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Graphic Novel
Queere Nummernrevue zum Wohlfühlen
In ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Comic "Die Blüte von Paris" beschwört Gaëlle Geniller die sinnlich-betörende Welt eines Tanztheaters im Paris der 1920er Jahre herauf. Dabei schließt sie Manga-Ästhetik mit westlichen Genderdiskursen kurz.

Abbildung aus "Die Blüte von Paris": Der 20-jährige Rose führt für das Publikum erotische Tänze auf (Bild: Gaëlle Geniller / Editions Delcourt / Carlsen Verlag GmbH)
20. Mai 2023, 21:44h - 4 Min. Von
Rote Samtvorhänge, entblößte Brustwarzen und grelles Scheinwerferlicht: Das ist die Welt, in die der 20-jährige Rose hineingeboren wurde. Das Tanztheater "Die Blüte" liegt mitten in Paris und wird von Roses Mutter geleitet, Frauen geben hier den Ton an, während Männer nur als Zuschauer erwünscht sind. Das Cabaret ist aber nicht nur Roses Zuhause, er tritt auch zweimal die Woche auf die Bühne und führt für das Publikum erotische Tänze auf. Bald schon wird der androgyne Mann zum Stadtgespräch, und Verehrer scharren sich um ihn. Doch der schnelle Ruhm setzt Rose zu, und er braucht Zeit, um zu sich selbst zu finden.
Visueller Rausch zwischen Manga und Art déco
Das deutschsprachige Debüt der französischen Comic-Künstlerin Gaëlle Geniller betört mit seinen äußeren Reizen: Der Carlsen-Verlag spendiert dem 200-Seiten-Werk eine prächtige Hardcover-Ausgabe, die Genillers Zeichnungen wunderbar zur Geltung kommen lässt. Egal ob Tanztheater, Pariser Cafés, Blumengärten oder ein französisches Dörfchen – die Schauplätze sind in all ihrer Sinnlichkeit eingefangen und machen "Die Blüte von Paris" (Amazon-Affiliate-Link ) zu einem visuellen Rausch.
Dabei verknüpft der Comic japanische Bishōnen-Ästhetik, also die idealisierte Darstellung androgyner Männerkörper, mit eher locker nach französischer Manier gezeichneten Art-déco-Architekturen und verspielten Jugendstil-Elementen. Die ausdrucksstarken Posen der Figuren sind hingegen merklich am amerikanischen Trickfilm geschult. Das Zusammenspiel aus klaren Linien, verschwenderischen Farben, Manga-Effekten und großen, glasigen Augen erweist sich dabei als äußerst stimmig.
Warme Worte und Farben

"Die Blüte von Paris" ist Anfang Mai 2023 im Carlsen Verlag erschienen
Auch erzählerisch versucht Geniller Welten kurzzuschließen: Während die episodische, eher dahinplätschernde Geschichte sich an Slice-of-Life-Mangas orientiert und mehr an melodramatischen Momenten als an Spannungsbögen oder ausgearbeiteten Konflikten interessiert ist, schließen die Figuren mit ihren modern wirkenden Dialogen an aktuelle westliche Genderdiskurse an. Die Tänzerinnen der "Blüte", allesamt emanzipierte, gestandene Frauen, sind nie um ein paar empowernde Ratschläge verlegen, wenn Rose einmal mit seinem Wandeln zwischen den Geschlechtern hadert.
"Die Blüte von Paris" ist ein Comic voller warmer Worte und Farben, eine Wohlfühlgeschichte durch und durch. Das mag genau das sein, was manche Leser*innen suchen, allerdings kann man auf die im wahrsten Sinne des Wortes blumige Welt des Comics auch allergisch reagieren. Vieles bleibt zu sehr an der Oberfläche, die Liebe zum Tanz wird eher behauptet, als dass sie in den Bildern zum Leben erweckt wird. Irritierend ist auch, dass immer wieder Figuren für ein paar Panels auftauchen und dann spurlos verschwinden. Konflikte verpuffen da oft, kaum sind sie angedeutet.
Luftige Fantasie ohne Tiefgang
So wirkt "Die Blüte von Paris" mitunter wie eine weltfremde Fantasie, wo selbst aus dem Menstruationsblut noch florale Muster erblühen und ein Kriegsversehrter nach seiner Rückkehr in die Heimat nicht viel mehr zu verkünden hat, als dass der Krieg immerhin im Innern keine Spuren hinterlassen hat. Auch die zentrale Beziehung zwischen Rose und dem älteren Verleger Aimé (der nicht vielmehr als das Klischee vom armen, reichen Mann bedient, der alles hat und dem doch etwas fehlt) bleibt seltsam luftig. Ob da nun ein erotische oder gar sexuelle Anziehung mitspielt, wird nie deutlich, dazu sind beide Figuren zu sehr keusche Ideale – ganz im Gegensatz zu Genillers Instagram-Account, wo die Zeichnerin ihre Helden befreit von allem narrativem Ballast in aufreizenden Posen und beim Liebesspiel zeigt.
Wem die hübsche Oberfläche aus effektvollen Bildern, diversen Figuren und einer schwelgerischen Stimmung genügt, der wird mit "Die Blüte von Paris" einen kleinen Schatz entdecken können. Freund*innen von Boys-Love-Mangas oder melodramatischen Coming-of-Age-Geschichten sollten zumindest einen Blick wagen.
Wer auf der Suche nach Tiefgang, Abgründen und Spannung ist, dürfte wohl enttäuscht werden. Als herausragender Tanzcomic sei daher an dieser Stelle auf "Polina" von Bastien Vivès verwiesen. Wer wiederum eine stimmungsvolle, erwachsenere Geschichte über Geschlecht und Sexualität im Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts lesen will, dem sei die Serie "Fräulein Rühr-mich-nicht-an" von Hubert und Kerascoet empfohlen.
Gaëlle Geniller: Die Blüte von Paris. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. 224 Seiten. Farbig. Carlsen Verlag. Hamburg 2023. Gebundene Ausgabe: 26 € (ISBN 978-3-03731-249-0)

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