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Kunstgeschichte

Wie queer war die Renaissance?

Historische Kunstwerke legen nahe, dass modernes queeres Leben tief in der Geschichte wurzelt. Doch entsprechende Ansätze zur Aufklärung wurden in der kunsthistorischen Forschung lange abgeblockt. Ein neues Buch bietet Paroli.


Der Holzschnitt "Männerbad" von Albrecht Dürer (1497) zählt zu den aussagekräftigsten queeren Werke der frühen Neuzeit

Sind die idealisierten nackten Männerkörper im Schaffen von Michelangelo, Leonardo da Vinci oder Cellini lediglich ein allegorischer Verweis auf das Wahre, Gute und Heldenhafte? Oder dienten die platonischen Tugenden jeweils als Vorwand, um in den Aktdarstellungen das homoerotische Begehren ihrer Schöpfer zum Ausdruck zu bringen? Bei genauerer Überlegung bilden die beiden Interpretationsansätze nur scheinbar einen Gegensatz. Dennoch wurden sie in kunstgeschichtlichen Debatten lange als unvereinbare Positionen gegenübergestellt.

Vor allem Ulrich Pfisterer ist die Erkenntnis zu verdanken, dass Bildhauerei und Malerei der Renaissance durchaus erotisch motiviert sind, ohne dass dabei der Verweis auf das Transzendente geschmälert wird. Der Kunsthistoriker kann sich dabei auf eine breite Quellenbasis stützen. Das wird nicht nur in seinem Standardwerk "Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper" aus dem Jahr 2014 deutlich, sondern auch in der 2019 erschienenen Künstlerbiografie "Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm". Darin bescheinigt Pfisterer seinem Protagonisten nicht nur einen jenseitigen, sondern auch einen lustvollen – allerdings heterosexuell konnotierten – Blick, in dem sich bereits die Anfänge der Pornografie bemerkbar machten.

Hauch einer Ahnung von sexueller Diversität

Zudem weist Pfisterer in dem in diesem Frühjahr erschienenen Essayband zur Ausstellung "Verdammte Lust!" darauf hin, dass sich die gesellschaftliche Elite in der Renaissance "zumindest ansatzweise" bewusst gewesen sei, dass "die erotischen Phantasien jeder einzelnen Person eine Herausforderung darstellten". In anderen Worten: Am Beginn der Neuzeit gab es immerhin schon mal den Hauch einer Ahnung von sexueller Diversität. Dass in der Darstellung christlicher Motive – wie dem Martyrium des Heiligen Sebastian – "zwischen hetero- und homoerotischem Begehren der Gläubigen nicht differenziert wurde", verstanden die Kirchenoberen sogar als Vorteil, da durch die Anregung der Sinneswahrnehmung "insgesamt Wirkmacht und Devotion maximal gesteigert werden konnten".

Kia Vahland wiederum entwirft in ihrer Künstlerbiografie ein ungewöhnlich individualistisches Porträt eines Universalgenies der Renaissance, das dem heutigen Konzept von Queerness erstaunlich nahe kommt. In ihrem 2019 erschienenen Buch "Leonardo da Vinci und die Frauen" porträtiert die Kunsthistorikerin den Schöpfer der Mona Lisa als feministischen Pazifisten, der sensibilisiert ist für gesellschaftliche Ungerechtigkeit, sexuelle Beziehungen zu Männern pflegt und weibliche Züge als Teil seines Selbst erkennt. Obendrein ernährt sich Leonardo aus weltanschaulichen Gründen vegetarisch und weigert sich zudem, verarbeitetes Leder zu tragen. Kurzum: Leonardo da Vinci schafft es einerseits, sich jeglicher Norm zu widersetzen; andererseits steuert er durch seine schöpferische Kraft insgesamt zu einem enormen Entwicklungsschub in der Gesellschaft bei.

Wie wir sehen, ist die Frage nach der Existenz einer wie auch immer gearteten Queerness in der Renaissance nicht nur berechtigt, sondern von universellem Interesse, auch wenn es sich bei "queer" um einen Begriff handelt, den es zu dieser Zeit noch gar nicht gab. Just diesem bislang noch weitgehend vernachlässigten Forschungsbereich widmet sich nun der jüngst im Böhlau Verlag erschienene Sammelband "Queerness in der Kunst der Neuzeit?" (Amazon-Affiliate-Link ).

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Ein längst überfälliges Buch


Der Band "Queerness in der Kunst der frühen Neuzeit?" ist im März 2023 im Böhlau Verlag erschienen

Das von Lisa Hecht und Hendrik Ziegler herausgegebene Buch war längst überfällig und ist in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung, wobei das Fragezeichen im Buchtitel eigentlich obsolet ist. Rund zwanzig Aufsätze zum Phänomen Queerness als historische Kategorie in der Kunstgeschichte sind in dem Werk vereint. Dabei wird davon ausgegangen, dass Problemfelder, "wie sie für weite Teile einer heutigen Gesellschaft im Begriff 'queer' kumulieren (…), auch schon in in früheren Zeiten nicht zuletzt künstlerisch verhandelt" wurden. Gerade am Beispiel der neuzeitlichen Kunst ließe sich im historische Rückblick eine Aktualisierung vornehmen, denn "Kunst ist nicht ausschließlich programmatisch, folgt nicht nur vorgefassten Absichten und Konzepten; immer fließt in sie etwas (bewusst-unbewusst) Zufälliges ein", so Hecht und Ziegler.

Der Band ist das Ergebnis einer von der Philipps-Universität Marburg im Jahr 2021 ausgerichteten Fachtagung – und wirft zunächst mehr Fragen auf, als beantwortet werden können. Diese reichen nicht selten bis ins Detail. Was hat es mit den bärtigen Frauen auf sich, die an europäischen Höfen in Gemälden verewigt wurden, und inwiefern haben diese das binäre Geschlechtermodell erschüttert? Lässt sich das Spiel mit Mode und Maskerade in der Renaissance als Ausdruck für ein ambivalentes Geschlechterverständnis deuten? Inwiefern ist das Regellose und Exotische der phantastischen Figuren in ornamentalen Grotesken mit einer heutigen queeren Ästhetik vergleichbar?

Die Strategie des Straightwashings

Es geht allerdings auch um Grundsätzliches – und ums Eingemachte. Elisabeth Priedl, Kunsthistorikerin an der Wiener Akademie der bildenden Künste, nutzt in ihrem Beitrag "Wie queer war die Renaissance?" die Gelegenheit, um ihrem Ärger über unterschwellig homofeindliche Abwehrmechanismen in der kunstgeschichtlichen Forschung Luft zu machen. Den historischen Queer Studies wurden in der Vergangenheit häufig psychologisierende oder unwissenschaftliche Absichten unterstellt. Kaum jemand zweifelt heute noch an, dass es sich bei Donatellos Bronze-David um "ein queeres Schlüsselwerk der Renaissance" handelt. John Pope-Hennessy, britischer Kunsthistoriker und ehemaliger Direktor des British Museum, urteilte hingegen in einer 1984 erschienenen Studie noch, die "homo­sexuelle Deutung" der Skulptur habe "eine kleine Schleimspur auf einem großen Kunstwerk hinterlassen".

Auch wenn queer­feindliche Äußerungen inzwischen nicht mehr so ungezügelt vom Stapel gelassen werden – die Strategie des Straightwashings ist aus der kunsthistorischen Praxis nach wie vor nicht ganz verschwunden. Michelangelo, Donatello, da Vinci, keiner von all den Künstlern, die nachweislich homo­erotische Beziehungen pflegten, ließen sich nach unserer heutigen Auffassung als homo­sexuell oder schwul bezeichnen, so lautet eine gängige Argumentation. Ganz einfach, weil es bis zum Ende des 19. Jahrhundert keine homo­sexuelle Identität gab. Gleich­geschlechtlicher Verkehr unter Männern sei in Florenz vor der Hochzeit eine übliche Praxis gewesen, in die zu viel hineingedeutet werde. Auch Priedl greift das Argument auf und legt Wert auf Differenzierung und kritisches Hinterfragen. Der Hinweis ist berechtigt. Allerdings wird die Identitätsproblematik allzu oft vorgeschoben, um Homosexualität in der Geschichte zu relativieren oder unsichtbar zu machen, bisweilen auch unter der Beteiligung von queeren Historiker*­innen.


Eine Vorliebe fürs Androgyne: Leonardo da Vinci, "Johannes der Täufer mit den Attributen des Bacchus", 1513-1519

Mann-männliche Beziehungen in der Renaissance

Dabei gibt es gute Gründe, beim historischen Vergleich der Renaissance mit heutigen queeren Thematiken nicht so sehr die Unterschiede, sondern vielmehr die Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Anlass dazu liefert nicht allein Kia Vahlands zuvor erwähnte Da-Vinci-Biografie. So ist etwa im Jahr 1548 ein Buch mit Anekdoten über den florentinischen Kreis von Cosimo de' Medici erschienen, geschrieben von einem Freund Donatellos. Darin erfährt man über den Bildhauer, dass dieser nicht nur Männer begehrte, sondern auch berüchtigt dafür war, sich in seine männlichen Models zu verlieben und sie durch Italien zu verfolgen, wenn sie ihn verließen. Vom Wahrheitsgehalt einer solchen Klatschliteratur mal ganz abgesehen: Der Text deutet zumindest an, dass mann-männliche Beziehungen in der Renaissance oft mehr waren als eine zweckmäßige Verbindung zur Kompensierung des vorehelichen Sexverbots. Ganz zu schweigen von den Liebessonetten Michelangelos an Tommaso de' Cavalierie, in denen später allerdings die männlichen Pronomen in weibliche umgewandelt wurden, um die Liebesbeziehung der beiden Männer zu vertuschen. Offenbar existierte eine Vorstellung von einer leidenschaftlichen wie auch andauernden Beziehung unter Männern.

Das Thema des sexuellen Begehrens und die damit verbundenen Problemfelder des Zwischenmenschlichen bilden in dem Sammelband jedoch keinen Schwerpunkt. Der Fokus der meisten Beiträge ist auf die Deutung von Bildmotiven gerichtet, die sich meist mit geschlechtlicher Identität auseinandersetzen. Die Zusammenstellung mutet eher disparat an, was insgesamt jedoch der Inspiration der Lektüre keinen Abbruch tut. Stets wird auf eine Vielzahl von Quellen verwiesen. Zu den erhellendsten Beiträgen zählt Hendrik Zieglers Aufzählung von sechs Bildbeispielen, mit denen sexuelle Abweichungen in den Kanon christlicher Kunst aufgenommen wurden, wie etwa Maria als Braut ihres eigenen Sohnes oder Michelangelos Schöpfungsmotiv als "Liebesbeziehung zwischen einem potent gebliebenen Greis und einem nach ihm schmachtenden Jüngling".

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Allein die Illustrationen schärfen die Sinne


Der griechischen Mythologie zufolge bisexuell: Hermes der Götterbote als ein Deckengemälde von Rafael in der Villa Farnesina in Rom

So anschaulich und plausibel die jeweiligen Beiträge in dem Sammelband der Universität Marburg auch abgehandelt werden – das Thema "Queerness in der Kunst der frühen Neuzeit" hat sich damit längst nicht erschöpft. Immerhin ist ein Anfang gemacht, und allein die zahlreichen und mit äußerst informativen Erläuterungen versehenen Illustrationen schärfen die Sinne. Vor allem die Collage der zweigeschlechtlichen "Mademoiselle d'Eon", die auch das Buchcover ziert, ist ein Blickfang. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert und wird von Lisa Hecht kenntnisreich im letzten Beitrag erörtert.

Eines der vielleicht bedeutendsten queeren Bildmotive an der Schwelle zur Neuzeit bleibt indes unerwähnt: Albrecht Dürers Druckgrafik "Männerbad", das um 1497 nach einer Italienreise entstand und offenbar auf die antiken Ausschweifungen des Dionysos-Kults anspielt: Männer, die bis auf einen Slip entkleidet sind, sich vergnügen und miteinander Blicke austauschen. Am linken Bildrand hat sich Dürer in einer Figur möglicherweise selbst verewigt. Diese stützt sich lasziv auf einen hölzernen Brunnenstock; auf der Höhe des Geschlechts ragt ein Wasserhahn als symbolischer Ausdruck einer Erektion hervor – und weist offenbar in Richtung des begehrten Objekts im Bildvordergrund. Ein beleibter Mann am rechten Bildrand hingegen lässt sich eindeutig als Willibald Pirckheimer identifizieren, mit dem Dürer eine ungewöhnliche und sehr enge Freundschaft verband. Anhand unmissverständlicher Anspielungen in dem Briefwechsel zwischen den beiden lässt sich nachweisen, dass sie sich über ihr gemeinsames homo­sexuelles Begehren austauschten. Pionierarbeit hat hierfür der Göttinger Kunsthistoriker Thomas Noll in seinem Beitrag zum Jahrbuch 2014 der Willibald-Pirckheimer-Gesellschaft geleistet.

Noll wird in einer Rezension von Herbert Jaumann, Experte für Literatur mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit, dafür gewürdigt, dass er "in seinen eigenen sprachlichen Mitteln" über die sonst übliche "verschämte Diktion" hinauskomme und sich "nicht ohne Erfolg um größere Differenzierung und Präzision der Beschreibung und Interpretation" bemühe. Das sollte zumindest von nun an eine Selbstverständlichkeit sein, wenn es um die Erforschung von queeren Themen geht – nicht nur in der Kunstgeschichte.

Infos zum Buch

Lisa Hecht, Hendrik Ziegler (Hg.): Queerness in der Kunst der frühen Neuzeit? Studien zur Kunst. Band 050. 320 Seiten. Böhlau Verlag, Köln 2023. Gebundene Ausgabe: 55 € (ISBN: 978-3-412-52766-2): E-Book: 55 €

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#1 JulianFixAnonym
  • 01.05.2023, 10:50h
  • Ganz großartiger Artikel!

    Sehr interessant, informativ und klug geschrieben.
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#2 StaffelbergblickAnonym
  • 01.05.2023, 11:48h
  • "Darin bescheinigt Pfisterer seinem Protagonisten nicht nur einen jenseitigen, sondern auch einen lustvollen allerdings heterosexuell konnotierten Blick, in dem sich bereits die Anfänge der Pornografie bemerkbar machten."
    Diesen Satz halte ich für sehr gewagt. Die Anfänge der Pornografie dürften deutlich älter sein. Bereits im Kamasutra (mehr als ein Jahrtausend vor Raffaell) sind höchst eindeutige Kopulationsdarstellungen dokumentiert, die den heutigen digitalen "Fick-Fotos" in keinster Weise nachstehen.
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#3 Tom3kAnonym
  • 13.05.2023, 08:55h
  • Wenn es so war, dass zu bestimmten Zeiten Homoerotik viel ubiquitärer und nicht gleichzusetzen mit Homosexualität war; d.h. Sexualität allgemein viel mehr pan - dann hätte ich kein Problem damit, wenn das auch so erzählt würde; auch zulasten einer Homo(/-hetero)sexuellen-Lesart.
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