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Jugendroman
"Mein Bruder heißt Jessica" ist literarisch und pädagogisch ein Reinfall
Erfolgsautor John Boyne will mit seinem Jugendroman "Mein Bruder heißt Jessica" für mehr Akzeptanz von trans Menschen eintreten. Leider ist das Buch unbedingt zu vermeiden.
29. Mai 2023, 11:56h 5 Min. Von
Großbritannien ist ein konservatives Land. Das merkt der junge Sam von klein auf, seine Mutter ist ein aufstrebender Star in der Politik, macht Karriere in ihrer Partei und biedert sich mit geradezu begeisterter Unterwürfigkeit bei den konservativen Schichten der wahlberechtigten Bevölkerung an. Nichts darf am Außenbild der perfekten, traditionellen Familie kratzen. Da kommt es wenig überraschend sehr ungelegen, als Sams älteres Geschwisterteil sich als trans outet. Für die Eltern eine Katastrophe, weil sie eine PR-Skandal auf sich zukommen sehen. Aber auch für Sam ein Schock: Die große, sportliche, beliebte Person, die bei allen Mädchen beliebt ist, soll angeblich seine Schwester sein?
Um das Pferd einmal von hinten aufzuzäumen, zu Beginn ein Blick ins Nachwort: Darin erklärt Autor John Boyne zwei interessante Dinge. Zum einen seine Absicht, mit "Mein Bruder heißt Jessica" für mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Verständnis für trans Menschen zu werben. Zum anderen sei das Schreiben für ihn eine Methode, Dinge und Lebensrealitäten zu ergründen und zu verstehen, die gerade nicht der eigenen entsprechen. Dass dieser Ansatz nicht besonders ideal ist, hat Boyne bereits in der Vergangenheit bewiesen, ohne das selbst wahrscheinlich zu wissen.
Gefahrenpotential der Literatur

"Mein Bruder heißt Jessica" ist im Mai 2023 bei Fischer Kinder- und Jugendbuch neu als Taschenbuch aufgelegt worden
1971 in Irland geboren, ist John Boyne ein erstaunlich produktiver Schreibender. Stand Mai 2023 veröffentlichte er 23 Romane in den letzten 23 Jahren. Dabei schreibt er nicht nur für junge Lesende, zuletzt erschien auf Deutsch etwa der psychologische Thriller "Die Geschichte eines Lügners".
Vielen Lesenden dürfte er durch seinen internationalen Bestseller "Der Junge im gestreiften Pyjama" bekannt geworden sein, der inzwischen Schullektüre ist und erfolgreich verfilmt wurde. Darin erzählt Boyne von einer Freundschaft zwischen einem Jungen im KZ und dem Sohn des SS-Aufsehers ebenjenes Konzentrationslagers. Ein Jugendroman, der so offensichtlich gute Absichten hat, dann aber durch Unwissenheit oder Ignoranz sein Ziel um 180 Grad verfehlt und Schaden anrichtet, wo er doch Gutes bewegen will. Wenn Boyne sich mit dem Holocaust befasst, geht er mit den historischen Tatsachen zu Gunsten der emotionalen Wirkung derart frei um, dass er am Ende die Verbrechen der Nazizeit verharmlost.
Im Jugendroman "Mein Bruder heißt Jessica", der im Mai neu als Taschenbuch aufgelegt wurde, holzhämmert Boyne nun ähnlich am Thema "Trans" vorbei. Für Sam, der nicht nur der Protagonist, sondern auch gleich noch der Erzähler der Geschichte ist, ist es vollkommen unbegreifbar, dass der Mensch, den er als seinen Bruder kennt, sich als seine Schwester Jessica identifiziert. Dieses kindliche Unverständnis drückt sich auf merkwürdig schwanzfixierte Weise aus. Zum einen stört sich in jedem Kapitel jemand am Pferdeschwanz, zu dem das Kind seine Haare gebunden trägt. Das wirkt etwas aus der Zeit gefallen. So stört sich doch nicht wirklich jemand in den 2020er Jahren an männlich gelesenen Jugendlichen mit langen Haaren. Doch auch vom anachronistischen Charakter abgesehen: Die Trans-Identität an der Frisur festzumachen, ist eine etwas platte und sehr oberflächliche Sichtweise. Zum anderen aber muss gefühlt alle paar Seiten ausgerufen werden, dass das Kind doch unmöglich ein Mädchen sein könne, wo es doch einen – Zitat: "Pimmel" hat!
Die wenig einfühlsame Herangehensweise ist natürlich der Perspektive geschuldet. "Mein Bruder heißt Jessica" lässt den jungen Sam die Geschichte selber erzählen und will durch derartige Direktheit die kindliche Unbedarftheit zum Ausdruck bringen. Die Absicht ist klar, die Umsetzung mangelhaft. Sams Erzählung liest sich weniger unschuldig als vielmehr idiotisch. Autor Boyne scheint kein Verständnis mehr dafür zu haben, was es bedeutet, ein Kind zu sein.
Sprachlich mangelhaft
Neben der Blödigkeit, die Boyne seinem Erzähler unterschiebt, verfehlt er vollkommen, eine glaubhafte und packende Kinderstimme zu konstruieren. Sam spricht so haarsträubend offensichtlich wie eine erwachsene Person es gerne hätte, um auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen. Auf jeder Seite springt die Konstruiertheit dieser kindlichen Sprache aus den Seiten den Lesenden entgegen. Unterstrichen von absolut schalen Kalauern, die eher an Karnevals-Cabaret von vor 25 Jahren erinnern als an Jugendroman der Gegenwart.
Immer wieder gibt es politische Seitenhiebe, die vermutlich für mitlesende Erwachsene geschrieben sind, aber auch diese nicht wirklich unterhalten dürften. Klischeebilder und nationale Stereotype müssen heute schon gekonnter eingesetzt werden. So ist für Sams Vater die Vorstellung, er könnte einen Menschenfresser in der Familie haben, eine katastrophale Vorstellung, vor allem für das Image seiner Frau in der Politik. Schlimmer als ein Kannibale ist dann noch die Fantastik: ein Vampir in der Familie. Am schlimmsten aber wäre: ein Franzose.
Es kann natürlich über alles Witze gemacht werden. Die müssen dann aber zumindest auch lustig sein. Hier ist nichts lustig, sondern extrem gezwungen und konstruiert, bis hin zur Nervigkeit. Es ist dem Buch auf ganzer Strecke anzusehen, was Boyne im Nachwort erklärt: Er schreibt über etwas, das er nicht kennt.
Das ist aber ausdrücklich nicht das Problem. Boyne hat recht, wenn er sagt, dass das nicht verboten, sondern sogar eine gute Voraussetzung für die schreibende und erzählende Kunst ist. Jedoch muss das dann auch gelingen. Oder wie die Autorin Ronya Othmann es in der "taz" ausdrückte: "Anstatt zu fragen, wer darf was schreiben, muss es heißen, wer kann was schreiben?" – "Mein Bruder heißt Jessica" ist nicht deshalb schlecht, weil ein cis Mann eine trans Geschichte schreibt, sondern weil er die Geschichte extrem schlecht schreibt.
Es mag wirken, wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, ein Jugendbuch derart zu kritisieren. Doch dieser Sichtweise wohnt dieselbe Fehlannahme inne wie dem Buch: Es ist Literatur für Kinder und Jugendliche, die darf und muss nicht so ernst genommen werden. Gerade Medien, die sich an junge Menschen richtet, die in einer Lebensphase sind, in der sich ihre Sicht auf die Welt und ihr Geschmack ausbilden, sollten kritisch beleuchtet werden. Wer denkt, dass Bücher und Filme für Kinder und Jugendliche ruhig blöde und qualitativ minderwertig sein dürfen, verkauft die jungen Lesenden am Ende eben auch für blöd.
John Boyne: Mein Bruder heißt Jessica. Roman. Übersetzt von Adelheid Zöfel. 256 Seiten. Fischer Kinder- und Jugendbuch. Frankfurt 2023. Taschenbuch: 10 € (ISBN 978-3-7335-0640-7). E-Book: 8,99 €

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Schade, dass der Autor seine Reichweite nicht genutzt und eine gründlich recherchierte Geschichte veröffentlich hat.
Alleine der extrem ausgelutschteTitel mit "Mein namens " hat mich schon stutzig werden lassen.
Fällt cis Autor*innen oder Verleger*innen da wirklich nichts cleveres ein?
Hoffentlich wird das Buch nicht auch seinen Weg
in die Schulen finden - anstelle weniger bekannter aber besserer Werke von trans Autor*innen.