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Buchkritik

Eine queere Fantasy-Reise ins Berlin der 1920er Jahre

In dem neuen Roman "Spiegelstadt. Tränen aus Gold und Silber" entführt das Autorenduo Christian Handel und Andreas Suchanek seinen schwulen Helden Max in eine wundersame Parallelwelt.


Symbolbild: Berliner Straßenbahn im Jahr 1920 (Bild: IMAGO / United Archives International)

Als Max' Großmutter stirbt, ist der Mittzwanziger am Boden zerstört. Er erbt zwar ein großzügiges Anwesen in Berlin-Grunewald, aber das ist natürlich kein Trost. Auch die frische Trennung von seinem Partner setzt dem jungen Mann zu, und so isoliert er sich immer mehr. Erst seiner besten Freundin Robin gelingt es, Max hinaus in die Welt zu locken: Die beiden besuchen eine Party im Stil der 1920er Jahre, und tatsächlich bessert sich Max' Laune schlagartig, als er dort den attraktiven Lenyo kennenlernt.

Doch als die Feier von seltsamen Angreifer*innen gestürmt und Max verletzt wird, ändert sich von einem Augenblick auf den anderen alles. Gemeinsam müssen die beiden Freund*innen flüchten und folgen dabei dem mysteriösen Lenyo in seine Heimat – eine Parallelwelt, die dem Berlin vor 100 Jahren gleicht und von Feenwesen bewohnt wird. Bald wird klar, dass Max' Leben in großer Gefahr ist und er von seiner Großmutter weit mehr als nur ein altes Haus geerbt hat…

Hauchdünner Schellack-Anstrich für Fantasy-Klischees

Unter dem Motto "'Babylon Berlin' goes Fantasy" vermarktet der Verlag den Roman "Spiegelstadt. Tränen aus Gold und Silber" (Amazon-Affiliate-Link ) und spendiert passenderweise ein Cover mit Art-déco-Elementen und einer Großstadt-Skyline. Und tatsächlich sind die Autoren Christian Handel und Andreas Suchanek zu Beginn noch bemüht, eine vergangene Zeit aufleben zu lassen: Max und Robin steigen nach ihrer Flucht ins alternative Berlin in eine altmodische Motordroschke, finden Unterschlupf in einer Absinth-Kneipe und wundern sich über die intakte Turmspitze der Gedächtniskirche. Dazu werden noch Namen wie der Josephine Bakers eingestreut, und statt Telefonen nutzt man eine Art magisches Grammofon mit den entsprechenden Schallplatten.

Das ist alles ganz nett, aber bleibt zugleich oberflächlich und austauschbar. Im Grunde könnte diese Parallelwelt mit wenigen Änderungen auch in jeder anderen Zeit angesiedelt sein. Die Feenstadt ist eine typische Fantasywelt mit unwissenden Auserwählten, machthungrigen Monarch*innen, magischen Portalen und nützlichen Zaubersteinen. An den 1920er Jahren Berlins, etwa an der Politik, dem Kino, der Musik, der Kunst oder den gesellschaftlichen Umbrüchen, zeigen die Autoren dabei kaum Interesse.

Gehetzt und überdreht


Der Roman "Spiegelstadt. Tränen aus Gold und Silber" ist am 1. Juni 2023 bei Knaur erschienen

Überhaupt wirkt "Spiegelstadt" ein wenig gehetzt und nimmt sich selten Zeit, genauer hinzuschauen. Man rauscht als Leser*in nur so durch die Kapitel, die meist kaum mehr als eine einzelne Szene bieten. Von Perspektive zu Perspektive, von Cliffhanger zu Cliffhanger wird da gesprungen, sodass die Figuren angesichts all der Action keine Konturen gewinnen können.

Max' Gefährt*­innen sind irgendwie alle gleich, sie sind zungenfertig, frotzeln gerne und lassen keine Gelegenheit für zweideutige Bemerkungen aus. Das funktioniert ab und zu ganz gut und bringt Dynamik ins Geschehen, wirkt aber mit seiner überdrehten Schlagfertigkeit größtenteils wie ein mittelmäßiger Buffy-Abklatsch. "Nice" und "Shit" und "Bitch" heißt es da, als hätten ein paar Jugendliche zu viele Energydrinks intus, und irgendwann beim Schreiben scheint das Autorenduo das Interesse an allem verloren zu haben, was auch nur ansatzweise mit der Zeit der Weimarer Republik zu tun hat.

Interessanter sind da die Bösewichte, beispielsweise die psychopathische Prinzessin Tamyra. Die bedient zwar nicht viel mehr als das Klischee der eiskalten Blondine, aber immerhin sind ihre Szenen mit grausamem Witz geschrieben und eine willkommene Abwechslung von dem bemüht flapsigen Miteinander der Held*­innen.

Handwerkliche Patzer und ein ärgerliches Finale

"Spiegelstadt" ist ein mitunter blutiges, immer wieder albernes und kitschiges Buch. Vieles könnte man vielleicht mit gutem Willen hinnehmen und sich einfach von dieser Aneinanderreihung von Knalleffekten unterhalten lassen. Einige Leser*­innen wird der Wechsel aus leichtfüßiger Rasanz und praller Melodramatik sicherlich ansprechen. Auch das Vorhandensein einer schwulen Romanze und von Casual Queerness kann man im bisweilen doch noch sehr konservativen Fantasy-Genre als Pluspunkte zählen.

Handwerkliche Patzer trüben das Gesamtbild allerdings zusätzlich: Sprache und Stimmung leiden unter der vorangepeitschten Handlung und bleiben seltsam abstrakt und unsinnlich. Von bunten Edelsteinen ist da zum Beispiel öfter die Rede, wo ein genauerer Blick doch etwa Rubine, Saphire oder Opale entdecken könnte.

Twitter / Gesuchanekt

Merkwürdig ist auch, dass der Protagonist zu Beginn in einer bedeutungsschwangeren Szene davor gewarnt wird, sich bei Feenwesen zu bedanken, da dies ernsthafte Konsequenzen haben könnte. Das spielt im weiteren Verlauf allerdings keine Rolle mehr, es wird sich munter bedankt, ohne dass irgendetwas passieren würde. Ähnlich verhält es sich mit den magischen Manschettenknöpfen, mit denen Max und Robin anfangs noch zwischen ihrer modernen Kleidung und ihren 1920er-Jahre-Kostümen wechseln, um nicht aufzufallen. Nach ein paar Seiten wird auch diese Idee wieder verworfen. So wirkt vieles in "Spiegelstadt" wie angerissen und angedacht, aber nicht ausgereift und gut ausgeführt.

Ärgerlich ist zudem das Finale, in dem noch einmal alle Gewissheiten auf den Kopf gestellt werden, um die Leser*­innen um jeden Preis zu überraschen. Die Offenbarungen auf den letzten Metern sind nicht nur unglaubwürdig und absurd, sondern sie führen auch zu keinem befriedigenden Abschluss der Handlung. Das Ganze fühlt sich eher nach Marketing-Trickserei als gelungenem Storytelling an: Wer wissen will, wie es weitergeht, muss den geplanten zweiten Teil von "Spiegelstadt" kaufen.

Buchtipps für Interessierte: Eine etwas überladene, aber ungleich reichere Geschichte, die 1920er-Jahre-Flair, Fantasy und Queerness verbindet, erzählt J. C. Vogt mit "Anarchie Déco" (Amazon-Affiliate-Link ). Wer hingegen nach einer abenteuerlichen Reise durch verschiedene Welten sowie mit vielschichtigen Bösewichten und überraschenden Wendungen sucht, dem sei Philip Pullmans "His Dark Materials"-Trilogie (Amazon-Affiliate-Link ) ans Herz gelegt.

Infos zum Buch

Christian Handel, Andreas Suchanek: Spiegelstadt. Tränen aus Gold und Silber. Roman. Auftakt der romantisch-queeren Own Voice Urban Fantasy-Dilogie. 352 Seiten. Knaur. München 2023. Taschenbuch: 15,99 € (ISBN 978-3-426-52943-0). E-Book: 12,99 €

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#1 vornesitzerAnonym
  • 04.06.2023, 09:35h
  • Moin. Ich weiß, die Redaktion kann nix dafür, aber das "Symbolbild" zeigt eine alte Straßenbahn aus Zürich. Für das Berlin der 20er Jahre wäre ein Symbolbild mit einer Straßenbahn vom damals weitverbreiteten Typ "T24" (Google hilft...) etwas passender.
    Mit augenzwinkernden Grüßen...
  • Direktlink »

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