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Debatte um geschlechtergerechte Sprache
Gendern hier, Gendern da. Es nervt! Habt ihr keine anderen Probleme?
Jeden Tag Theater um Gendersternchen, Glottisschlag und Co. Jeja Klein kann es nicht mehr hören und wütet zurück. Um danach dann doch ein wenig Verständnis aufzubringen.
27. Mai 2023, 11:25h 8 Min. Von
Leute, es nervt. Seit geraumer Zeit begleitet uns alle ein ständiges, theatralisch-wütendes Grundrauschen der Einlassungen gegen geschlechtergerechte Sprache. Und ich kann es nicht mehr hören.
Denn es sind ja gerade, ausgerechnet, diejenigen, die mit ritualisiertem Sprücheklopfen à la "Haben wir keine anderen Probleme?" tagein, tagaus dokumentieren, dass ihnen selbst die Fantasie fehlt, wo in unserer Gesellschaft dringender Verbesserungsbedarf besteht oder man sich mal zurecht aufregen könnte – abseits von harmlosen Glottisschlägen im gesprochenen Wort oder einem Sternchen im Text.
Nun hat Berlins neuer Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) versucht, aus der Dauererregung Kapital zu schlagen (queer.de berichtete). In Hamburg visieren ganz rechtsaußen angesiedelte Anti-Gender-Streiter*innen einen Volksentscheid an (queer.de berichtete). Und auch andernorts wittern Verbotswillige Morgenluft.
Dass geschlechtergerechte Sprache jedoch auf so viele Menschen wirkt wie das rote Tuch auf den spanischen Stier, könnte zum Nachdenken anregen. Zum Beispiel über den Schmerz, den bereitwillig über sich ergehen lassen muss, wer in diesem Leben nicht unter die Räder geraten will.
Machen "Gender"-Gegner*innen auch mal Urlaub?
Klar, den meisten – ewig-gleichen – Hinweisen auf die eigene "Gender"-Gegner*innenschaft begegnet man in allen möglichen Kommentarspalten. Ständige, anderen vor die Nase geklatschte Wut gehört ja eh zur Folklore des Internets – und damit zu unserer kümmerlichen Kultur. Könnte man auch mal drüber nachdenken.
Zum Bild gehört aber auch, dass man gefühlt jeden einzelnen Tag in Zeitungen wie der "Welt" einen neuen literarischen Anschlag auf das "Gendern" entdecken kann – nicht selten vorgetragen in einem Duktus, als sei dieser eine Text jetzt wirklich die letzte abgefeuerte Patrone, die finale Demaskierung von Gaga-Feminismus und Trans-Bewegung, der endgültige Sargnagel der geschlechtergerechten Sprache. Wenn die Woke-Nervensägen das hier gelesen haben, dann ist endgültig SCHLUSS mit dem Gegendere, brüllt es einen schon beim Morgenkaffee durchs Smartphone-Display an. Und dann ist aber immer überraschenderweise gar nicht Schluss, und schon am nächsten Tag kann man sich wieder aufregen. Vielleicht ist das ja der Sinn der ganzen Übung?
Ein paar Beispiele der letzten Wochen, alle von besagten Springer-Kolleg*innen: "Gendern: Der fundamentale Irrtum der Gender-Sprachbewegung", "Viele junge Leute können fehlerfrei gendern – aber kennen den Konjunktiv nicht mehr", "Sprache: Gendern ist einfach, sollte eine Studie beweisen – es ging schief", "Gendern: Warum es keiner richtig macht – auch wenn er sich noch so sehr bemüht", "Sprache: Wie Gendern das Grundrecht auf Verständlichkeit missachtet". Machen Gegner*innen der geschlechtergerechten Sprache eigentlich auch mal Urlaub? Zu gönnen wäre es ihnen.
Die bemerkenswerte Projektionsbereitschaft der Anti-Gender-Wut
Warum nur diese Dauer-Erregung? Woher die Bereitschaft, wegen einer im Verhältnis doch so fürchterlich unwichtigen Angelegenheit über Monate, Jahre ins mentale Wehrdorf umzuziehen? Ein ganz großer Teil der Erklärung scheint mir zu sein: Weil man damit so prima von anderen Themen ablenken kann. Soziale Gerechtigkeit etwa.
Was mich vor allem immer wieder erstaunt, sind die dabei vorgetragenen Zuschreibungen, wonach es die Linken, die "Woken", die "Identitätspolitik" seien, die mit Kultur- und Sprachthemen statt mit Wirtschaft oder Arbeit in Wahlkämpfe zögen und sich dann nicht wundern müssten, wenn sie dafür an der Urne abgestraft würden.
Bei kaum einem anderen Thema scheint es eine so große und weitverbreitete Projektionsbereitschaft zu geben – allein, dass sich niemand in Deutschland selbst "woke" nennt, dafür aber umso mehr ihre Anti-Wokeness als Identitätsmarker vor sich hertragen. Es ist, als wollte man sich nicht mit Kanonenschüssen auf Spatzen aufhalten, sondern von vornherein mit voller Breitseite in den strahlend-blauen Himmel ballern. Hinterher heißt es so unter Garantie: Treffer, versenkt! Im Vergleich dazu ist der Umgang mit der Letzten Generation ja von traumhafter Sachlichkeit geprägt.
Ganz anders beim "Gendern": Das antigenderistische Aufstandstheater wähnt sich am liebsten von knüppelharten Bevormundungen unterjocht, von einem Polizeistaat à la George Orwell. "Gendern" kommt "von oben", von "der Elite", der das gesunde Empfinden des kleinen Mannes (no pun intended) herzlich egal ist. Und das ist noch der mildeste Fall. Von hier bis zur vollendeten Weltverschwörung à la Putin ist es weniger weit als ihr meint. Der durchgeknallte Oberzampano von Moskau hat bei der völligen Abkopplung von der Realität, imaginär umstellt von Transgender-Frühsexualisierer*innen in NATO-Uniform, den Regler nur ein klein bisschen weiter ins Abseits gedreht als ihr. Naja, und er kann außerdem der russischen Armee sagen, wo's langgeht. Am Ende jedoch ist alle Gewalt aus Sicht des Gewalttäters immer Selbstverteidigung.
Wie aber halten so viele eigentlich aufgeklärte Menschen die kognitive Dissonanz aus, gegen Sprachzwang und Verbote in die Schlacht zu ziehen und dabei vor allem Forderungen nach Verbot und Zwang von oben aufzustellen? Wie kann sich eine Sabine Mertens, Sprecherin der Hamburger Anti-Gender-Initiative, wie eine Widerstandskämpferin aus dem Schoße des Volkes inszenieren, während zum Beispiel der Verlag, den sie wegen ungenehmigter Änderungen an einem von ihr geschriebenen Buch verklagt hat, ausgerechnet "Manager Seminare" heißt? Ja seid ihr denn alle Manager, Wirtschaftsfunktionäre, die ihr so wütend seid? Seid ihr Anlegerinnen an der Frankfurter Börse? Oder nicht vielmehr Heizungsbauer, Einzelhandelskauffrauen, kleine Beamte in der Verwaltung einer 20.000-Seelen-Gemeinde, Softwareentwicklerinnen?
Der Schmerz des Erwachsenwerdens
Ist es vielleicht genau das? Als Heizungsbauer, als Einzelhandelskauffrau bedeutet das Großwerden in dieser unserer Gesellschaft zunächst einmal Schmerz. Gefälligst hat man ein Mann zu werden, der "weiß, was er will", eine annehm- und vorzeigbare Frau – um von den Mitschüler*innen, den Lehrer*innen, von der Chefin oder dem Vermieter nicht ständig auf den Deckel zu kriegen. Morgens im Bett liegen bleiben, das "fickt euch doch" an die, die ständig mit Hausaufgaben, Klausuren, Noten und "denk doch an die Zukunft!" nerven, müssen wir unterdrücken. In nur 30 Tagen zum knackigen Super-Booty, du faules Stück Scheiße!
All die nur zu menschlichen Eigenschaften, die diesem Idealbild entgegenstehen, lernen wir im Lauf von Kindheit und Pubertät abzustreifen – manche mehr, manche weniger. Zu viel Gefühlsseligkeit, Trauern und Weinen, Schwäche zeigen, Anhänglichkeit an die liebe Mama, bedeuten für Jungs, sich handfeste Abreibung von der Peergroup abzuholen. Es bedeutet, in der sozialen Hierarche nach unten gezogen zu werden wie ein Schwimmer in tosendem Meer. Mann – pardon – kleiner Junge über Bord!
Und ihr "richtigen" Frauen: Ständig halten so viele von euch den Mund und verstecken ihre wahren Gedanken hinter Freundlichkeit und Umgänglichkeit bis hin zu gefälliger Aufmerksamkeit – vor allem für das "andere" Geschlecht. Wie viel Zeit und damit Arbeit investiert ihr, an euch und eurem Äußeren zu feilen, nur, damit man euch in Ruhe euer Leben führen lässt? Eine Frau ist eben so und so, ein Mann nunmal so und so, heißt es. Das ist eben die Biologie, die Natur der Dinge – warum sich dagegen auflehnen, darüber aufregen? Wer will schon das eigene gegen das sicher ganz jämmerliche Leben der notorischen Kampflesbe eintauschen, die doch damals parallel in die 9c gegangen war und mit der keiner abhängen wollte?
… und die Erinnerung daran, dass es auch anders ginge
Und jetzt auf einmal erinnern gesprochene Pausen zwischen "Schüler" und "innen", wie es sie zwischen "Spiegel" und "Ei" schon immer gab, daran, dass Menschen existieren, die anscheinend nicht all den Schmerz, all die Mühe, all die investierte Zeit und Lebenskraft zur Anpassung auf sich nehmen. Menschen, die sich scheinbar nicht, wie ihr, dem selben demütigenden Prozess der Subjektwerdung unterwerfen wollen.
Das Sternchen zwischen zwei Buchstaben – erinnert es euch daran, dass es möglich sein könnte, die Frechheit zu besitzen, wenigstens einige dieser von klein auf mitgebrachten Eigenschaften zu behalten? Statt sie sich abzuschneiden, um sich ins Korsett des erfolgreichen bürgerlichen Teilnehmer oder der erfolgreichen bürgerlichen Teilnehmerin am lieben Arbeitsmarkt zwängen zu können und am Ende, so Gott will, mit einem Eigenheim gesegnet zu werden?
Was ein Arno Dübel (Rest in Power), bekannt geworden als "Deutschlands frechster Arbeitsloser", in Sachen Lohnarbeit ist, sind geschlechtliche Minderheiten in der Geschlechterfrage. Sie strengen sich einfach nicht genug an. Sie wollen gar nicht. Für sie bedeutet "Freiheit", sich dem ganzen Ernst des Lebens nicht zu stellen, den ihr als eure Eigenverantwortung begreift. Und dann verhöhnen sie euch auch noch!
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Im kapitalistischen Patriarchat erwachsen zu werden, seine Funktion in diesem Leben einzunehmen, bedeutet, sich der Strafe zu entziehen, die andernfalls droht: die Strafe eines misslungenen Lebens. Die Strafe, nicht im Sommer nach Mallorca fliegen, seine Kinder zum Fußballverein fahren, am Abend noch ins Kino gehen zu dürfen. Strafe droht denjenigen, die die ganze Übung nicht mitmachen, sich ihr verweigern.
Ihr habt euch nicht verweigert. Das ist in Ordnung. Wirklich! Und: In Wahrheit strengen auch wir Nichtbinären uns, für die das Sternchen ja steht, und auch die anderen geschlechtlichen Minderheiten ganz schön doll an. So gut wir können. Ich zum Beispiel bin das erste Kind meiner Familiengeschichte, das ein Gymnasium von innen gesehen hat. Und ich bin sicher: Am Ende wollen auch die "Manager Seminare"-Leser*innen von Sabine Mertens – die da oben – vor allem ihr kleines großes Glück. Sie stellen sich vielleicht nur etwas ungeschickter dabei an, das auf eine sozialverträgliche Weise zu tun.
Nicht in Ordnung aber ist es, jetzt darauf zu bestehen, dass die angedrohte Bestrafung, die Missachtung, das Verscheuchen von der Sonnenseite des Lebens nun auch ausgeführt werden. Nur, damit ihr von eurem Schmerz in euch nicht allzu laut darauf aufmerksam gemacht werdet, wie gemein, wie unfair, wie demütigend manchmal der lange, steinige Weg bis hierhin eigentlich gewesen ist? Und dass auch ihr euch eigentlich ein Leben gewünscht hättet, das wenigstens ein bisschen weniger anstrengend ist? Eines, in dem ihr euch ein kleines bisschen weniger hättet verbiegen müssen?
Ja, und genau so geht es uns auch. Das könnte doch der geteilte Boden sein, auf dem wir ins Gespräch kommen.

Äh, was?
Zum einen ist die Abgrenzung von der "Normalität" auch ein schmerzhafter Prozess und es gibt genügend Anpassungsdruck auch in der Community. Da gibt es doch auch die Stimmen, dass alle bitte normschön, durchtrainiert, etc etc sein sollen.