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Buchtipp

Jung, jüdisch und schwul

Maurits de Bruijns autobiografische Erzählung "Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht" ist ein gelungener, moderner Versuch, die Verantwortung der Nachgeborenen wahrzunehmen.


Symbolbild: Jüdische Schwule bei der Pride-Parade 2018 in New York City (Bild: IMAGO / Hans Lucas)

Ich erinnere mich an eine alkoholselige Unterhaltung aus jungen Studierendentagen, während derer eine besonders angetrunkene Person auf dem Rücksitz eines Nachtbusses ungefähr folgenden Satz sprach: "Also ich bin neidisch auf die Juden wegen dem Holocaust. Ich hätte auch viel lieber so eine spannende Geschichte!"

Das löste einen bereits zuvor schwelenden Streit unter allen Anwesenden erneut flammend aus. Ich muss direkt gestehen, dass ich nicht mehr sicher sagen kann, ob ich mich wirklich an diese Unterhaltung erinnere oder ob es sich um ein Versatzstück aus zum Beispiel einem Buch handelt, das zu meiner eigenen Erinnerung geworden ist. Doch zuliebe des roten Fadens: Ich musste an diese Nacht zurückdenken, als ich Maurits de Bruijns "Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht" (Amazon-Affiliate-Link ) las.

Queere Ergänzung im Kanon der Nach-Auschwitz-Literatur

Es gibt nur noch wenige direkte Überlebende der Shoah, irgendwann wird es nur noch Nachkommen geben, keine Augenzeug*innen mehr. Mit dieser Aussicht ist es an den Hinterbliebenen, eine erneut neue Art zu finden, das Erinnern zu bewahren. Auch um solchen Ansichten zu begegnen, es handle sich um ein besonderes Merkmal, das gar beneidenswert sei.

Ich habe nicht versucht, den Autor zu fragen, ob er sich mit seinem Buch auch gegen solche Ansichten richtet (Was eine kunstschaffende Person mit ihrem Kunstwerk bewirken will, bevorzuge ich vom Kunstwerk selbst, nicht von der Person zu erfahren). Die gekonnt von Lisa Mensing ins Deutsche übertragene "autobiografischen Erzählung", wie das Buch auf der Seite des Verlages bezeichnet wird, scheint mir auch aus sich selbst heraus eine durchaus lohnende Ergänzung im Kanon der Nach-Auschwitz-Literatur zu sein.

Eine Reise durch die Erinnerungen, durch das Leben


"Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht" ist im April 2023 im Verlag w_orten & meer erschienen

Zum Inhalt von "Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht": Der junge Maurits ist zwölf, fast 13 Jahre alt, als sein Vater 1996 mit ihm eine Reise nach Israel unternimmt. Dort erfährt er: Er ist Jude. Dass seine Mutter Jüdin ist, wusste er. Dass er damit auch jüdisch ist, war ihm nicht bewusst. Doch dass ihm das bisher niemand erklärt hatte, passt ins Bild. Als jüngster von vier Söhnen, fühlt sich das Leben für Maurits oft an, als spiele er ein Spiel, zu dem ihm niemand die Regeln erklärt hat. Was es bedeutet, dass seine Mutter den Holocaust überlebte, während alle ihre Angehörigen starben, erfährt Maurits jedoch nicht während der Israelreise Mitte der 1990er Jahren, sondern erst viel später.

Maurits de Bruijn, der mit dem Erzähler seines Buches mehr als nur den Vornamen teilt, hat sich keinen einfachen Titel ausgesucht. Das niederländische Original "Ook mijn Holocaust. Een reisverslag van 6 dagen en 35 jaar" (zu deutsch also etwa: "Auch mein Holocaust. Ein Reisebericht über sechs Tage und 35 Jahre") wurde im Deutschen zu "Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht". Sehr lang und etwas umständlich. Nicht gerade dafür gemacht, um mit Kaufabsicht fehlerfrei in der Buchhandlung aufgesagt zu werden. Doch in gewissem Sinne passt durchaus ein widerständiger Titel zu einem Buch, das sich mit Widerständen und Widrigkeiten durch Marginalisierung und Ausgrenzung beschäftigt.

Wie der Originaltitel klarmacht, ist "Wie ich merkte…" die Geschichte von zwei Reisen. Die eine führt gewissermaßen zum Buch selber und ist die Lebensreise der gesamten Familie. These und Thema der Erzählung ist es, dass Traumata erblich sind. Dass Verletzungen und Verluste von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. So sehr sich Maurits auch wünscht, dass sich einmal bei einem Date die Shoah nicht mit an Tisch setzen würde, er kann dem Erbe seiner Familie nicht entkommen. "Woher kommt deine Familie?" "Was machen deine Eltern?" "Leben deine Großeltern noch? "In alltägliche und unschuldige Fragen wie diese ist für Maurits das Leid der Vergangenheit eingeschrieben.

Von traumatischen Erbschaften

Es gilt, zu akzeptieren und anzunehmen, was nicht abgelegt und dem nicht ausgewichen werden kann. So wird es andersherum für Maurits zum Prüfstein, als er seinen späteren Freund kennenlernt, dass dieser nur richtig nachfragt. Für ihn ist die Erfahrung, Jude zu sein, nicht zu trennen von seinen Erfahrungen als schwuler Mann. Was "Wie ich merkte…" auszeichnet, ist die gelungene Verschränkung ganz unterschiedlicher biografischer Motive. Anhand der vier Söhne wird durchdekliniert, wie unterschiedlich die Reaktionen auf das vererbte Trauma sein können, exemplifiziert an der queeren Perspektive des Erzählers.

In den Passagen über die Familie ist die vermeintliche Erzählung am stärksten. Es hat eine annähernd märchenhafte Qualität, wenn immer wieder die Rede ist von "dem Bruder, der blieb" oder "der Frau, die nicht meine Großmutter werden würde". Die zerrissenen und geflickten Bande, die die Familienbiografie durchziehen, werden sprachlich überdeutlich hervorgehoben. Die Reflexion darüber, welchen Einfluss die Sprache auf das Erzählte hat, macht hier nicht beim Gender­stern halt, sondern bemüht sich auf sehr lesbare Weise, weitere intersektionale Dimensionen, die das Leben aber eben nicht minder prägen können, einzuflechten und sprachlich sichtbar zu machen: Klasse, Herkunft und Abstammung, ebenso wie Sexualität und Geschlecht.

Ein neuer Glaube statt der Religion

Neben dem direkten Trauma, beleuchtet Maurits de Bruijn auch ausführlich den Charakter der Religion und des Glaubens. Die Frage nach dem Wert der Religion scheint schließlich unumgänglich, wenn über die Shoah gesprochen wird. Leider weist "Wie ich merkte…" hier die deutlichsten Schwächen auf. Während auch diese Passagen sprachlich solide sind, verflachen die Ausführungen zu Glaube und Religion ein wenig. Die Einsichten, die de Bruijn liefert, die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, bleiben etwas fade.

In einer Passage wird von einer Jugendfreundschaft zu einem Mädchen berichtet, das aus einem sehr gläubigen christlichen Haushalt stammt. Die beiden stehen sich als Kinder sehr nahe. Als in der Jugend dann eine sexuelle Dimension in ihr Leben eingezogen wird – weniger von den beiden selber, die sich zueinander hingezogen fühlten, sondern durch die Eltern des Mädchens, die entscheiden, die beiden seien zu alt, um noch im selben Zimmer zu schlafen -, wächst die Distanz zwischen ihnen. Als Maurits ihr schließlich in jungen Erwachsenenjahren seine Homosexualität offenbart, reagiert sie abweisend und erklärt, er versündige sich vor Gott. Auf der einen Seite ist die Jugenderinnerung schön erzählt. Auf der anderen ist das etwas schulterzuckende Resümee "Sie verhält sich so, wie sie es in ihrer religiösen Familie gelernt hat" dann etwas flach.

Die religiöse und die geschlechtliche Identität als verbundene und untrennbare Faktoren zu betrachten, ist eine in vielen Fällen wohl wertvolle Sichtweise. Vor kurzen erschien im Männerschwarm Verlag ein Sammelband mit Texten von Hugo Marcus, einem Intellektuellen der Weimarer Republik, der sich selbst auch explizit als schwul und jüdisch begriff. Heute ist dieser Paarung eine ganz eigene Mischung der Verletzung eigen, die de Bruijn durch seine generationsübergreifende Perspektive zu fassen versucht. Seine essayistische Herangehensweise, die es auch etwas merkwürdig erscheinen lässt, dass das Buch vom Verlag als zwar autobiografische, aber doch als "Erzählung" beworben wird. Doch sei es drum, es werden vermutlich solide Überlegungen zur Vermarktung dahinterstehen.

Es ist diesem kurzen und angenehm lesbaren Buch Erfolg zu wünschen. In einer Zeit der verschwindenden Zeitzeug*­innen ist eine Besinnung auf das Erbe der Geschichte von offenkundiger Bedeutung. Mit der Weitergabe der Traumata und des Schmerzes geht nämlich auch ein Erbe der Verantwortung einher. Maurits de Bruijns "Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht" ist ein gelungener, moderner Versuch, die Verantwortung der Nachgeborenen wahrzunehmen. In einer Zeit, in der konservative Stimmen wieder beginnen, Leid als etwas Erstrebenswertes darzustellen, in der der Kritik einer jungen Generation gerne mit dem Argument begegnet wird, sie sei verweichlicht, es sei der Krieg, der echte Männer mache, und so weiter – im Angesicht dessen ist es notwendig, das Erinnern immer wieder neu auszugestalten. Im Sinne eines ernstgemeinten "Nie wieder."

Infos zum Buch

Maurits de Bruijn: Wie ich merkte, dass die Shoah nachts an meinem Bett steht. Eine autobiografische Erzählung. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. 200 Seiten. Verlag w_orten & meer. Hiddensee 2023. Taschenbuch: 18 € (ISBN 978-3-945644-36-2).

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#1 goddamn liberalAnonym
  • 28.05.2023, 14:36h
  • Die die Familien über Generationen prägenden Traumata von Holocaust und auch anderen Nazi-Genoziden werden von der anderen Seite, deren Nachkommen hier auch heute noch die Schlüsselpositionen innehaben, gerne vergessen.

    Das hat System.
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