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Das erste populäre Sachbuch über queere Geschichte
Deutschlands queere Geschichte hat viele Schattenseiten, besteht aber nicht nur aus Verfolgung. In dem neuen Buch "Queer" beschreibt Benno Gammerl queeres Leben durch die deutsche Geschichte hindurch – in allen Facetten und sehr lesenswert.

Bundesarchiv / wikipedia) Das "Eldorado" in der Motz- Ecke Kalckreuthstraße in Berlin, hier auf einem Foto von 1932, war in der Weimarer Republik ein beliebter Treffpunkt für queere Menschen (Bild:
15. Mai 2023, 07:47h 4 Min. Von
Freies Leben als queere Person, rechtliche Anerkennung der sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung, Repräsentation und Diskriminierung – alles hoch aktuelle politische Themen. Und doch eine Ansammlung alter Hüte. Wurde ja alles bereits während der deutschen Kaiserzeit diskutiert und politisch verhandelt.
So, oder so ähnlich mag eine etwas sehr oberflächliche Lesart von Benno Gammerls "Queer" (Amazon-Affiliate-Link )zusammengefasst werden. Der Historiker erzählt in seinem gerade bei Hanser erschienenen Sachbuch "Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute" – wie der Untertitel des Werkes verkündet. Er zeigt auf, dass vieles, was die Diskurse der Gegenwart prägt, keinesfalls neu ist, sondern vielmehr bis heute diskutiert wird.
Etwas genauer hinlesend lassen sich aus der Lektüre des sehr guten Textes sehr interessante Schlüsse ziehen. In acht angenehm kurzen Abschnitten arbeitet "Queer" die vergangenen 100 bis 150 Jahre deutscher Geschichte durch und dokumentiert queere Realitäten im Kontext der sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Situation in Deutschland. Dabei belässt Gammerl es aber nicht bei einem bloßen "Gibt es schon ganz lang". Vielmehr berichtet er gerade von der Komplexität, der Vielgestaltigkeit und der Uneindeutigkeit historischer Funde. Weder ist queere Geschichte als eine stetig sich verbessernde Erfolgserzählung zu fassen noch sind die gemeinhin als negativ konnotierten Kapitel der deutschen Geschichte durch diese Sichtweise gänzlich beschrieben und verstanden.
Queerer Wandel der Wissenschaft

Das Sachbuch "Queer" ist am 15. Mai 2023 im Hanser Verlag erschienen
Gammerls Arbeit zeichnet sich allgemein durch eine sehr ansprechende Ablehnung von Absolutheit und Simplifizierung aus, ohne dabei jedoch unverständlich zu werden. Auch bereits in seinem letzten Buch "anders fühlen", das unseren Autoren Fabian Schäfer begeistert hat, in dem der Wissenschaftler sich mit der Emotionsgeschichte queeren Lebens befasst, macht er deutlich: Die Wirklichkeit ist weder schwarz, noch weiß, Veränderungen können gleichzeitig positive und negative Folgen haben. Queeres Leben kann zur selben Zeit Emanzipation und Befreiung erfahren und sich verschärfenden Einschränkungen und zunehmenden Gefahren gegenübersehen.
Es ist Gammerls ausdrückliches Ziel, nachzuholen, was bisher in der Wissenschaft grob vernachlässigt wurde, und eine historische Perspektive auf queeres Leben zu werfen. Seine These ist dabei, dass Geschichtswissenschaft, die dies, wie bis dato geschehen, nicht tut, zwangsläufig unvollständig ist. "Queer" stellt somit nicht bloß eine Ergänzung zum kanonischen Wissensstand der Geschichtsschreibung dar, sondern viel mehr die Forderung eines Paradigmenwechsels. Queerness müsse als eine feste Dimension menschlichen Lebens berücksichtigt und mitgedacht werden. Ein historischer Blick, der das nicht tut, sei zwangsläufig unvollständig.
Kompakte Informationen in verständlicher Sprache
Es ist nicht besonders sinnvoll, hier viele Worte über den "Inhalt" des Buches zu verlieren. Die großen, strukturellen, rechtlichen, moralischen, medizinischen gesellschaftlichen Veränderungen, die "Queer" nachzeichnet und die kleinen Geschichten und Lebensläufe, die Fallbeispiele, die illustrierend herangezogen werden, erzählt Benno Gammerl selbst am besten. Der Historiker, der auch mitverantwortlich für das regelmäßig erscheinende "Jahrbuch der Sexualitäten" ist, schreibt derart angenehm und verständlich, dass nur bleibt, sehr floskelhaft zu sagen: Wer mehr Details möchte, sollte das Buch lesen.
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Mit einer für Menschen, die in einer Wissenschaft ausgebildet wurden, ungewöhnlich guten Sprache, erzählt Gammerl die queere Geschichte Deutschlands. Ab und an gerät er in einen geradezu plaudernden, aber nie unangebrachten Ton, sodass es Freude bereitet, ihm zu folgen. "Queer" ist ein Sachbuch, das weder populärwissenschaftlich simpel, noch fachwissenschaftlich unzugänglich ist, sondern irgendwo dazwischen. Mit gleichzeitig hohem Anspruch an Lesbarkeit wie auch wissenschaftliche Methode.
So ist die Quellenkritik der Arbeit sehr elegant nicht in abschreckende Fußnoten verpackt, sondern folgt in einem den Leser*innen zugewandten Abschnitt am Ende des Buches – für alle, die gerne mehr darüber wissen möchten, woher Gammerl die Informationen gesammelt hat, auf denen seine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute beruht. Und für alle, die tiefer gehen wollen. Denn natürlich sind auf weniger als 300 Seiten unmöglich über ein Jahrhundert Geschichte auch nur ansatzweise umfassend zu beschreiben.
Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. 272 Seiten. Hanser Verlag. München 2023. Gebundene Ausgabe: 24 € (ISBN 978-3-446-27607-9). E-Book: 17,99 €

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