dualismen im Denken zu überwinden.
Wem an dieser Stelle angesichts all der Fremdworte schon der Schädel brummt, der sei gewarnt, denn "Queere Tiere" macht es seinen Leser*innen nicht immer leicht. Wenn etwa die Kompetenz der Kompetenzlosigkeit gelobt oder Kritik an der Konsumkritik geübt wird, ist man als Leser*in gefordert, aufmerksam zu bleiben, um den vielfältigen Argumenten folgen zu können. Das ist oftmals im besten Sinne anstrengend, denn viele der Texte in dieser Sammlung begnügen sich nicht damit, dass man sie einfach abnickt und sich bestätigt fühlt. Sie wollen spürbar zum Nachdenken anregen.
Ausgangspunkt für weitere Diskussionen
Einige der zwei Dutzend Beiträge ließen mich aber auch ratlos zurück. Da wird vage von einer Welt geträumt, in der alle Lebewesen frei und keinen Herrschaftsverhältnissen unterworfen sind, da wird ein universales Wir und die Selbstbestimmung der Tiere beschworen. Wie das in der Praxis aussehen soll, bleibt dabei fraglich. Ebenso denkfaul erschienen mir manche Texte, in denen mit Begriffen wie "Eurozentrismus", "Kapitalismus" und "Kolonialismus" um sich geworfen wird, um stark generalisierende Annahmen zu treffen, die letztlich zu nicht mehr als Allgemeinplätzen führen. In diesen Momenten wirkt es, als würde "Queere Tiere" das machen, was man im Englischen so schön als "preaching to the choir" bezeichnet – es wird sich an einen Kreis von Eingeweihten gerichtet, der die Erfahrungen, Ideale und Denkweisen der Autor*innen bereits teilt.
So bleiben mir nach der Lektüre viele Fragen, zum Beispiel, in welchem Maße die Anti-Speziesisten Grenzen zwischen Pflanzen, Pilzen und Tieren ziehen. Auch das derzeitige Massenaussterben von Insekten und Reptilien wird leider nicht näher betrachtet.
Das kann man der Sammlung aber nicht vorwerfen, die sich ihrer Lücken und Widersprüche durchaus bewusst ist und sich vor allem als ein Ausgangspunkt für weitere Diskussionen versteht. Vielleicht bekehrt "Queere Tiere" niemandem zum Veganismus, aber das Buch liefert doch wichtige Denkanstöße und stellt zur Debatte, wie wir mit Tieren umgehen, wie wir über sie sprechen und was das mit uns, den menschlichen Tieren, macht.
Infos zum Buch
India Kandel (Hg.): Queere Tiere. Queere Perspektiven auf Veganismus und Mensch-Tier-Verhältnisse. 336 Seiten. Querverlag. Berlin 2023. Taschenbuch: 20 € (ISBN 978-3-89656-324-8)
Diskriminierungs-Erfahrungen haben wahrscheinlich häufig zur Folge das Betroffene empathischer mit Unterdrückten sind. Das sorgt dann für gewisse Gemeinsamkeit mit Natur- und Tierschutz, die aber eher emotional wären und nicht unbedingt weltanschaulich. Leider kann das auch ausgenutzt werden. Meine Erfahrung ist sas LGBTQ+in ihrer Hilfsbereitschaft häufig in die Selbstausbeutung gehen. Wir müssen nicht immer die besseren Menschen sein oder blind jedem glauben, der sich zum Unterdrücken erklärt. Das kann auch die AFD.
Auch: LGBTQ+ sind schon Menschen und keine andere Spezies.
Ich hab das Buch nicht gelesen, aber "preaching to the choir" kann ich generell gut nachvollziehen... Manchmal werden einfach nur Schlagworte wiederholt. Gefühlt geht es dann darum an eine Zielgruppe verkaufen und diese zu vereinnahmen, statt irgendwen tatsächlich zu überzeugen.
Aber hier scheint hier ja zum großen Teil um echte Denkanstöße zu gehen.