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Sergej Eisenstein
"Panzerkreuzer Potemkin": Ein Klassiker der homoerotischen Sublimierung
Sergej Eisensteins schwulem Begehren kommt in seinem Schaffen eine Schlüsselrolle zu. In den letzten Jahren wird der Zusammenhang immer klarer erkennbar – nur nicht in Russland.

Ausschnitt aus dem Plakat für Eisensteins Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin"
2. April 2023, 03:40h 8 Min. Von
Queerfeindlichkeit ist in Russland Teil der Staatsdoktrin. Was nicht der Heteronorm entspricht, wird unsichtbar gemacht. Zu dieser perfiden Strategie gehört es, die gleichgeschlechtliche Orientierung prominenter Figuren aus der Kulturgeschichte zu leugnen. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um einen Nationalhelden wie den Filmemacher Sergej Eisenstein handelt.
Umso mehr muss man dem britischen Regisseur Peter Greenaway mit seiner Entscheidung Respekt zollen, in seinem Film "Eisenstein in Guanajuato" die Geschichte von der Mexikoreise des russischen Regisseurs im Jahr 1931 zu erzählen. Auf diesem Trip hatte sich nämlich zwischen Eisenstein und seinem Fremdenführer Jorge Palomino y Cañedo eine leidenschaftliche Affäre entwickelt. Greenaways hat daraus ein mutiges, warmherziges und unverklemmtes Werk geschaffen, dem es visuell und dialogisch an Eindeutigkeit nicht mangelt.
Wie zu erwarten war, reagierte man in Russland erbost. Schon als "Eisenstein in Guanajuato" 2015 als Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale Premiere feierte, zeichnete sich ab, dass nicht nur einzelne Szenen, sondern der gesamte Film der russischen Zensur zum Opfer fallen würde. Erst anderthalb Jahre zuvor war von der Staatsduma das Gesetz gegen die "Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen" erlassen und damit die Situation für queere Menschen verschärft worden.
Homophobie in Russland vom Westen unterschätzt

Eisenstein in Mexiko, 1931
Im Rückblick überrascht vor allem, wie sehr bis dahin die grassierende Homophobie in der russischen Gesellschaft vom Westen unterschätzt wurde. Allein die Aussagen von Femke Wolting offenbarten, wie tief die Vorurteile nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung, sondern auch in der Kulturszene wurzeln. Die niederländische Produzentin von "Eisenstein in Guanajuato" verriet gegenüber der britischen Tageszeitung "The Independent", man habe während der Vorbereitungen des Films versucht, russische Kulturschaffende auf verschiedenste Weise einzubeziehen – und sei damit auf eine Mauer der Abwehr und der Angst gestoßen. Selbst bei denjenigen, die das Projekt zunächst unterstützen wollten. "Wir haben Castings mit russischen Schauspielern für die Hauptrolle gemacht. Wir haben versucht, einen russischen Verleih und eine russische Produktionsfirma an Bord zu holen, aber alles war unmöglich, weil der Film offen zeigte, dass Eisenstein schwul war." Alle Beteiligten fürchteten, sie würden sich ins gesellschaftliche Abseits befördern.
Auch bei jenen, die Eisensteins Schwulsein gar nicht leugneten, war das Misstrauen groß. Die russische Arthouse-Verleiherin und Leiterin der Agentur Intercinema Raisa Fomina räumte zwar ein, dass Homophobie in Russland ein gravierendes Problem ist, äußerte dennoch grundlegende Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Greenaways Filmprojekt. Während der Debatte auf dem Berliner Fimfestival empörte sie sich: "Es ist doch egal, dass Eisenstein schwul war. Das ist zweitrangig." Es sei ein offenes Geheimnis gewesen, alle wussten es, auch wenn Eisenstein selbst nie über seine Sexualität gesprochen habe. Auf seine Arbeit, so Fomina, hätte sich dessen Begehren jedoch nicht ausgewirkt – eine Vorstellung, die einem weltweit verbreiteten Klischee entspricht. Zumindest, wenn es das Verhältnis zwischen Sexualität und Kunst von nicht heterosexuellen Kunstschaffenden betrifft.
Eisensteins homoerotischen Zeichnungen
Greenaway konterte und verwies unter anderem auf die zahlreichen erotischen Zeichnungen und Skizzen Eisensteins, die in Folge von dessen Mexiko-Reise entstanden. Offenbar zeichnete Eisenstein ohne Unterlass: auf Zetteln, Hotelbriefpapier, Drucksachen, was immer er in die Hände bekam. Das meiste davon pflegte er sofort wegzuwerfen oder zu verschenken, kaum dass er es angefertigt hatte. Der Filmwissenschaftler James Leo Cahill nannte die kunstvollen Kritzeleien "Eisensteins produktivster Schauplatz künstlerischen Schaffens". Einige der ab 1931 entstandenen Werke wurde in der New Yorker Galerie Alexander Gray Associates im Jahr 2017 ausgestellt. Sie spiegeln eine Seite des bis dahin ausschließlich als Filmemacher wahrgenommenen Künstlers wider, die zuvor kaum Beachtung erhielt.

Collage aus homoerotischen Zeichnungen Eisensteins
Die Illustrationen haben es in sich. Angesichts der Tatsache, dass der Regisseur nie über Sexualität gesprochen oder sie unmittelbar in seinen Filmen thematisiert hat, erstaunt es umso mehr, mit welcher Wucht und Ausdrucksstärke Eisensteins Begehren auf den Bildern seinen Weg findet. Die Anzahl der Zeichnungen, die der Nachwelt erhalten blieben und sexuelle Darstellungen zeigen, beläuft sich auf etwa 500, darunter viele explizit gleichgeschlechtliche Motive – wie etwa eine fantasierte intime Szene zwischen den französischen Dichtern Arthur Rimbaud und Paul Verlaine.
Fasziniert vom erigierten Penis
Auf einigen Bildern fällt unmittelbar ins Auge, wie sehr Eisenstein vom männlichen Körper fasziniert war. Vor allem vom erigierten Penis, den er zeichnerisch überhöhte: mit viel Humor, libidinöser Energie und Lust an der Provokation. Darüber hinaus hatte er einen spezifischen Blick für Phallussymbolik. Allein seine Mexikoreise inspirierte ihn zu vielerlei Phalluskarikaturen, die er aus einer Bandbreite unterschiedlichster Motive ableitete: von der Pike des Stierkämpfers über den Turm der Bischofskirche bis zur Pyramidenspitze.
So gesehen erscheint Eisensteins filmisches Gesamtwerk rückwirkend in einem ganz anderen Licht. Der US-amerikanische Filmkritiker David Ehrenstein ließ sich einmal zu der Bemerkung hinreißen, "dass der einzig interessante Aspekt in Eisensteins Arbeit seine ausgeprägte Homoerotik ist – ohne sie wäre er nur ein weiterer Propagandist für Stalin." Ehrenstein bezog sich in seiner zugespitzten Aussage auf den als Hauptwerk gehandelten Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin", den Eisenstein lange vor seiner Mexikoreise abgedreht hatte. Vordergründig wird im Potemkin der Ursprungsmythos der Russischen Revolution thematisiert: die Meuterei der Besatzung eines russischen Kriegsschiffs gegen ihre zaristischen Offiziere. Die Uraufführung des Films fand 1925 im nur zur Hälfte gefüllten Moskauer Bolschoi-Theater statt, doch nach und nach mutierte er zum nationalen Kulturheiligtum. Heute spielt er im kollektiven russischen Bewusstsein eine bedeutende Rolle.

Filmstill aus "Panzerkreuzer Potemkin"
Jenseits des Propagandistischen zählt "Panzerkreuzer Potemkin" auch in internationalen Fachkreisen zu den besten und vor allem einflussreichsten Filmen aller Zeiten, unter anderem der raffinierten Montage und des Rhythmus der Schnitttechnik wegen. Selbst die "Bundeszentrale für politische Bildung" hat ihn 2003 in ihren Filmkanon aufgenommen. Von unterschwelliger oder gar offener Homoerotik findet sich in der offiziellen Begründung freilich kein Wort.
Halbnackte Männer statt Hetero-Liebe
Dabei hatte der im Exil lebende kubanische Kameramann Nestor Almendros bereits in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass Eisensteins Potemkinfilm auch deswegen revolutionär sei, weil er sich in seiner Struktur dem konventionellen bürgerlichen Drama mit der obligatorischen "Mann-Frau-Liebesgeschichte" verweigert. Von der Ästhetik des Films ganz zu schweigen – wenn etwa gleich zu Beginn des Films im Schlafsaal der Matrosen ein Labyrinth aus Hängematten zu sehen ist, in denen sich halbnackte Männer räkeln. "In einer Reihe von Einstellungen, die Robert Mapplethorpe antizipieren, verharrt die Kamera auf den rohen, hervorragend gebauten Männerkörpern", so Almendros. Zudem ist der Anführer der Revolte "ohne wirklichen Grund nackt bis zur Taille und lässt seinen breiten Oberkörper aufblitzen", während er das Signal zum Aufstand gibt. Kurze Zeit später erreicht die Revolte der Matrosen das, was Eisenstein eine kollektive Ekstase nannte. "Im großen Augenblick, wenn die Kanonen sich aufrichten, um zu feuern, kann man leicht ein visuelles Ballet aus langsamen und pulsierenden Erektionen erkennen."
Der südafrikanische Filmhistoriker Ronald Bergan griff die Debatte in einem Artikel für das Onlinemagazin TheArtsDeck im Jahr 2011 erneut auf. "Der 'Panzerkreuzer Potemkin' hat sein Coming-out'", lautete der Titel des Beitrags ("The Battleship Potemkin Comes Out of the Closet"). Anlässlich der Uraufführung einer restaurierten Neufassung wunderte sich Bergan, dass die mehr oder weniger unterschwellige Homoerotik in "Panzerkreuzer Potemkin" während Stalins Herrschaft offenbar übersehen wurde und von der Zensur verschont blieb – für das aufgeklärte Publikum von heute sei sie jedenfalls klar erkennbar.
Homoerotisches Begehren auch in anderen Filmen
Inzwischen wird auch am Beispiel von anderen Filmen erörtert, wie sich Eisensteins Begehren künstlerisch bemerkbar machte – etwa in den Martyrien der entblößten mexikanischen Landarbeiter in seinem unvollendet gebliebenen Film "Que viva Mexico!", in der orgiastisch spritzenden Milchzentrifuge in "Die Generallinie" oder auch in seinem letzten Werk "Iwan der Schreckliche", in dem sich der Protagonist mit jungen, hübschen, äußerst androgynen Männern umgibt, von denen einer einen legendären dionysischen Tanz aufführt.

Filmstill aus "Que viva Mexico!"
Bei all diesen Ausführungen – und auch in Greenaways Film – wird weitgehend übersehen, dass der 1898 in Riga (damals Teil des russischen Kaiserreichs) geborene Eisenstein bis zu seinem frühen Tod 1948 niemals wirklich eine bejahende Einstellung zu seinem Schwulsein gefunden hat. Dazu konnte ihm weder seine Reise nach Mexiko verhelfen noch der vorherige Aufenthalt in Berlin. In der deutschen Hauptstadt kehrte er täglich im Schöneberger Eldorado in der Motzstraße ein, dem damals bekanntesten queeren Lokal der Stadt. Auch zu Magnus Hirschfeld nahm er Kontakt auf und besuchte das Sexualwissenschaftliche Institut. Doch alles, was er davon mitnahm, war die Erkenntnis, "dass die Homosexualität in jeder Hinsicht ein Rückschritt ist – eine Rückkehr zum Zustand vor der Zellteilung, vor der Fortpflanzung. Sie ist eine Sackgasse." Das vertraute er später seiner Biografin Marie Seton an. 1934 heiratete er die Journalistin und Filmkritikerin Pera Ataschewa. Sich selbst bezichtigte er auch danach immer wieder der Neigung zur "Dekadenz", entsprechend dem unter Linken kursierenden Klischee, das Homosexualität als dekadenten Auswuchs der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnete.

Umgeben von androgynen hübschen Männern: Filmstill aus "Iwan der Schreckliche"
Offenbar war im stalinistischen Russland das Gift der homophoben Propaganda auch in Eisensteins Bewusstsein tief vorgedrungen. Er bezahlte einen schmerzhaft hohen Preis dafür, dass sich sein Begehren umso mehr Ausdruck in der Kunst verschaffen konnte. Vielleicht blieb ihm angesichts der feindseligen Umstände ohnehin nichts anderes übrig; in seinem Heimatland sah er keine andere Möglichkeit, sich selbst zu entfalten. "Er opferte sein persönliches Glück, um es in schöpferischen Visionen zu sublimieren" – so brachte es der französische Essayist Dominique Fernandez auf den Punkt.
Aus diesem Grund muss Eisensteins Gesamtwerk nicht nur als ein Meilenstein in der Entwicklung der Filmgeschichte bewertet werden, sondern auch als ein wichtiges Zeugnis des queeren Kulturerbes.

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03:55h, Sat.1 Gold:
Richter Alexander Hold
Folge 1505: Abseits – Oliver, Fußballspieler des FC Geberlingen, ist angeklagt, die Frau seines größten Konkurrenten im Verein umgebracht zu haben, sie soll Oliver mit seiner Homosexualität erpresst haben.
Serie, D 2009- mehr TV-Tipps »
www.youtube.com/watch?v=7TgWoSHUn8c
In Sergej Eisenstein. Eine Biographie (1997) findet die Autorin Oksana Bulgakowa erstaunlich deutliche Worte zu seiner Homosexualität. Wenn ich mich richtig erinnere hatte sie als Russin Zugang zu Quellen, die andere später nicht mehr hatten.