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Tübingen
Boris Palmer will "professionelle Hilfe" in Anspruch nehmen
Nach dem N-Wort- und Judenstern-Eklat bei einer Konferenz in Frankfurt bittet der Tübinger Oberbürgermeister um Entschuldigung, kündigt eine Auszeit an und erklärt seinen Austritt aus den Grünen.

Boris Palmer will jetzt "alle Konfrontationen mit ersichtlichem Eskalationspotenzial durch Abstinenz vermeiden" (Bild: IMAGO / ULMER Pressebildagentur)
- 2. Mai 2023, 02:14h 5 Min.
Es kann in der Politik manchmal schnell gehen: Ende Oktober jubelte Boris Palmer noch auf dem Tübinger Marktplatz über seinen dritten Wahlsieg als Oberbürgermeister, dirigierte mit großer Geste die angetretene Blaskapelle – und es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Grünen ihren wohl bekanntesten Bürgermeister wieder in die Partei aufnehmen würden. Seit Montagabend ist klar: Die Geschichte von Boris Palmer und den Grünen ist beendet – nach einem Eklat wegen erneuter rassistischer Äußerungen Palmers und einem inakzeptablen Judenstern-Vergleich.
Der 50-Jährige, dessen Mitgliedschaft eigentlich nur noch bis Ende 2023 ruhen sollte, ist aus der Partei ausgetreten. Seine Austrittserklärung sei eingegangen, der Austritt gelte unmittelbar, teilte eine Sprecherin des Landesverbands am Montag in Stuttgart mit. Palmer bestätigte der Deutschen Presse-Agentur den Austritt.
Selbst enge Wegbegleiter*innen distanzierten sich
Der Austritt markiert das vorläufige Ende einer heftigen Debatte rund um Palmer. Er hatte am Freitag mit einer verbalen Auseinandersetzung mit einer Gruppe vor einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main für Aufsehen gesorgt. Vor einem Gebäude der Goethe-Universität hatte er zu Art und Weise seiner Verwendung des "N-Wortes" Stellung bezogen.
Als er mit "Nazis raus"-Rufen konfrontiert wurde, sagte Palmer zu der Menge: "Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für euch ein Nazi. Denkt mal drüber nach." Mit dem sogenannten N-Wort wird heute eine früher in Deutschland gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.
Nach seinen Äußerungen in Frankfurt war es innerhalb von wenigen Tagen sehr einsam um den Tübinger Oberbürgermeister geworden, auch enge Wegbegleiter*innen distanzierten sich von ihm. Palmers Anwalt, Rezzo Schlauch, der ihn noch im gegen ihn gerichteten Parteiausschlussverfahren vertreten hatte, sagte: "Unmittelbar nach Kenntnis über den von Boris Palmer in Frankfurt zu verantwortenden Eklat habe ich ihm meine persönliche und meine politische Loyalität und Unterstützung sowie meine juristische Vertretung aufgekündigt."
Schlauch, der früher selber für die Grünen politisch aktiv war, erklärte weiter: "Keine noch so harte Provokation, keine noch so niederträchtigen Beschimpfungen und Beleidigungen von linksradikalen Provokateuren rechtfertigten, eine historische Parallele zum Judenstern als Symbol der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland herzustellen. Da gibt es nichts mehr zu erklären, zu verteidigen oder zu entschuldigen." Schlauch hatte Palmer auch beim Wahlkampf in Tübingen unterstützt.
Auch andere Vertreter*innen der Grünen gingen deutlich auf Abstand. Der Grünen-Stadtverband Tübingen verurteilte "die wiederholte Verwendung des N-Wortes und den inakzeptablen Vergleich mit dem Judenstern" durch Palmer. "Wir bedauern, dass erneut durch Aussagen von Boris Palmer viele Menschen verletzt wurden." Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Emily Büning, schrieb auf Twitter von einem "neuerlichen Tiefpunkt von Boris Palmer". Sie nannte seinen Austritt am Abend "folgerichtig".
Persönliche Erklärung auf Facebook
Palmer selbst veröffentlichte am Montag eine persönliche Erklärung auf Facebook und kündigte eine Auszeit an. Er schrieb, er entschuldige sich bei den Menschen, "die ich enttäuscht habe", und betonte mit Blick auf seine Worte in Frankfurt, er hätte als Oberbürgermeister "niemals so reden dürfen". Dass der Eindruck entstanden sei, er würde den Holocaust relativieren, "tut mir unsagbar leid".
Weiter schrieb Palmer: "Eines ist mir klar: So geht es nicht weiter." "Die wiederkehrenden Stürme der Empörung kann ich meiner Familie, meinen Freunden und Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft insgesamt nicht mehr zumuten." Da er weiterhin Angriffen ausgesetzt sein werde, die er als "grob ungerecht" empfinde, könne er nur versuchen, sich selbst zu ändern. "Mit ernsthaften Vorsätzen, darauf zu achten, dass sich derartiges nicht mehr wiederholen darf, war ich leider nicht erfolgreich"
Persönliche Erklärung Eines ist mir klar: So geht es nicht weiter. Die wiederkehrenden Stürme der Empörung kann ich...
Posted by Boris Palmer on Monday, May 1, 2023
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Zu seiner geplanten Auszeit führte Palmer aus, er werde "professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und den Versuch machen, meinen Anteil an diesen zunehmend zerstörerischen Verstrickungen aufzuarbeiten". In der Erklärung des OB heißt es weiter: "Solange ich nicht sicher bin, neue Mechanismen der Selbstkontrolle zu beherrschen, die mich vor Wiederholungen sichern, werde ich alle Konfrontationen mit ersichtlichem Eskalationspotenzial durch Abstinenz vermeiden. Das betrifft Themen und Veranstaltungen und alle Arten öffentlicher Äußerungen gleichermaßen."
Wiederholte rassistische und queerfeindliche Äußerungen
Palmer hatte bereits mehrfach mit rassistischen Äußerungen für Schlagzeilen gesorgt. 2019 äußerte er sich abfällig über eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, in der unter anderem die aus der Türkei stammende Nazan Eckes und der deutsch-ghanaische Koch Nelson Müller zu sehen waren. "Welche Gesellschaft soll das abbilden?", schrieb der OB. 2021 hatte Palmer in einem Facebook-Beitrag über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo, der einen nigerianischen Vater hat, das sogenannte N-Wort benutzt. Dies hatte massive Kritik auch bei seinen damaligen grünen Parteikolleg*innen ausgelöst. Ein Parteiausschlussverfahren endete vor einem Jahr mit dem Kompromiss, dass Palmer seine Parteimitgliedschaft bis Ende 2023 ruhen lässt (queer.de berichtete). Im Oktober 2022 war er in Tübingen als unabhängiger Kandidat angetreten und im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit für eine dritte Amtszeit wiedergewählt worden (queer.de berichtete). Er ist seit 2007 Oberbürgermeister der Universitätsstadt.
Wiederholt stand Palmer auch wegen queerfeindlicher Äußerungen in der Kritik. Bereits 2011 hatte er etwa in einem internen Thesenpapier gefordert, dass die Grünen die Forderung nach der Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen beim Adoptionsrecht hintenanstellen sollten, da dies "vorerst keine Forderung [ist], mit der sich 25 Prozent der Deutschen gewinnen lassen" (queer.de berichtete). 2016 warf er LGBTI-Aktivist*innen eine "überspannte Aggression gegenüber der Mehrheitsgesellschaft" vor (queer.de berichtete). Zuletzt profilierte sich der Kommunalpolitiker auch vermehrt mit transfeindlichen Anspielungen und Äußerungen (queer.de berichtete). Zuletzt sprach er im März trans Frauen ab, Frauen zu sein (queer.de berichtete).
Zurück zur Wahlparty auf dem Tübinger Marktplatz: Dass sich die Grünen nach der Wiederwahl auf einen lauten und unbequemen Boris Palmer einstellen müssen, machte der alte und neue Oberbürgermeister schon am Wahlabend im Oktober 2022 deutlich. Zu den Journalist*innen sagte er: "Warum sollte ein Oberbürgermeister, der zum dritten Mal mit Mehrheit gewählt wird, seinen Stil ändern?" (dpa/mize)
