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Interview
Deutschland, eine queere Erfolgsgeschichte?
Der Historiker Benno Gammerl hat das erste Übersichtswerk queerer Geschichte in Deutschland geschrieben. Im Interview erzählt er, warum ihn die liberale Kaiserzeit überrascht, wann die Community am erfolgreichsten war und wo die queere Perspektive die deutsche Geschichte geraderückt.

Deutsche Geschichte: Magnus-Hirschfeld-Ufer am Kanzleramt in Berlin (Bild: IMAGO / PEMAX)
20. Mai 2023, 01:24h 10 Min. Von
In Geschichtsbüchern wird Geschichte in der Regel chronologisch erzählt. In Ihrem neuen Buch "Queer: Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute" befolgen Sie zwar auch eine Chronologie, legen aber Wert darauf, die "Zeiten übereinander zu legen". Was bedeutet das und woher kommt diese Entscheidung?
Die Struktur des Buches ist chronologisch, ganz klassisch kommt erst das Kaiserreich, dann die Weimarer Republik, darauf folgt die Nazi-Zeit, dann die frühe Bundesrepublik, und schließlich die 70er-Jahre, und dann vermischt es sich mit der Gegenwart. Und genau um diese Struktur auszugleichen, habe ich an mehreren Punkten versucht, die Zeiten ineinanderzuschieben. Also wenn zum Beispiel Magnus Hirschfeld auftaucht, dann geht es ums Kaiserreich. Aber es geht natürlich auch um die Weimarer Republik, genau wie um die NS-Verfolgung und ich thematisiere auch die Erinnerung an Magnus Hirschfeld seit den 1970er Jahren bis zur Gründung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Und so gibt es einige Punkte, wo ich ganz gezielt versucht habe, deutlich zu machen, dass sich diese unterschiedlichen Phasen nicht voneinander trennen lassen.
Was war für Sie persönlich die überraschendste Erkenntnis durch die Arbeit an dem Buch?
Ich fand es überraschend, wie liberal einiges schon im Kaiserreich war, vor allem im europäischen Vergleich. Dass es mehrere Publikationen gab, die in Deutschland erscheinen konnten, aber beispielsweise in Großbritannien als obszön galten und verboten wurden. Das gilt für den Roman "Quell der Einsamkeit" der Britin Radclyffe Hall, genau wie für sexualwissenschaftliche Bücher, aber auch zum Beispiel die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs, der forderte, Homosexuelle nicht zu verurteilen. Das war keine Schullektüre in den 1860er/1870er Jahren, aber es konnte erscheinen.
Bemerkenswert ist auch, dass sich die deutschen Debatten in dieser ersten Phase in weiten Teilen der Welt ausbreiteten. Die frühe deutsche Sexualwissenschaft gab damals extrem wichtige Anstöße und Anregungen. Das andere Überraschende ist vielleicht ein bisschen schwieriger zu verdauen: Dass es in den ersten Wochen und Monaten der Nazi-Herrschaft einige Homosexuellen-Organisationen gab, die hofften, sie könnten überleben. Manche Zeitschriften erscheinen noch bis zum März 1933. Es gab Versuche, sich dem neuen Regime irgendwie anzupassen und zu überleben. Es dauert, bis der letzte begriffen hatte, dass es vorbei war mit der Subkultur für gleichgeschlechtlich begehrende und gender-nonkonforme Menschen.
Waren die Menschen damals naiv? Oder haben sie auch versucht, sich ans Regime anzubiedern?

Benno Gammerl lehrt als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (Bild: F. K. Schulz)
Es ist ja so gut wie unmöglich für uns, uns vorzustellen, wie es war im Januar und Februar 1933. Was wir heute wissen, konnte damals keiner wissen. Und insofern ist Geschichte immer offen in dem Moment, in dem sie gemacht wird. Anbiedern würde ich nicht sagen, sondern eher versuchen zu überleben. Das kann man auch niemandem zum Vorwurf machen. Es gab zwar eine problematische Nähe zwischen Teilen der Homosexuellen-Bewegung in der Weimarer Zeit und protonazistischen, faschistischen Bewegungen, gerade bei Männerbünden, wo eine Vorstellung von soldatischer Männlichkeit, vom männlichen Heldentum vorherrschte, wie beispielsweise im Umfeld von Adolf Brand.
Aber ich glaube – und das gilt ja nicht nur für Homosexuelle und Transvestiten, wie man damals gesagt hat -, sondern für alle möglichen sozialen Gruppen, dass alle versucht haben zurechtzukommen. Man muss sich das vorstellen als eine extrem verwirrende Zeit. Es ging unglaublich rasant. Und da dann den Überblick zu behalten und eine nüchtern abwägende Bewertung dessen zu finden, was politisch gerade passierte und wie die Aussichten für die nächsten Jahre wären… Ich wäre definitiv daran gescheitert.
Besonders interessant an der queeren Geschichte Deutschlands sind die vielen Kontinuitäten. Auffällig ist etwa der Konflikt aus Subversion versus Provokation bei Brand und Hirschfeld, später dann Hedonismus versus Emanzipationsbewegungen – und wir haben diese Konflikte bis heute. Sie schreiben, dass diese Gegensätze innerhalb der Community aber wenig sinnvoll seien. Warum?
Ich halte es für wenig sinnvoll, wenn diese Gegensätze zu Grabenkämpfen übersteigert werden. Und es ist tatsächlich interessant, dass dieser Streit "kommerzielle versus politische Szene" so schon in den 20er-Jahren ausgetragen wurde. Sich mit diesen Unterschieden auseinanderzusetzen, finde ich richtig und wichtig. Aber es wird problematisch, wenn eine Seite denkt, sie hätte das einzig legitime Recht, für homosexuelle und gender-nonkonforme Menschen zu sprechen. Dann geht viel wichtiges Potenzial für Zusammenarbeit verloren. Das ist die mir wichtige historische Einsicht: dass die meisten Chancen, gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen und zu gestalten, immer dann bestanden, wenn es eine starke, auch kommerzielle Subkultur gab, und gleichzeitig eine starke politisch aktivistische Szene.
Könnte das die gern gesuchte Lehre aus der Geschichte sein für die Community heute, die ja immer diverser wird, und wo Gräben zum Teil auch tiefer werden?
Mit dem Begriff Lehre wäre ich als Historiker vorsichtig. Aber ich würde sagen, es kann eine Anregung sein. Aber nicht, Differenzen einzuebnen. Auf dieser internen Diversität zu bestehen, ist wichtig. Worauf es ankommt, ist Formen zu finden, mit dieser Vielfalt umzugehen, ohne Gräben aufzureißen. Dazu gehört auch mehr Gelassenheit im Umgang mit Anderssein und die Fähigkeit hinzuhören: Was denken andere? Und das ernst zu nehmen und sich zu fragen, wo das Potential ist, solidarisch miteinander für gemeinsame Anliegen zu kämpfen. Man war in den 1920er Jahren, wo man sich teils spinnefeind war, doch ziemlich erfolgreich. Letztlich ist das Anliegen der Entkriminalisierung der Homosexualität politisch gescheitert, aber in vielen Dingen haben sie doch ziemlich erfolgreich zusammengearbeitet. Und auch wenn man auf die 1970er Jahre in der Bundesrepublik schaut, gab es mehr Miteinander zwischen vermeintlich politisch radikalen und politisch mehr am Mainstream ausgerichteten Schwulen- und Lesben-Gruppen, als man auf den ersten Blick denken würde.
Woran machen Sie den Erfolg fest? Objektiv politisch wurde erst einmal wenig erreicht.
Die Frage ist, was das Kriterium des Erfolgs ist. Ich würde sagen, es geht nicht nur um den direkten politischen Erfolg, sondern auch um gesellschaftliche Veränderung. In den 1970er Jahren gab es unter anderem die Homosexuelle Aktion Westberlin und Rote Zelle Schwul in Frankfurt, die haben Demos gemacht, Infoveranstaltungen in Fußgängerzonen, aber letztlich tatsächlich wenig erreicht, wenn man nur auf Gesetzgebung guckt. Aber solche Gruppen haben damals schon gefordert, dass sie Sitze in den Rundfunkräten wollen. Und so eine Forderung dauert. Das sind sehr langfristige Veränderungen, die eine Voraussetzung dafür sind, dass es 2017 die Ehe für alle gab. Insofern könnte man auch mit Blick auf die Weimarer Republik sagen: Gesellschaftliche Einstellungen haben sich begonnen zu verändern, die Subkulturen und Szenen wurden teilweise wohlwollend wahrgenommen. Diese vielen Gruppen waren ganz entscheidend dafür, breitere gesellschaftliche Transformationsprozesse auszulösen. Und wenn die dann genug Zeit haben, sich zu entfalten, kann daraus ein realer politischer, rechtlicher Wandel werden. Nur war die Weimarer Zeit dann halt nach 15 Jahren zu Ende.
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Sie schreiben, dass Sie die queere Perspektive es ermöglicht, die deutsche Geschichte besser zu verstehen. Können Sie ein Beispiel nennen, wo das der Fall ist?

Gammerls Buch "Queer" ist am 15. Mai 2023 im Hanser Verlag erschienen
Für die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich in der dominierenden historischen Erzählung für die Bundesrepublik eingebürgert, dass der Weltkrieg vorbei und die Nazis weg waren. Die waren natürlich nicht weg, aber es gab Re-Education, und langsam fing ein Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozess an. Es ist eine Erfolgserzählung. Und die ist nicht komplett falsch, aber die braucht eine Ergänzung. Die queerhistorische Perspektive macht deutlich, dass die Geschichte der Bundesrepublik komplizierter ist. Alleine der Umstand, dass der Paragraf 175 in seiner Nazi-Fassung – das haben viele andere vor mir deutlich herausgearbeitet – bis 1969 galt. Die kompletten ersten 20 Jahre der Bundesrepublik hindurch wurde das nicht anerkannt als nationalsozialistisches Unrecht. Regierung und Bundesverfassungsgericht verwendeten Vokabular, das dem der Nationalsozialisten extrem ähnlich war, um zu begründen, warum man nach wie vor Männer ins Gefängnis sperren muss, nur weil sie Sex mit anderen Männern haben.
Für die 1980er Jahre würde man denken, dass wir fast am glorreichen Ziel der Liberalisierung angekommen sind. Aber im Umgang mit Aids gab es einen enormen Rückschlag, da kommen konservative, repressive, rechtsextreme Kräfte wieder nach vorne. Diese ganze Debatte um die Vorschläge von Peter Gauweiler damals, diese Angst, dass homosexuelle Männer und Sexarbeiterinnen und Drogen-Nutzerinnen wieder interniert werden, das war eine reale Angst. Leute haben homosexuelle Menschen gemieden. Das war extrem heftig. Und es entstand wieder so ein Zusammenhang zwischen Homosexualität, Sündhaftigkeit, Verbrechen, Gefahr und Krankheit. Ein weiterer Punkt betrifft die DDR: Man würde denken, dass der Westen die Liberalität gepachtet hat und die DDR das repressive Regime war. Aber wenn man auf die Diskriminierung homosexueller Menschen im Strafrecht guckt, dann wurde die zuerst in der DDR beendet.
In der DDR gab es ja auch eine der ersten Verfügungen für trans Menschen der Welt, schreiben Sie.
Es war leider eine Verfügung, die nicht veröffentlicht wurde, aber immerhin. Es gab Anliegen, die von Menschen formuliert wurden, die eine Geschlechtsangleichung durchlaufen wollten, und man hat festgestellt, dass es keine Regelung gibt. Und man hat dann eine entwickelt mit allen Chancen und Problemen. Aber tatsächlich überraschend früh, 1976. In der Bundesrepublik trat das Transsexuellengesetz, dessen Reform schon lange im Gespräch ist, aber immer noch nicht umgesetzt wurde, 1980 in Kraft.
Ihr neues Buch ist die erste Überblicksdarstellung queerer Geschichte in Deutschland. Gibt es konkrete Themen, die aus queerhistorischer Sicht blinde Flecken sind?
Zur Zusammenarbeit und zum Austausch zwischen unterschiedlichen Gruppen gibt es beispielsweise sehr wenig. Queere Migrant*innen, Gastarbeiter*innen in der Bundesrepublik, fängt gerade an als Forschungsfeld. Auch zu Fragen von Schwarzsein und Queersein in Deutschland ist bisher noch nicht viel veröffentlicht worden.
Objektivität gilt in der Wissenschaft als essenziell. Sie begreifen sich selbst als schwuler Historiker. Wie können Sie objektiv über queere Geschichte forschen?
Ich glaube, dass man nur, indem man sich genau und detailliert auf subjektive Perspektiven einlässt, so etwas generieren kann wie ein annäherungsweise objektives Bild von vergangenem Leben. Ich glaube, es ist falsch, wenn man das als Gegensatz denkt, entweder objektiv oder subjektiv. Weil Wirklichkeit ja immer von einzelnen Subjekten wahrgenommen wird. Ich glaube, man kann Geschichte gar nicht anders schreiben und verstehen als durch eine subjektive Perspektive. Und es kommt eben darauf an, diese Subjektivität möglichst genau zu begreifen. Beispielsweise, inwiefern meine eigenen Vorstellungen die Art und Weise prägen, in der ich queere Geschichte erzähle. Geschichte wird immer subjektiv erlebt. Und dass man am wahrhaftigsten über diese historischen Dynamiken nachdenken kann, wenn man die subjektiven Perspektiven nicht versucht rauszuhalten, sondern sie so ernst nimmt, wie es geht. Und ich glaube, dass das ist es, worauf es ankommt.
Eine letzte Frage: Ist die deutsche Geschichte aus queerer Perspektive eine Erfolgsgeschichte?
Ich würde immer sagen: ja, aber nicht nur. Es ist vor allem keine Erfolgsgeschichte in dem Sinn, dass am Ende alle Probleme gelöst sind und wir jetzt im queer-rosa Paradies leben. Das begreift man ja sehr schnell, wenn man drüber nachdenkt, was zum Beispiel beim CSD in Münster passiert ist oder was tagtäglich passiert an Beleidigungen und Angriffen. Aber trotzdem gibt es natürlich Dinge, die sich zum Positiven gewendet haben. Aber es ist eben vermutlich nie ein kompletter Erfolg. Das ist ein bisschen pessimistisch, aber ich glaube, Diskriminierung wird nicht verschwinden aus dieser Gesellschaft. Und deswegen muss man sich damit nach wie vor auseinandersetzen.
Und es gibt natürlich auch Probleme, die man sich mit dem Erfolg einhandelt, etwa einen Erfolgsdruck. Jetzt dürfen wir heiraten, dann muss die Ehe aber auch perfekt sein. Und es gibt andere unschöne Seiten queeren Lebens, zum Beispiel hat lange Zeit niemand über Gewalt in queeren Beziehungen geredet. Und es hilft nicht, das wegzuschieben, sondern man muss sich damit auseinandersetzen. Aber die queere Geschichte zeigt auch, dass schon früher queere Menschen sich gewehrt und ihr Leben genossen haben.
Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. 272 Seiten. Hanser Verlag. München 2023. Gebundene Ausgabe: 24 € (ISBN 978-3-446-27607-9). E-Book: 17,99 €

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Aber es ist gut, dass es so eine Gesamtschau für Deutschland nun gibt und der Blick etwas von den amerikanischen Auseinandersetzungen weggebracht wird.
Durch deren filmische Erinnerungskultur Wissen junge queere Menschen ja fast mehr über amerikanische queere Geschichte, als die ihres eigenen Landes. Das ist schade.