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Debatte
Queerbeauftragter kritisiert Selbstbestimmungsgesetz-Entwurf der eigenen Regierung
Der Gesetzentwurf, der trans, inter und nichtbinären Menschen endlich die Selbstbestimmung ermöglichen soll, ist nach Ansicht von LGBTI-Aktivist*innen und dem Queerbeauftragten an mehreren Stellen nicht das Gelbe vom Ei.

Der Grünenpolitiker Sven Lehmann hat einige Ideen, wie man das Selbstbestimmungsgesetz verbessern kann – doch spielt das FDP-geführte Justizministerium mit? (Bild: Deutscher Bundestag / Thomas Köhler)
- 31. Mai 2023, 12:35h 4 Min.
Der Ende April vorgestellte Referentenentwurf des Selbstbestimmungsgesetzes wird von queeren Organisationen in mehreren Teilen scharf kritisiert. In ihren an die Bundesregierung übergebenen Stellungnahmen wird zwar gelobt, dass das Transsexuellengesetz nach jahrelangen Diskussionen endlich abgeschafft werden soll. Allerdings beinhalte der aktuelle Gesetzestext mehrere fragnwürdige Passagen.
So kritisierte auch der Queerbeauftragte Sven Lehmann (Grüne) den Entwurf von Justiz- und Familienministerium – obwohl er doch selbst Staatssekretär im Bundesfamilienministerium ist, das den Referentenentwurf mitvorgestellt hatte. Zwar sei der Entwurf "ein Meilenstein nach über 40 Jahren diskriminierendem Transsexuellengesetz! Es braucht aber noch Verbesserungen", erklärte Lehmann auf Twitter.
Twitter / svenlehmannAls Queer-Beauftragter der Bundesregierung habe ich eine Stellungnahme zum #Selbstbestimmungsgesetz Entwurf eingereicht.
Sven Lehmann (@svenlehmann) May 30, 2023
Das Gesetz ist ein Meilenstein nach über 40 Jahren diskriminierendem Transsexuellengesetz! Es braucht aber noch Verbesserungen.https://t.co/r83Rm4E6HS
In einem achtseitigen Brief (PDF) erläuterte er mehrere Änderungswünsche. Dabei handelt es sich um bereits in den letzten Wochen von queeren Verbänden kritisierte Einschränkungen, konkret erstens um den Verweis auf das Hausrecht, also die mögliche Abweisung von trans Menschen wegen ihrer Transidentität in privaten Einrichtungen, zweitens um die "unnötige" dreimonatige Wartezeit bis zur Anerkennung des neuen Geschlechtseintrags und drittens um die "zu vielen" Ausnahmen beim sogenannten Offenbarungsverbot, also dem Schutz vor einem Zwangsouting.
Lehmann verwies dabei auf mehrere Widersprüche im Gesetz. So würde etwa an einer Stelle suggeriert, dass trans und inter Menschen "der Zugang zu Einrichtungen, Räumen und Veranstaltungen verweigert werden kann", an anderer Stelle werde aber auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hingewiesen. Bereits im März hatte die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes erklärt, dass das Selbstbestimmungsgesetz das AGG nicht einfach aufheben könne (queer.de berichtete). Die widersprüchlichen Aussagen im Gesetzestext würden zu Rechtsunsicherheit führen, warnte Lehmann. In der "Süddeutschen Zeitung" betonte er, er wolle das Gesetz in der parlamentarischen Beratung nachbessern lassen.
LSVD: Entwurf verleiht queerfeindlichen Kräften "scheinbare Legitimität"
Auch der Lesben- und Schwulenverband übte am Mittwoch viel Kritik. So würden im Referentenentwurf "gezielt TIN*-feindlich mobilisierten Ängsten unverhältnismäßig viel Raum gegeben – ihnen wird dadurch eine scheinbare Legitimität verliehen", erklärte LSVD-Bundesvorstandsmitglied Alva Träbert. TIN* steht für trans, inter und nichtbinäre Menschen. "Der Referent*innenentwurf stellt TIN* Personen unter Generalverdacht, indem er die Glaubwürdigkeit ihrer Identität in Frage stellt. Die Bundesregierung muss die konstruktive Kritik der Zivilgesellschaft ernst nehmen und ein wirksames Selbstbestimmungsgesetz erarbeiten, das Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenwirkt, anstatt sie noch zu befeuern", so Träbert.
Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) kritisierte in ihrer Stellungnahme ebenfalls, dass "genderkritische Narrative unreflektiert in den Gesetzesentwurf aufgenommen worden" seien. Ferner halte der der Entwurf "an einigen Stellen an einem menschenrechtlich nicht mehr akzeptablen binären Verständnis von Geschlecht fest".
Unsere Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Selbstbestimmungsgesetzes...
Posted by Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. – dgti on Tuesday, May 30, 2023
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Auch an weiteren Stellen gibt es Kritik am Entwurf. So erklärte die Organisation "Queer Handicap", dass der gegenwärtige Text Menschen mit Beeinträchtigungen die vollständige Selbstbestimmung abspreche. "Statt Barrieren abzubauen, werden wieder neue Behinderungen aufgebaut!", heißt es in einer Stellungnahme. Grund sei etwa, dass Menschen mit Beeinträchtigungen im vorliegenden Entwurf als hilfsbedürftig und "unmündig" angesehen werden würden.
Im Großen und Ganzen stelle die Neuregelung aber eine Verbesserung gegenüber dem in großen Teilen inzwischen verfassungswidrigen Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1981 dar, dass noch Zwangsgutachten vorsieht. "Wir können nicht genug betonen, wie wichtig die Abschaffung dieser entwürdigenden Verfahren für die Achtung der Menschenwürde der Betroffenen ist", erklärte etwa LSVD-Vorstandsmitglied Alva Träbert.
Kritik an Marco Buschmann
Bereits Anfang des Jahres hatten queere Aktivist*innen kritisiert, dass Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) queerfeindlichen Kräften Zugeständnisse gemacht hatte (queer.de berichtete). Die Veröffentlichung des Entwurfs verzögerte sich daraufhin – Kritik an den Einschränkungen kam daraufhin von der Linken und von SPDqueer.
Zuletzt stellte die Linkenabgeordnete Sahra Wagenknecht allerdings das Konzept der Selbstbestimmung von trans Menschen grundsätzlich infrage (queer.de berichtete). Damit schloss sie sich Stimmen aus Union und AfD an. Große Teile der Linkspartei haben sich aber bereits in der Vergangenheit von den reaktionären Positionen Wagenknechts distanziert. (dk)
