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Interview

"Queere Bestattungskultur stellt Selbst­bestimmung über alles"

Über den Tod spricht man nicht? Wir schon! Gemeinsam mit Jörg Litwinschuh-Barthel, dem Geschäftsführer der neuen Stiftung Reerdigung, sprechen wir über die Geschichte der queeren Bestattungskultur und werfen einen Blick in die Zukunft.


Die Form des Grabsteins erinnert ganz bewusst an einen Penis: Ruhestätte für Napoleon Seyfarth und Schlomo Schlotto auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in Berlin (Bild: Franz Richter / wikipedia)

Jörg Litwinschuh-Barthel (54), der frühere Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, ist seit wenigen Tagen Geschäftsführer der neu gegründeten Stiftung Reerdigung. Als Reerdigung bezeichnet man eine Form der Erdbestattung, bei der die organische Materie eines Verstorbenen in nur 40 Tagen auf natürliche Weise zu fruchtbarem Humus transformiert und dann ohne Sarg auf dem Friedhof beigesetzt wird.

Bereits seit April 2022 warb Litwinschuh-Barthel als Senior Manager Public Affairs für die alternative Bestattungsweise (queer.de berichtete). Aus Anlass des neuen Jobs haben wir mit dem gebürtigen Saarländer ein Gespräch über queere Bestattungskultur geführt. Wir wollten u a. wissen, welche Veränderungen es im Laufe der Zeit gab und wohin sich aktuelle Trends entwickeln.

Jörg, inwiefern unterscheidet sich die queere Bestattungskultur überhaupt von der heteronormativen?

Ich glaube, das Hauptunterscheidungsmerkmal ist, dass queere Bestattungskultur sehr vieles in Frage stellt: Selbstbestimmung steht über allem und nicht Traditionen und Normen. Queers möchten sich eben sehr eigenverantwortlich um Fragen zu ihrem Tod und ihrer Bestattung kümmern. Viele Leute aus der Community setzen sich früher als Heteros mit ihrer Endlichkeit und mit Sterben auseinander.

Und wie hat sich die queere Bestattungskultur im Laufe der Zeit verändert?

Zunächst einmal möchte ich anmerken, dass ich den Begriff "queer" im Rahmen dieses Interviews gerne als Umbrellabegriff für die LGBTI-Community verwenden möchte, auch wenn dieser ja von einigen Personen kritisch diskutiert wird. Im Laufe der Zeit gab es tatsächlich einige Veränderungen, die vor allem durch zwei Strömungen hervorgerufen wurden: Die Aids-Krise in den 1980er Jahren und die Beginen-Bewegung der lesbischen Frauen. Während früher die sexuelle oder geschlechtliche Identität häufig über den Tod hinaus verschwiegen wurde, gab es fortan u.a. Gemeinschaftsgräber für Schwule, die an Aids gestorben sind, oder für Frauen liebende Frauen. Auch die Trauerfeiern wurden zunehmend diverser und von queeren Menschen selbst organisiert. Fortan wurde auf Trauerfeiern auch gelacht, Konfetti gestreut oder laute Musik abgespielt, was dann häufig Grund für Streitereien mit der Herkunftsfamilie war.


Jörg Litwinschuh-Barthel ist seit Anfang Mai 2023 Geschäftsführer der neu gegründeten Stiftung Reerdigung (Bild: Stiftung Reerdigung.)

Viele queer.de-Leser*innen finden, zumindest in einer Wochenumfrage von 2014, dass sich die LGBTI-Community durch etwaige Gemeinschaftsgräber selbst nach dem Tod noch von den heteronormativen Menschen separieren würde. Wie siehst du das?

Ich sehe dies gar nicht als Separation, denn die queeren Verstorbenen liegen ja trotzdem mit vielen heterosexuellen Verstorbenen auf dem gleichen Friedhof. Dass queere Menschen aber auch nach ihrem Tod noch einen imaginären "Safe Space" wünschen, finde ich eine sehr schöne und würdevolle Vorstellung. Und diese steht der LGBTI-Community auch zu.

Und was sind beispielsweise die Vorteile von Gemeinschaftsgräbern für Menschen, die an Aids verstorben sind?

Durch diese Gemeinschaftsgräber werden auch jüngere Menschen daran erinnert, dass HIV/Aids früher eine todbringende Krankheit war und viel Leid in der schwulen Community ausgelöst hat. Die Hinterbliebenen wollten an die schwere Krankheit, aber auch an das stolze schwule Leben erinnern, denn viele Verstorbene hatten zu Lebzeiten viel Ausgrenzung wegen ihrer HIV-Infektion erfahren. Diese Gemeinschaftsgräber sind ein wichtiger Teil unserer schwulen Erinnerungskultur.

Wie war die Situation für queere Menschen früher allgemein auf christlichen Friedhöfen und wie ist sie heute?

Früher waren Friedhöfe fest in kirchlicher Hand: Queeres Leben war so gut wie unsichtbar, zumindest auf den ersten Blick. Dennoch gab es bereits damals Hinweise, dass es sich um eine queere, verstorbene Person handelt. Auf einem Grab einer verstorbenen Frau fand ich ein "In immerwährender Liebe, deine Christine"-Schild, woran man sieht, dass diese Person zu Lebzeiten vermutliche eine lesbische Beziehung mit einer Frau führte.

Die Themen Tod und Bestattungen galten lange als Tabu-Themen. Woran liegt das?

Ich glaube, dies liegt vor allem daran, dass wir uns in einer Gesellschaft der Selbstoptimierung und der Schönheits- und Gesundheitsideale befinden, die den Tod narzisstisch verdrängt. Zusätzlich erleben wir gerade eine enorme Digitalisierung. Viele Menschen sehen in diesen Trends einen Widerspruch zur Vergänglichkeit, der aber gar nicht besteht. Denn gerade queere Menschen zeigen seit einigen Jahren, dass die tabulose Beschäftigung mit dem Tod eine große Chance für jeden Menschen ist, da man so den Wert des eigenen Lebens erkennt, und dieses noch mehr zu schätzen weiß. Dies kann sehr viel Kraft fürs Hier-und-jetzt und für die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit geben.

Wie wichtig sind Serien wie "Sterben für Anfänger" mit Olivia Jones, um diese Themen weiterhin zu enttabuisieren?

Ich war anfangs ein wenig skeptisch, ob so ein Format wirklich das richtige ist. Allerdings war ich sehr begeistert davon, da es in der Serie keine Tabus gab und sie wirklich sehr würdevoll gestaltet wurde. Zudem wurde auch die großartige Arbeit von Bestatter*innen hervorgehoben. Gerade für jüngere Menschen war dies sicherlich eine gute Möglichkeit, sich mit diesen Themen erstmals auseinanderzusetzen.

Welche Trends zeichnen sich denn aktuell bezüglich der Bestattungen ab?

Erst einmal möchte ich anmerken, dass es noch nie so viele Tote in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg gab wie jetzt. Das Thema boomt quasi. Dies hängt allerdings nicht nur mit der Corona-Pandemie zusammen, sondern auch mit der Überalterung der Bevölkerung. Da viele Menschen heutzutage nicht mehr im Ort ihrer Eltern wohnen, fällt es ihnen schwer, sich um deren Gräber zu kümmern. Zudem ist die Art der Bestattung immer auch eine finanzielle Frage. Und aufgrund der zahlreichen Diskussionen rund um den Klimawandel werden auch Fragen rund um Nachhaltigkeit und Umweltschutz einer Bestattung gestellt. Durch die Mobilität, die finanzielle Situation und den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit gibt es also immer mehr Vielfalt in der Bestattungskultur. Es gibt viele queere Seiteneinsteiger in Bestattungsinstituten. Einer der Trends sind umweltfreundliche Bestattungen, wie sie zum Beispiel die Grüne Linie anbietet, und die Reerdigung, für die ich mich engagiere und die ganz ohne Erdgas und Sarg auskommt.

Insbesondere in der queeren Popkultur spielt der Teufel immer wieder eine wichtige Rolle, so etwa in einem Musikvideo des Rappers Lil Nas X. Woher kommt dieser Bezug?

Ich glaube, weil der Teufel ein Symbol für vieles ist, was wir in der queeren Community so gut und so disruptiv finden, nämlich selbstbestimmte Sexualität, Diversität, dass wir uns unsere Wahlfamilie selbst zusammenstellen können. Der Teufel war lange ein Machtinstrument der katholischen Kirche, um Menschen vor dem Begehen vermeintlicher Sünden abzuhalten. Die queere Community sagte sich dann irgendwann, jetzt tanzen wir selbst mit dem Teufel und machen uns diesen zu eigen. Schließlich spielen wir Queers gerne mit zuvor negativ-konnotierten Wörtern und Symbolen und drehen den Spieß im wahrsten Wortsinn um. Das Wort "schwul" hatte früher ja auch eine negative Bedeutung. Wir haben es uns zu eigen gemacht und es positiv besetzt.

#1 TilliAnonym
#2 FibuAnonym
  • 14.05.2023, 09:12h
  • Was genau macht diese Stiftung nun?
    Irgendwie hört sich das so an, als gäbe es die GGmbH nur um auf die GmbH zu verweisen um Geld zu verdienen.
    Auch das anbiedern mit "Queere Bestattungskultur" stößt mir auf.
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#3 NajaAnonym
  • 14.05.2023, 12:48h
  • Also in DE ist das Zwangsbestattungsgesetz sowieso eine Frechheit. In den USA gibt es die gute Lösung, daß Angehörige die Asche ihrer Verstorbenen in einer schönen Urne nach Hause nehmen dürfen oder eben an einem Ort ihrer Wahl die Asche verstreuen dürfen- hier ist alles so ekelhaft reglementiert.
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