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Ausstellung und Katalog
Wie hätte ich mich im Nationalsozialismus verhalten?
Die wegweisende Ausstellung "To Be Seen. Queer Lives 1900-1950" im NS-Dokumentationszentrum München widmet sich einer spezifisch queeren Gedenkkultur – und trifft in jeder Hinsicht den richtigen Ton.

Ein Foto aus der Ausstellung, aufgenommen unter dem Titel "Transvestiten vor dem Eingang des Instituts für Sexualwissenschaft" anlässlich der Ersten Internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin, 1921 (Bild: bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer)
26. März 2023, 07:08h 8 Min. Von
Um die NS-Erinnerungskultur im Zusammenhang mit Menschen, die damals der Heteronorm nicht entsprachen, ist es angeblich nicht so gut bestellt. Das behauptet der Historiker und Soziologe Alexander Zinn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Fritz-Bauer-Institut. In einem Interview mit der Tageszeitung "Welt" vom 24. Januar (Bezahlartikel) beklagt er, "identitätspolitische Ansprüche" überlagerten die quellengestützte Forschung. Man neige dazu, "die Geschichte zu verbiegen, um des Prestiges habhaft zu werden, das mit der Zugehörigkeit zu einer Verfolgtengruppe einhergeht". Das habe zur Folge, dass "NS-Opfer als Helden oder Märtyrer" stilisiert und zu diesem Zweck Lebensläufe geglättet würden. Zudem stört sich Zinn an der Verwendung des Wortes "queer": "Aus historischer Perspektive ist das Quatsch", der Begriff sei damals noch nicht bekannt gewesen und damit zu undifferenziert.
Was und wen genau Zinn mit seinen Behauptungen meint, bleibt nebulös. Das Kuratorium der Ausstellung "To be seen. Queer Lives 1900 -1950" im Münchner NS-Dokumentationszentrum muss sich davon jedenfalls nicht angesprochen fühlen, auch wenn die Schau zum Zeitpunkt des Interviews längst eröffnet war und den von Zinn kritisierten Begriff "queer" im Ausstellungstitel verwendet.
In der Ausstellung dient "queer" nämlich nicht zur Vereinheitlichung, Vereinfachung oder gar Umdeutung historischer Sachverhalte, sondern als Oberbegriff, um eine Bandbreite unterschiedlicher Lebensentwürfe vor, während und nach der NS-Herrschaft unter die Lupe zu nehmen. Das Konzept zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es sich dem Thema differenziert annähert und eine Vielfalt von Biografien und Identitäten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nebeneinanderstellt (einige historische Fotografien aus der Ausstellung zeigen wir in der unten verlinkten Galerie).
Persönliche Geschichten von Unterdrückung und Verfolgung
Von einer Heroisierung oder märtyrerhaften Stilisierung kann nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil. Auch wenn es zweifellos Persönlichkeiten gab, die sich während der NS-Zeit durch couragiertes Handeln auszeichneten. Zu ihnen zählt Leopold Obermayer, ein in Würzburg lebender jüdischer Rechtsanwalt mit Schweizer Pass, der sich öffentlich als schwul outet. Er zeigt sich selbst an, ein Vergehen nach § 175 begangen zu haben, um ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen – nachdem er bereits 1934 in Gestapo-Haft gebracht und dort schwer misshandelt wurde. Sein juristischer Kampf ist mutig, bleibt aber folgenlos.
Das Schicksal des Würzburgers ist eines von vielen, die in der Schau erzählt werden, häufig im Kontext von Unterdrückung und Verfolgung, fast immer mit dazugehörigen Fotografien und Dokumenten – wie in diesem Fall die handschriftlich verfasste Selbstanzeige Obermayers. Auch die berüchtigten Rosa Listen mit Namens- und Adressverzeichnissen schwuler Männer gehören dazu, die von Behörden bereits seit 1871 geführt wurden, oder Polizeiberichte von Razzien. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurden mehr als 50.000 Männer verurteilt, zwischen 10.000 und 15.000 wurden in Konzentrationslagern interniert. Tausende von ihnen überlebten die Gefangenschaft nicht.
Auch mit Frauen verheiratete homo- oder bisexuelle Männer, die sich in einer Ehe sicher wähnten, sind Teil der Ausstellung. Dokumentiert ist der Fall des NSDAP-Mitglieds Franz Müller, der 1937 als verheirateter Familienvater wegen Verstoßes gegen Paragraf 175 zu zehn Monaten Haft verurteilt wird. Seine Frau Clara, deren Eltern sie zur Scheidung drängen, hält zu ihrem Mann und konsultiert nach der Verhaftung Ärzte und Juristen. In der Ausstellung findet sich ein Bogen Papier mit handschriftlich notierten Fragen der Ehefrau an einen Arzt nebst dessen Antworten. "Besteht irgendwelche Gefahr für die Kinder bei Fortsetzung der Ehe?" "Er würde eine Ehe nur weiter führen nach Sterilisation des Mannes."
Verfolgung von Lesben und trans Menschen

Der Katalog zur Ausstellung erscheint am 1. April 2023 im Hirmer Verlag
Erschütternd ist die Geschichte der Polizeirätin Martha Mosse, die als Jüdin 1933 ihre Anstellung im preußischen Staatsdienst verliert. 1943 wird sie ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach ihrer Befreiung 1945 kehrt sie zu ihrer nicht jüdischen Lebensgefährtin Erna Stock zurück, die sie vor ihrer Verhaftung während des Studiums kennengelernt hatte. Mosses Biografie zeigt – darauf weist der Ausstellungstext ausdrücklich hin – dass Lesben vor allem dann verfolgt wurden, wenn weitere NS-Verfolgungskriterien erfüllt waren.
Dass Lesbischsein dennoch ein tödliches Kriterium sein konnte, erschließt sich durch den Fall der Hamburgerin Mary Pünjers. Der SS-Arzt Friedrich Mennecke, zuständig für die Selektion der KZ-Häftlinge zur Ermordung in Tötungsanstalten, brachte folgende Notiz auf der Rückseite ihres 1940 im KZ Ravensbrück angefertigten Fotos an: "Verheiratete Volljüdin. Sehr aktive ("kesse") Lesbierin. Suchte fortgesetzt 'lesbische Lokale' auf und tauschte im Lokal Zärtlichkeiten aus."
Weil er Frauenkleider trägt, wird der Buchhändler Fritz Kitzing 1933 verhaftet. Im Jahr darauf gelingt ihm die Flucht nach Großbritannien, doch dort liefert man ihn nach Deutschland aus. 1936 wird er erneut angeklagt, als "Transvestit" unterwegs gewesen zu sein. In der Polizeiakte wird er als "Transvestiten schlimmster Art" bezeichnet. Es folgt eine KZ-Haft, aus der er 1937 freikommt. 1938 wird er der Gestapo übergeben, weil er einem Freund in Großbritannien von seinen Erlebnissen berichtet hat. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Liddy Bacroff bezeichnet sich selbst als "homosexuellen Transvestiten", lebt von Sexarbeit und wird mehrfach wegen "Unzucht" verurteilt. Sie wird 1938 zu drei Jahren Zuchthaus und Sicherungsverwahrung verurteilt und schließlich 1943 im KZ Mauthausen ermordet. Liddy Bacroff, so der Ausstellungstext, steht für das selbstbestimmte Leben als trans Person, das im NS-Regime nicht akzeptiert wurde.
Über Alexander (Bella) Pree heißt es in der Ausstellung: "Sie selbst fühlt sich als Frau. Ihr Pass weist sie als männlich aus. Sie wird in Österreich 1936 und 1942 wegen Verstoßes gegen Paragraf 129Ib, den österreichischen Homosexuellen-Paragrafen, verurteilt, in mehreren KZ interniert und 1942/43 im KZ Natzweiler kastriert. 1950 erfolgt eine erneute Anklage nach Paragraf 129Ib. Doch diesmal bleibt ihr die Verurteilung erspart, weil ein Gutachten sie als inter* Person anerkennt."
Auch queere Menschen wurden mitschuldig
Doch nicht nur Biografien im Kontext von Verfolgung und Inhaftierung werden im NS-Dokumentationszentrum gezeigt. Daneben gab es jene, die untertauchten, ins Exil flüchteten, sich mit den Umständen arrangierten oder mitschuldig wurden – in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen.
Gustaf Gründgens etwa biedert sich für seine Karriere als Schauspieler und Regisseur an das NS-Regime an, Hermann Göring ernennt ihn trotz seines Schwulseins zum Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters. Klaus Mann kritisiert ihn dafür in seinem Roman Mephisto. Die Hauptfigur ähnelt Gründgens so stark, dass dieser nach 1945 vor dem Gericht eine Neuauflage verhindern kann.

Die Ausstellung ist bei freiem Eintritt noch bis zum 21. Mai 2023 im NS-Dokumentationszentrum München zu sehen (Bild: Axel Krämer)
Die Schaffnerin Anneliese Kohlmann wird 1944 Aufseherin im KZ Neuengamme, wo sie ihre Machtstellung dazu nutzt, mit einer inhaftierten tschechischen Jüdin sexuellen Kontakt aufzunehmen. 1946 kommt sie für ihre Tätigkeit als KZ-Aufseherin vor Gericht und wird zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Und dann gibt es den Fall des Nazi-Schurken Ernst Röhm, dessen Schwulsein von den Sozialdemokraten vor der Reichstagswahl 1932 instrumentalisiert wird. Obwohl sich die SPD grundsätzlich für homosexuelle Emanzipation einsetzt, sieht sie im Outing Röhms eine willkommene Gelegenheit, um die in der Bevölkerung weit verbreitete Homophobie gegen die Nazis auszuspielen. Die Folgen sind verheerend, die NS-Machtelite fühlt sich in ihrem Vernichtungsfeldzug gegen Homosexualität noch mehr angestachelt.
Die emotionale Wucht hinter der Präsentation von Fakten
Es ist das Verdienst der Ausstellung, dass sie komplexe Zusammenhänge aufzeigt und vor allem Fragen stellt, anstatt Antworten zu liefern. Das Publikum – gleich welcher sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität – wird letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Wie hätte ich mich in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten? Nach welchem moralischen Kompass hätte ich gehandelt? "To Be Seen" lädt zu solchen Selbstbefragungen ein, ohne jemals den Zeigefinger zu heben oder zu moralisieren. Umso mehr trifft die emotionale Wucht, die sich hinter der Präsentation von Fakten verbirgt.
Zusätzlich zu den übersichtlich und pointiert verfassten Ausstellungstexten sowie zahlreichen Abbildungen von Exponaten wartet der vom Münchner Hirmer Verlag zusammengestellte Katalog mit zehn fachlich fundierten Begleittexten auf, die sich mit Gender und Sexualität auseinandersetzen: sehr spannend etwa ein Aufsatz über den Röhm-Kult des schwulen Schriftstellers Yukio Mishima, der weltweit als einer der wichtigsten Nachkriegsautoren Japans bekannt ist. Der Kunsthistoriker Gürsoy Doğtaş entlarvt dessen Faszination für den Faschismus und zieht Parallelen zur heutigen Zeit, wenn "maskulinistische Schwule" versuchen, progressive Anliegen queerer Gruppen zu torpedieren.
Und weil der Nationalsozialismus kein isolierter Abschnitt in der Historie ist und über eine Vor- wie auch eine Nachgeschichte verfügt, taucht man sowohl im Ausstellungsparcours als auch im dazugehörigen Katalog tief in das ein, "was war, bevor das NS-Regime es zerstörte", wie es im Einführungstext heißt. Davor gab es einen Kampf von Homosexuellen sowie vereinzelt auch von trans Personen für gleiche Rechte und Akzeptanz, es blühte eine Subkultur mit Bars, Vereinen und Zeitschriften, zudem kursierte damals schon eine Vielfalt queerer Selbstbezeichnungen. Gleichwohl entstanden unter den Schriftstellern Adolf Brand und Hans Blüher reaktionäre Strömungen innerhalb der Bewegung, die auf ausgrenzenden Ideen einer elitären Männerkultur beruhten – feindselig nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch gegenüber Männern, die ihnen nicht "männlich" genug waren. Dabei gab es mit den Nationalsozialisten zumindest zeitweise Gemeinsamkeiten.
Die historischen Zeugnisse werden durch queere künstlerische Positionen von der Weimarer Zeit bis in die Gegenwart ergänzt. Wo manifestiert sich bis heute das Trauma der NS-Zeit? Wo wirken immer noch Tendenzen des Verdrängens? "To Be Seen. Queer Lives 1900-1950" widmet sich einer spezifisch queeren Gedenkkultur- und trifft in jeder Hinsicht den richtigen Ton.

Links zum Thema:
» Mehr Infos zur Ausstellung auf der Homepage des NS-Dokumentationszentrums München
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Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
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Das darf nie vergessen werden.
Nie wieder 1933!
Der mörderische NSU hat schon wieder gereicht.
Wichtig ist, wie wir uns heute verhalten, auch mit der Wahl einer Partei. Da fängt es an!
Eine Partei, die den Zweiten Weltkrieg beim Massenmörder Hitler als Vogelschiss verharmlost und damit Neonazis bedient, ist für mich UNWÄHLBAR.
Dazu passend als Hetzpartei gegen queere Menschen. Genau wie beim Adolf!
Homosexuelle kamen in die KZ und wurden mit dem Gift Zyklon B vergast/ermordet.
Kein Schwuler, kein Transmensch sollte eine braune Partei wählen.
Die AfD ist die neue Altpartei NPD, keinen Deut besser!
Der rechtsextreme Höcke war früher bei der braunen NPD und bei ihren Aufmärschen dabei (im Netz gibt es noch heute Bilder).
Und nun kommt das Positive.
Das demokratische Deutschland hat in der Vergangenheit alles richtig gemacht, gut gemacht für den Frieden!
Nach dem scheußlichen Adolf-Krieg hatten die Leute genug - und es hieß "Nie wieder Krieg".
Das hat Deutschland umgesetzt.
Seit 77 Jahren gab hier keinen Krieg mehr!
Ein gute politische Leistung: Frieden statt Bomben.
Das bleibt auch so.
Von Deutschland geht kein Krieg mehr aus wie damals - Zwei Weltkriege.
==> Hier wird demokratisch gewählt: Kein Politiker hat das Recht einen Krieg zu befehlen.
Und will auch keinen Krieg - so unverschämt wie ein Diktator.
DAS ist heute Putin, der Kriegsverbrecher!