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Buchkritik

Auch trans Personen dürfen schlechte Menschen sein

Trans Autor Henri Maximilian Jakobs schreibt in seinem Debütroman "Paradiesische Zustände" über einen äußerst unsympathischen trans Mann, der alles und jede*n, die Welt und sich selbst hasst.


Symbolbild: Person mit ziemlich schlechter Laune (Bild: rdne / pexels)

Was haben die unangenehme Tante bei der Familienfeier, der ältere Herr im Regionalbus und die Chemielehrerin aus der achten Klasse gemeinsam? Den aufdringlichen Satz: "Was schaust du denn so grimmig, lächele doch mal!"

Unzufriedenheit, Unglücklichsein und Depression sind in der Gesellschaft nicht gern gesehen. Bitte in der Öffentlichkeit eine feine Maske aussetzen und lächeln. Die Umgebung bitte nicht mit negativen Gefühlen belästigen. In seiner Zynismusbombe von Debütroman mit dem hochgradig ironischen Titel "Paradiesische Zustände" (Amazon-Affiliate-Link ) schreibt Henri Maximilian Jakobs mit der größten Wut gegen diesen Sei-glücklich-Imperativ an und lässt die Hauptfigur den Lesenden entgegenschreien: Ich bin aber nicht glücklich!

Selbstunzufriedenheit bis zum Welthass


Der Roman "Paradiesische Zustände" ist am 7. Juni 2023 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen

Henri Maximilian Jakobs ist ein wahres Allroundtalent und als Musiker, Schauspieler, Synchronsprecher und jetzt auch noch als Autor tätig. 2019 gewann er den deutschen Hörbuchpreis für den Podcast "Transformer", in dem er zusammen mit der Journalistin Christina Wolf über seine Transition spricht. Vor kurzem erschien das sich auf den Podcast berufene Sachbuch "All die brennenden Fragen", das unser Autor Beau Maibaum als "eine unterhaltsame, angenehm herausfordernde Leseerfahrung" wertet. Nun folgt mit "Paradiesische Zustände" Jakobs' Romandebüt.

Johann, so der Name der Hauptfigur im Buch, ist ein trans Mann, der die eigene Geschichte des Zu-sich-selbst-Findens auf den 350 Seiten des Romans ausführlich ausbreitet. Von der ahnungslosen Unzufriedenheit, dem Gefühl, die Hauptrolle im eigenen Leben nicht spielen zu können, wie es von außen erwartet wird, bis hin zur erfolgreichen Transition. Die Handlung ist dabei nicht so entscheidend. Ein bisschen Schauspielschulen-Persiflage hier, ein bisschen Start-up-Satire da, zwischendrin Liebeskummerkram – nichts davon besonders revolutionär oder einzigartig. Was den Roman hingegen zu einer bemerkenswerten Lektüre macht, ist seine Widerspenstigkeit. Erzähler Johann hasst alles und jede*n, die Welt und sich selbst so sehr, dass es nur schwer zu ertragen ist, ihm zuzuhören.

Ein Misanthrop, wie er im Buche steht

Autor Jakobs stellt in "Paradiesische Zustände" einen so unsympathisch schlechten Menschen ins Zentrum der Handlung und lässt diesen auch noch erzählen, dass es wehtut. Die federnde Leichtigkeit und der "überbordende Humor", mit dem der Roman laut Klappentext erzählt ist, ist mindestens mit Vorsicht zu genießen, wenn nicht gar eine glatte Werbelüge. Denn Johann ist ein Misanthrop, wie er im Buche steht. Er ist nämlich nicht einfach nur schlecht drauf, seine instinktive Reaktion auf praktisch alles, was um ihn herum passiert, ist Verachtung. Sein Humor ist giftiger Spott, der im Halse stecken bleibt.

Und dessen ist Johann sich selbst bewusst. Mehrfach reflektiert er, dass er auch anders handeln, dass er auch Vergebung oder Nachsicht walten lassen könnte – und entscheidet sich dann bewusst dagegen. Johann verbarrikadiert sich hinter spitzen Witzeleien und Hass, um jedem Fitzel von Menschlichkeit und Nahbarkeit aus dem Weg zu gehen. Und ihn damit eben auch den Lesenden zu verweigern. Sprachlich ist das ganz wunderbar in nicht endenden Kaskaden bildhafter Vergleiche umgesetzt: Keine Beobachtung, nichts, was um ihn herum passiert, kann Johann einfach beschreiben. Alles muss durch ein sprachliches Bild erweitert oder verzerrt werden. Ein naiver, vermeintlich direkter Zugang zu Welt ist nicht möglich, die Wirklichkeit ist durch die Erzählung entstellt. Und die Lesenden werden damit ununterbrochen geohrfeigt. Autor Jakobs zwingt dadurch rücksichtslos eine Übung in humanistischer Nachsicht auf. Auch wenn Johann die Welt und die Menschen hasst, steht ihm trotzdem ein Grundrecht zu, derjenige zu sein, der er ist.

Eine Übung in humanistischer Einfühlsamkeit

Durch die Wahl einer erzählenden Figur wie Johann macht Autor Jakobs etwas für die Lesenden erfahrbar, das nur schwer zu vermitteln ist. Wie es ebenfalls in der Verlagsbeschreibung heißt: "Was, wenn der eigene Körper ein Zuhause ist, in dem man eigentlich keine Sekunde zu viel verbringen möchte?" Der Roman ist die brachiale Antwort auf diese Frage. Es fühlt sich extrem beschissen an, es ist ein Kampf und schmerzt. (Das soll natürlich nicht heißen, dass alle Menschen, die trans sind, ihr Transsein als schmerzvoll wahrnehmen. "Paradiesische Zustände" ist personal erzählt, es ist Johanns individuelle Geschichte und erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.) "Paradiesische Zustände" ist eine Tour de Force, die gerade in ihrer Unnachgiebigkeit eine literarische Leistung vollbringt und zum Leseereignis wird.

Hier und da ist die Handlung etwas austauschbar und rutscht bei der satirischen Überhöhung etwas zu sehr in den Klamauk ab. Beispielsweise ist es angenehm absurd, dass Johann in einem Wurstbuden-Start-up arbeitet. Die Ausgestaltung dieses Elements ist dann aber etwas dick aufgetragen und gleichzeitig wenig präzise, das satirische Ziel bleibt unklar. Was soll hier vorgeführt werden? Die Berliner Start-up-Szene? Das Schnellimbissgewerbe allgemein? Wurstbuden speziell? Nichts davon wird wirklich ins Visier genommen. Doch das ist nicht nur geradezu egal, sondern spielt dem Roman (vermutlich ungewollt) in die Karten.

Auf der Oberfläche ist Johanns Geschichte ereignislos und fast ein wenig uninteressant. Irgendwas Künstlerisches studieren, zur Selbstfindung nach Berlin ziehen – das ist Berlin-Klischee. Doch "Paradiesische Zustände" gibt auch gar nicht vor, dass es etwas anderes ist als das. Johann ist kein Held, kein außergewöhnlicher Stern, der hell über allem leuchtet. Sein Leben läuft einfach so vor sich dahin, die Erkenntnis, trans zu sein, ist kein gigantischer Knall, sondern ein schleichender Prozess. Und trotzdem erneut: Auch wenn Johann niemand besonderes ist und keine großen Taten vollbringt, steht ihm trotzdem ein Grundrecht zu, derjenige zu sein, der er ist.

Infos zum Buch

Henri Maximilian Jakobs: Paradiesische Zustände. Roman. 352 Seiten. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2023. Gebundene Ausgabe: 22 € (ISBN 978-3-462-00428-1). E-Book: 18,99 €

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#1 Cynth_Anonym
  • 09.06.2023, 07:29h
  • "Und trotzdem erneut: Auch wenn Johann niemand besonderes ist und keine großen Taten vollbringt, steht ihm trotzdem ein Grundrecht zu, derjenige zu sein, der er ist."

    Wow, was für ein Absatz. Und dann noch in Kombination mit dieser Überschrift.

    Stelle man sich mal für eine cis-schwule Hauptfigur mit nicht bloß netten Zügen vor. Aber noe, so ein sadistischer schwuler Ausbilder, das ist natürlich für die kink-Fraktion dann sogar sexy.

    Zweimal "trotzdem". Um zu betonen, wie großzügig man damit ist, der Hauptfigur Grundrechte zu "erlauben".

    Stehen eigentlich Leuten mit Down-Syndrom "trotzdem" Grundrechte zu, oder stehen die denen einfach zu?
    Muss man einem Schwulen erst erlauben, "trotzdem" ein Grundrecht darauf zu besitzen, derjenige zu sein, der er ist, auch wenn...?

    lol, nein, natürlich nicht. Die Abwertung und die implizite Nicht-Selbstverständlichkeit dieses Grundrechts würde ja auffallen, wenn es eine Gruppe betreffen würde, bei der WIRKLICH und so richtig selbstverständlich ist, dass ein Grundrecht ein Grundrecht ist.

    Mal abgesehen davon habe ich mir die Preview angesehen, wo in zumindest einer Szene die Figur das Aussprechen der eigenen, negativen Gedanken aktiv unterdrückt, um der Freundin deren Freude über einen anstehenden Urlaub nicht zu vermiesen. Das ist also Misanthropie? Das ist, wie man sich benimmt, so als - wie die Überschrift impliziert - "schlechter Mensch"?

    Alles in allem eine Rezension, die an mehr als einer Stelle ziemlich deutlich macht, wie sehr der Bias mit hineinspielt, dass trans-Personen eben eher "trotzdem" Menschen sind. Und nicht als Selbstverständlichkeit.

    Aber hey, kann man freigeben, ist in unserer Gesellschaft schließlich normal, dass andere entscheiden, ob, wann und in welchem Maße einer trans*-Person Rechte (auch Menschenrechte) zustehen. /s

    Ich fühle mich beschmutzt von so viel zwischen den Zeilen stehender bis hin zu (=> 2x "trotzdem") ziemlich deutlich ausgedrückter Abwertung bzw. Verachtung. Ich geh dann mal duschen.
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#2 ----Anonym
#3 Cynth_Anonym
  • 09.06.2023, 08:11h
  • Ich meine, man hätte ja das Buch negativ bewerten können, ohne dabei mikro- bis makroaggressiv gegenüber trans-Personen zu sein.

    Sowas wie "auch Bücher mit trans-Hauptfiguren dürfen langweilig sein".
    Oder wo man doch bei schwulen Hauptcharakteren immer so gern einfach "queer" dranschreibt - "auch queere Bücher dürfen langweilige Geschichten erzählen". Das hätte dann für schwule Cis-Menschen noch gleich den Lerneffekt, wie sich das anfühlt, wenn "queer" drübersteht und man beim Nachlesen in den Details mit der enttäuschenden Erkenntnis umgehen muss, dass der Content nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun hat.

    Aber ne, stattdessen haut man mir die morgendliche Keule ins Gesicht, sich über mich zu erheben, indem man klarstellt, wer, was und wie ich sein "dürfe", wenn ich trans* bin. Was in allererster Linie auf eine Message hinausläuft: dass nämlich ANDERE das entscheiden (und obendrein finden, dieses Bewertungsrecht stehe ihnen so selbstverständlich zu, dass sie mir und anderen hier lesenden Trans-Personen das ins Gesicht sagen/schreiben dürfen).

    Ich habe reingelesen und null Bock auf das Buch, weil mich Sommerurlaube von Menschen und sonstiger Alltagskram einfach nicht interessieren und ich nicht glaube, dass ich das länger als 20 Seiten durchhalten würde. Von daher schon wieder schwer zu beurteilen, ob es "schlecht" ist - es ist halt nicht mein Genre. Wer gerne Alltagsgeschichten aus dem Leben liest, hat vielleicht Spaß dran.
    Und ein bisschen scheint mir dieses "obwohl nicht viel passiert" in eine ähnliche Richtung zu gehen. "Oh, ich lese ein Buch über eine trans-Person und es ist gar kein Drama? Person lebt am Ende noch?" Ja mei, deal with it.
    Wobei wenigstens ein eigener Suizidversuch ja schon in der Preview fallengelassen wird, so selbstverständlich und undramatisch nebenbei, wie Suizidalität als trans-Person ist.

    Suizidalität ist halt kein Drama, wenn man trans* ist, sondern normal. Also... langweilig eben.
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