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"Welt"-Bericht
Haben wirklich 700 Sprachwissenschaftler*innen ein Ende des "Genderns" gefordert?
700 Sprachwissenschaftler*innen verlangen von den Fernsehräten, sich an das generische Maskulinum zu halten. So jedenfalls sieht die Welt aus, wenn man sie aus der Brille der "Welt" betrachtet.

pressfoto@freepik / queer.de) Im Streit um geschlechtergerechte Sprache wird Wahrheit gerne mal zweitrangig (Bild:
7. Juni 2023, 13:09h 4 Min. Von
Geht es nach der Zeitung "Welt", dann treten die Hinweise auf die Unhaltbarkeit geschlechtergerechter Sprache immer deutlicher zutage. Jetzt sollen gleich 700 Sprachwissenschaftler*innen, die sich mit der deutschen Sprache beschäftigen, in einem offenen Brief an "sämtliche deutschen Fernsehräte" das Ende von Glottisschlag, Gendersternchen und Co. gefordert haben – "Mitten in der Debatte um Friedrich Merz, die AfD und das Gendern".
Auch die schon etwas ältere Initiative selbst, "Wissenschaftler kritisieren Genderpraxis des ÖRR", präsentiert sich als Unterschriftensammlung von Sprachwissenschaftler*innen und Philolog*innen. Tatsächlich aber finden sich Unterschriften aus den genannten Disziplinen am Anfang der Liste. Doch nicht nur, dass hier bereits mehrfach Romanist*innen, Literaturwissenschaftler*innen oder Germanist*innen auftauchen, die mit Sprachwissenschaften in einem übergeordneten Sinne wenig zu tun haben: Ein Blick auf das Ende der Liste und die Berufe der Unterschreibenden zeigt, wie leichtfertig im Kampf gegen das "Gendern" mit der Wahrheit umgegangen wird.
Sprachwissenschaftliches Studium dann doch nicht erforderlich
Darauf, dass der "Welt"-Text unwahre Tatsachen behauptet, hatte der Journalist Claas Gefroi hingewiesen. Auf Twitter schrieb er zu seinem Fund: "Allein unter den ersten 100 sind etliche Theaterwissenschaftler, Historiker, Informatiker usw." Am Ende des Aufrufes habe sich die Anmerkung "Alle Unterzeichner der voranstehenden Liste haben entweder ein sprachwissenschaftliches oder ein literaturwissenschaftliches Studium absolviert" befunden. Ein Gymnasiallehrer, der mal Deutsch studiert habe, sei aber kein Sprachwissenschaftler, sagt Gefroi dazu. Tatsächlich befindet sich der Hinweis auf der Webseite.
Doch nicht einmal die Behauptung über ein sprachwissenschaftliches oder literaturwissenschaftliches Studium scheint wahr zu sein. Denn auf den Plätzen 600 bis 700 und damit am Ende der von "Welt" vorgestellten, langen Liste an Sprachwissenschaftler*innen finden sich Ingeneur*innen, Lehrer*innen, Verlagsangestellte, Unternehmer*innen, Betriebswirte, Immobilienkauffrauen, Pfarrer*innen, Physiker*innen, Ärzt*innen, Landwirte und weitere Berufe, die mit Linguistik rein gar nichts zu tun haben.
Und: Entgegen der der Namensliste vorangestellten Behauptung, dass alle Unterzeichner*innen ein sprachwissenschaftliches oder linguistisches Studium absolviert hätten, heißt es ganz am Ende der aufgeführten Namen: "In dieser Liste können alle unterzeichnen – ein Studium im Bereich Linguistik oder Philologie ist nicht erforderlich."
Vorgebliche fachliche Autorität
Ein besonderes Schmankerl aus der gar nicht bei 700 Namen, sondern tatsächlich bei 3.085 Einträgen stehenden Liste hat ein*e Twitter-Nutzer*in gefunden. Per Screenshot verweist sie*er auf Platz 719 der Liste. Dort findet sich der Eintrag "PF Erika Mustermann, abgebrochenes Lehramtsstudium Deutsch, Putzfrau", gefolgt von Eintrag 720: "Prof. Dr. Weiß nicht Werichbin, Altertümliche Modernsprache, Professor".
Initiator des Aufrufs ist übrigens Fabian Payr – laut Wikipedia ein deutscher Musiker, Komponist und Publizist. Payr studierte demnach zunächst Germanistik, Romanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, um sein Geld dann seit 1993 im Bereich der Musikpädagogik zu verdienen. Im Jahr 2021 veröffentlichte der "Sprachwissenschaftler" das Sachbuch "Von Menschen und Mensch*innen. 20 gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören". Wollte man den Aufruf unterschreiben, musste man am Anfang der Unterschriftensammlung vor einem Jahr eine E-Mail an Payr schicken – und zwar unter der Domain seines Unternehmens Musica Viva Musikferien.
Aber vielleicht hat sich bei der "Welt" auch nur der Fehlerteufel eingeschlichen? Ursprünglich war der Anti-Gender-Aufruf bereits im Juli vergangenen Jahres veröffentlicht worden. Damals berichtete ebenfalls die "Welt" als erstes davon. Im Artikel war jedoch von "rund 70 Linguisten und Philologen" die Rede. Zum damaligen Zeitpunkt zeigte die Webseite tatsächlich so viele Unterzeichnende und darunter tatsächich auch nicht wenige Forschende im Bereich der Sprachwissenschaften. Dafür aber eben auch viele, deren Professur in Romanistik oder Anglistik liegt sowie Unterzeichner*innen, die wie Initiator Fabian Payr einfach nur einen akademischen Abschluss in einer der Disziplinen haben. Vielleicht hat bei der "Welt" also nur jemand eine Null an die damals 70 Unterzeichnenden angehangen und die Bezeichnung des Berufs ein wenig aufgehübscht.
"Fazit: Ähnlich wie schon beim Abdruck eines Anti-Transgender-Aufrufs versucht die WELT erneut, mit vorgeblicher wissenschaftlicher, fachlicher Autorität eine missliebige Entwicklung zu bekämpfen und schreckt dabei auch nicht vor Lügen zurück", schreibt Gefroi. Das sei kein seriöser Journalismus, sondern "Propaganda" und "Kampagne". Die Kritik zeigte indes Wirkung. Inzwischen ist auf der Webseite der "Welt" nur noch von "Sprachexperten" die Rede, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisieren würden.
Anmerkung: Bei der Recherche zu diesem Artikel ist uns ein erheblicher Fehler unterlaufen. Tatsächlich befinden sich auf der zum offenen Brief zugehörigen Webseite zwei voneinander zu unterscheidende Unterschriftenlisten mit je eigener Zählung. Die erste Liste enthält tatsächlich inzwischen 806 Einträge, auch wenn sich darunter viele Unterzeichner*innen mit Abschlüssen in Fächern wie Germanistik, Anglistik oder Romanistik befinden. Die Zahl "700" dürfte also aus dieser Zählung stammen. In einer zweiten Liste werden dann Unterzeichner*innen des Briefs "unabhängig von Beruf oder Bildungslaufbahn" aufgeführt. Die Verantwortlichen der Webseite haben beide Listen in der Zwischenzeit deutlicher voneinander unterschieden. Dennoch hätte dieser Fehler nicht passieren dürfen, mit dem einige Ausführungen und Argumente im Artikel hinfällig werden. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.

"Sprachexperten" ist zum Brüllen. Alle, die buchstabieren können - sei es nur mühsam - und gegen das Gendern sind, halten sich natürlich für "Sprachexpert:innen".
Es ist ein so lächerlicher wie vielsagender Versuch der Reaktionären. Aber er wird aufgrund seiner Reichweite Wellen schlagen. Umso wichtiger, dass klargemacht wird: Die Urheber:innen lügen!