
https://queer.de/?45726
Mailand
Brutale Polizeigewalt gegen trans Frau entsetzt Italien
In einem viralen Video ist zu sehen, wie die Brasilianerin mit Schlagstöcken und Tritten malträtiert wird.

Screenshot aus dem Video
- 26. Mai 2023, 15:50h 6 Min.
Die extrem gewaltvolle Festnahme einer in Italien lebenden brasilianischen trans Frau in Mailand hat zu großer Empörung sowie Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die beteiligten Beamt*innen geführt. Die 42-Jährige, die seit fast 30 Jahren in Mailand lebt, bestreitet zudem erste Darstellungen der Polizei über den Grund des Einsatzes, die von einigen Medien und rechten Politiker*innen mit transfeindlichen Motiven weitergetragen – und von der Staatsanwaltschaft dementiert – wurden.
Zu dem Einsatz kam es am Mittwochmorgen, nachdem Eltern sich bei der Polizei über die Frau beschwert haben sollen: diese sei vor einer Schule bedrohlich gegenüber oder in Anwesenheit von Kindern aufgetreten. Ein inzwischen viral gegangenes Video zeigt, wie vier Beamt*innen zu einem späteren Zeitpunkt gegen die unbewaffnete Frau vorgehen.
Instagram / michelealbiani | Der Stadtrat Michele Albiani veröffentlichte eine in der Bildqualität verunschärfte und mit Trigger-Warnung versehene Version des Videos
|
In dem rund einminütigen, von einem Balkon aufgenommenen Video ist praktisch keine Gegenwehr der auf dem Bürgersteig sitzenden Frau zu sehen, zwischenzeitlich hebt sie flehend die Hände und nimmt ihre Brille ab. Trotzdem erhält sie unter anderem Pfefferspray ins Gesicht und Schlagstock-Einsätze auf ihre Bauchseite und ihren Oberkopf. Beim gemeinschaftlichen Unternehmen, ihr Handschellen auf dem Rücken anzulegen, wird sie noch gegen das Bein getreten. Der sozialdemokratische Stadtrat Michele Albiani verbeitete das Video und sprach von "unmenschlicher Gewalt".
Erfand die Polizei eine Horror-Story?
Seitens Polizei und Polizeigewerkschaft hieß es zunächst, Eltern hätten sich beschwert, die Frau habe vor der Schule Kinder belästigt, dabei sinnloses Zeug gebrüllt und sich entblößt. Die erste eingetroffene Polizeikraft habe sie mit dem Spruch "Ich infiziere dich, ich habe AIDS" bedroht. Im Polizeiwagen habe sie "in einem veränderten Zustand" ihren Kopf gegen Glasscheiben geschlagen und mit einer Haarpinzette Selbstverletzungen angedroht oder durchgeführt. Als die Beamten dann den Wagen stoppten und nach der auf der Rückbank angeblich einen Kollaps vortäuschenden Frau geschaut hätten, habe diese einen Beamten getreten, sei entwichen und habe auf der Flucht einen weiteren Beamten getreten. Danach sei die im Video festgehaltene Szene entstanden.
In mehreren Interviews hat die Frau, die in dem Viertel unter dem Namen Bruna bekannt sei, inzwischen diesen Darstellungen widersprochen. Sie sei an jenem Morgen sehr aufgebracht und im Streit mit anderen Personen gewesen, die sie beleidigt hätten. Sie habe zuvor einen Joint geraucht und am Abend zuvor getrunken. "Ich war high und sehr aufgebracht. Aber ich habe nichts falsches gemacht, ich habe niemanden attackiert."
Es sei nicht wahr, dass sie sich ausgezogen habe. Kinder seien bei der Situation am Rande eines Parks nicht mal anwesend gewesen. Auch habe sie niemandem mit einer Infektion gedroht, zumal sie HIV-negativ sei. Vor Ort und im Polizeiwagen habe sie sich aus Nervosität und Wut gebissen und geschnitten. "Wenn ich wütend werde, werde ich wütend, aber ich bin nicht gewalttätig." Wütend sei sie auch gewesen, weil die Polizei sie mitnahm, aber nicht die fünf Personen, die sie beleidigt hätten.
Sie sei auch im Polizeiwagen von Beamten körperlich angegriffen worden und deshalb geflohen. Zur Szene aus dem Video sagt sie: "Ich saß mit erhobenen Armen da und sagte, sie sollen mich nicht schlagen. Stattdessen habe ich Schläge auf den Kopf, auf die Seite und noch einmal auf den Kopf einstecken müssen. Ich fühlte mich wie ein Hund behandelt." Im Polizeiwagen sei sie weiter geschlagen und beleidigt und vor der Wache für zwanzig Minuten in Handschellen sitzen gelassen worden. Von den vier Beamt*innen sei nur die Frau freundlich zu ihr gewesen und habe sie nicht geschlagen.
Staatsanwaltschaft widerspricht Polizei und ermittelt
Medienberichten zufolge hat die Staatsanwaltschaft angegeben, dass sich der Polizeieinsatz entfernt von einer Schule abgespielt und auf lautes Geschrei bezogen habe; die Frau habe demnach weder Kinder angegangen noch sich ausgezogen. Die Behörde hat Ermittlungen aufgenommen wegen schwerer Körperverletzung unter Missbrauch des öffentlichen Amtes. Zwei Beamte erlitten leichte Verletzungen. Alle vier Beteiligten wurden zunächst in den Innendienst versetzt und auch seitens der Polizei wurden interne Ermittlungen aufgenommen. Die Polizeigewerkschaft hat sich ausdrücklich hinter die Beamt*innen gestellt, ihnen Anwälte besorgt und vom Schutz von Kindern und einem angemessenem Gewalteinsatz gesprochen.

Auf Twitter verbeitet sich eine Version des Videos teilweise mit einem Pseudofaktencheck von mutmaßlich transfeindlichen Akteuren mit widerlegten oder unbestätigten Darstellungen des Geschehens und gezieltem Misgendern
Anwohner*innen berichteten gegenüber Medien, sie hätten Bruna als friedliche Frau kennengelernt. Zugleich sei die Situation in dem Park an der Schule mit Obdachlosen, in dem sie sich aufgehalten habe, über die Jahre zunehmend verwahrlost, Drogen seien ein Problem. Einen Tag später habe es wieder Beschwerden von Eltern über Ruhestörung gegeben. Dass sich Bruna entblößt oder Kinder angegangen habe, sei niemandem zu Ohren gekommen, auch von Augenzeug*innen des Vorfalls nicht. Berichte, die die Darstellung der Polizei stützen, sind etwa von Eltern oder Schule nach dem Vorfall bislang nicht bekannt geworden. [Nachtrag:] Selbst die Schulleitung berichtete, ihr sei kein Vorfall mit der Frau oder Elternbeschwerden über sie bekannt.
In sozialen Netzwerken zeigten sich viele Menschen über das Video und die Polizeigewalt entsetzt, zugleich hielten viele mit den Schilderungen aus Polizeisicht dagegen, oft mit transfeindlichen Kommentierungen und unter Misgendern der Frau. Ähnlich verbreiteten auch transfeindliche Aktivist*innen weltweit den Vorfall – oder in Italien Politiker*innen der rechten, queerfeindlichen und an der Bundesregierung beteiligten Parteien Lega und Fratelli d'Italia.
Italienische Trans- und LGBTI-Verbände kritisierten hingegen den Einsatz. Die Gruppe Movimento Identità Trans betonte, man sei schockiert, aber nicht überrascht. Hier zeige sich nicht ein Fehlverhalten Einzelner, sondern die "alltägliche Gewalt eines Systems, das von seinen Wurzeln bis zu seinen Zweigen völlig verrottet ist" und sich hinter dem Schweigekodex der Uniformen verstecke. "Es ist die Gewalt eines Unterdrückungssystems, das uns zermalmen will, weil es Angst vor uns hat: vor unserer Freiheit, Fabelhaftigkeit und Selbstbestimmung. Wir sehen es seit Monaten und prangern es seit Monaten an: Wir sind Zielscheiben eines blinden, vulgären und kleinlichen Hasses; ein feiger und faschistischer Hass."
Sie könne sich das Video nicht ansehen ohne zu zittern, kommentierte die frühere trans Parlamentsabgeordnete Vladimir Luxuria. "Diese kleinen Männer verdienen nicht die Uniform, die sie tragen, und ich hoffe, dass man sie ihnen bald wegnimmt." Viele Stimmen stellten die Gewalt als Ausdruck und Konsequenz einer transfeindlichen Stimmungsmache in Medien, sozialen Netzwerken und Politik dar, auch Rassismus und soziale Unterschiede wurden angeprangert. Luxuria sprach von einem "Klima an Transphobie und Gewalt, das ohne Wenn und Aber zu verurteilen ist", und appellierte an die Gesellschaft, "über das Klima des Hasses nachzudenken, das von einer bestimmten Politik geschürt wird, die zwanghaft von der Bedrohung durch die Gender-Ideologie spricht." Denn: "Trans Lives Matter". (nb)
Nachträglich um Medienbericht ergänzt, der Schulleitung sei kein Vorfall mit der Frau bekannt. Weitere Meldungen mit Dementi der Staatsanwaltschaft: 20 Minuten oder Euronews. Mit den falschen Twitter-Kontext-Hinweisen befasst sich das italienische Wired.
