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Interview

"Mir war es wirklich wichtig, einen jungen Schwulen heute zu porträtieren"

Wir sprachen mit Regisseur Christophe Honoré über seinen persönlichen Film "Der Gymnasiast", der jetzt im Kino läuft, die Unterschiede zur eigenen Biografie und das große Talent von Hauptdarsteller Paul Kircher.


Szene aus "Der Gymnasiast": Durch einen tragischen Unfall verliert der 17-jährige Lucas (Paul Kircher) seinen Vater – ebenso wie Regisseur Christophe Honoré im wahren Leben (Bild: Salzgeber)

Schon lange gehört Christophe Honoré, der seine Karriere als Journalist und Schriftsteller begann, zu den spannendsten und vielseitigsten Regisseur*innen des französischen Kinos. Nicht immer, aber immer wieder widmet sich der schwule Filmemacher dabei queeren Themen und Protagonist*innen, etwa in der Inzest-Geschichte "Meine Mutter" mit Isabelle Huppert und Louis Garrel, dem Musical "Chanson der Liebe" oder "Mann im Bad – Tagebuch einer schwulen Liebe" mit Porno-Ikone François Sagat. Regelmäßig dient ihm auch das eigene Leben als Inspiration, etwa beim Liebesdrama "Sorry Angel", in dem sich ein HIV-positiver Schriftsteller in den 1990er Jahren in einen Studenten aus der Bretagne verliebt, der nicht von ungefähr an Honoré erinnert.

Mit seinem neuen Film "Der Gymnasiast", der aktuell auf deutschen Leinwänden zu sehen ist, widmet sich der Franzose erneut einem sehr persönlichen Thema, wie er uns im Interview verriet.


Christophe Honoré

Monsieur Honoré, Ihr neuer Film "Der Gymnasiast" ist ein sehr persönlicher, denn genau wie Ihr Protagonist haben auch Sie als Jugendlicher Ihren Vater durch einen Autounfall verloren. Eigentlich wollten Sie über diese Erfahrung nie einen Film drehen. Warum Sie es nun doch getan?

Nach meinem vorangegangenen Film "Zimmer 212 – In einer magischen Nacht" befand ich mich emotional in einem ziemlich verletzlichen Zustand. Ich habe damals ziemlich viele depressive Phasen durchgemacht, und dass ich mich so schwach und angreifbar fühlte, beeinflusste unmittelbar die Stoffe, mit denen ich mich auseinandersetzte. Das Theaterstück "Le Ciel de Nantes" zum Beispiel, das ich 2021 inszenierte, war auch schon sehr autobiografisch inspiriert. Von dort führte der Weg mehr oder weniger direkt zur Geschichte von "Der Gymnasiast". Und es half dabei sehr, dass ich einen Weg fand, meine persönlichen Emotionen und Erfahrungen von damals zu übertragen in einen Plot, der heute spielt und sich mit einem Jugendlichen im Hier und Jetzt beschäftigt. Das gab mir den nötigen Abstand – und eine gewisse Freiheit im Erzählen.

Fanden Sie es trotzdem schwierig, sich noch einmal mit diesem Abschnitt Ihrer Biografie auseinanderzusetzen?

Es war schon mehr als seltsam, mit Juliette Binoche mehr oder weniger den Moment zu rekreieren, in dem meine Mutter mir damals sagte, dass mein Vater tot ist. Es gab während des Drehs einige solcher Momente, wo die Überschneidung zwischen den Szenen und meinen Erinnerungen ziemlich groß waren, und natürlich wäre es seltsam, wenn mich das nicht berührt hätte. Aber ich habe es schon oft erlebt, selbst früher bei "Chanson der Liebe", dass Dreharbeiten immer dann etwas sehr Besonderes werden, wenn ich sehr persönliche Geschichten erzähle. Dadurch, dass eigentlich alle Beteiligten wissen, dass wir aus meinem eigenen Leben erzählen, sind sie enorm umsichtig und rücksichtsvoll. Das macht die Auseinandersetzung damit vielleicht nicht zu einem Kinderspiel, aber doch zu einer sehr zarten, liebevollen Situation. Was nun trotzdem nicht heißt, dass "Der Gymnasiast" ein Film ist, denn ich mir ohne weiteres noch einmal ansehen möchte. Schon aus der Angst heraus, dass diese fiktionalisierten Szenen meine privaten Erinnerungen überdecken könnten.

Sie sprachen eben von der Distanz, die Sie zu eigenen Erfahrungen schaffen wollten. Deswegen spielt "Der Gymnasiast" nicht in den 1980er Jahren, sondern heute, und auch ihre Heimat, die Bretagne, ist im Film nicht zu sehen. Wie fanden Sie das richtige Maß zwischen Fiktion und Realität?

Das, worauf es wirklich ankommt, wenn man eine Art Remake seines eigenen Lebens dreht, ist die Authentizität der Emotionen. Alles andere ist eher zweitrangig. Den Kontext – also das Drumherum – möglichst exakt wieder aufleben zu lassen, wäre eine eher langweilige Fingerübung, die mich nicht interessiert. Deswegen habe ich die Familie im Film bewusst nicht auf dem Land in der Bretagne, sondern in den Bergen angesiedelt. Und deswegen sieht Paul Kircher in der Rolle des Lucas auch anders aus als ich als Teenager. Stattdessen war es wichtig einzufangen, was Lucas spürt. Dieser Zustand des Jungseins, dieses Gefühl, dass nichts passiert, obwohl der Hunger danach riesig ist, diese Momente zwischen Langeweile und Lebenslust, Kummer und Wut – all das musste stimmen. Und mir war es eben auch wirklich wichtig, einen jungen Schwulen heute zu porträtieren.


Poster zum Film: "Der Gymnasiast" läuft seit 30. März 2023 im Kino

Dessen Lebenssituation sich sicherlich von Ihrer damals im gleichen Alter unterscheiden dürfte…

Eben! Schwul zu sein bedeutete für mich damals, dass Aids das größte Thema überhaupt war. Da gab es eine Kluft zwischen meinem Begehren und der Alltagsrealität. Doch davon zu erzählen hatte ich in diesem Fall keine Lust. Ich fand es viel spannender, einen jungen Schwulen in den Fokus zu nehmen, der sich sehr frei durchs Leben bewegt und mit viel Selbstverständlichkeit seine Sexualität auslebt. Damit kann er viel besser umgehen als mit seiner Trauer oder mit seinen Gefühlen gegenüber seiner Mutter und seinem Bruder. Es ist beileibe nicht so, dass Lucas' Leben frei von Scham wäre, im Gegenteil. Aber diese Scham hat eben rein gar nichts mit seiner Homosexualität zu tun.

Ist Ihnen diese neue Generation queerer Menschen manchmal fremd?

Das nicht, dazu habe ich zu viele Berührungspunkte mit ihnen. Ich treffe junge Menschen auf Filmfestivals oder wenn sie in meine Theaterstücke kommen. Viele melden sich auch über Instagram bei mir, weil sie Schriftsteller*­innen oder Filmemacher*­innen werden wollen. Außerdem gibt es im Freundeskreis meiner Tochter natürlich jede Menge queerer Teenager. Die Selbstsicherheit, aber auch das Spielerische, was die meisten von ihnen in Bezug auf Sexualität und Identität haben, finde ich sehr spannend. Natürlich weiß ich, dass es auch heute noch Homophobie gibt. Aber in vielerlei Hinsicht finde ich mit Blick auf diese junge Generation schon spannend, wie vieles sich verändert hat.

Spielt Sex heute eine größere Rolle als damals?

Nein, das glaube ich nicht. In meiner Jugend war nichts wichtiger als Sinnlichkeit und Sex. Bei uns auf dem Land, an unserem kleinen Gymnasium war wirklich nicht viel los für Teenager. Aber mit jemanden knutschen, fummeln, Sex haben, das war immer drin. Ob mit Mädchen oder, eben mit etwas mehr Geheimniskrämerei, mit Jungs. Deswegen habe ich mich immer schon an Teenie-Komödien und Coming-of-Age-Filmen gestört, in denen sich am Ende eigentlich alles darum dreht, dass jemand seine Jungfräulichkeit verliert und damit das Erwachsenwerden beginnt. So als würde die Jugend mit dem Tag enden, an dem man das erste Mal Sex hat. Was für ein Quatsch. Dieser Gedanke, dass Sex mit irgendeiner Form Verlust gleichgesetzt wird, ist ein merkwürdig spießiger, der mir sehr fremd und letztlich weltfremd erscheint.

Noch eine letzte Frage zu Ihrem bereits erwähnten Hauptdarsteller Paul Kircher. Wonach haben Sie in all den jungen Männern gesucht, die für die Rolle Ihres Alter Egos vorgesprochen haben?

Wie schon gesagt, ging es mir kein bisschen um Ähnlichkeit, denn es ging darum, Lucas zu spielen, nicht mich. Das Wichtigste war für mich einfach, dass ich jemanden finde, der ein verdammt guter Schauspieler ist. Und das ist unter 17- und 18-Jährigen alles andere als einfach, wenn man mal ehrlich ist. Die wenigsten sind vor der Kamera Naturtalente, sondern sind zu steif, zu künstlich, zu theatralisch, zu zurückhaltend, zu romantisierend, zu unreif oder sonst irgendwas. Aber bei Paul erkannte ich schon beim Casting nicht nur eine große Authentizität, sondern auch eine enorme Präzision. Selbst wenn er nicht auf Anhieb in eine Emotion hineinfand, wusste er instinktiv, was er machen muss, um doch noch an den richtigen Punkt zu gelangen. Er hat die Fähigkeit, unglaublich konzentriert in seiner Rolle zu sein, ohne dadurch je die Leichtigkeit zu verlieren. Das hat mich, aber auch seine Filmmutter Juliette Binoche sehr beeindruckt. Denn so etwas zeichnet Ausnahmeschauspieler aus.

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Infos zum Film

Der Gymnasiast. Drama. Frankreich 2022. Regie: Christophe Honoré. Cast: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette Binoche, Erwan Kepoa Falé, Adrien Casse, Pascal Cervo, Christophe Honoré, Anne Kessler de la Comédie-Française, Elliot Jenicot. Laufzeit: 122 Minuten. Sprache: französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. FSK 16. Verleih: Salzgeber. Kinostart: 30. März 2023
Galerie:
Der Gymnasiast
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