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Countertenor
Es ist höchste Zeit, Klaus Nomi ein queeres Gedenken zu bereiten
Er hatte einen Stimmumfang von sechs Oktaven, stilisierte sich zum Außerirdischen und war der erste Prominente, der an den Folgen von Aids starb. In diesem Jahr jährt sich Klaus Nomis Todestag zum 40. Mal. Anfang 2024 wäre er 80 geworden.

Klaus Nomi (24.01.1944 – 06.08.1983) bei einem Auftritt Anfang der 1980er Jahre (Bild: IMAGO / United Archives)
10. Juni 2023, 12:45h 18 Min. Von
Eine leibhaftige Singstimme lässt sich meist recht eindeutig einer Person aus Fleisch und Blut zuordnen. Bei Klaus Nomi jedoch schien sie sich – huch! – mit einem Mal vom Körper zu lösen, um aus überirdischen Sphären an die Ohren der Lauschenden zu dringen.
New York in den späten 1970er Jahren: Klaus Nomi zieht in der Clubszene im East Village und an der Lower Eastside allmählich die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit auf sich. Er hat es mit einem abgeklärten Punk- und New-Wave-Publikum zu tun, das sich gewöhnlich nicht so schnell aus dem Takt bringen lässt. Doch dieses zeigt sich nun erschüttert und tief berührt von jenem mysteriösen Wesen, das da auf der Bühne aus künstlichen Nebelschwaden auftaucht, begleitet von sphärischem Synthiesound.
Nomis Stimme umfasst eine Bandbreite von sechs Oktaven. In den tieferen Bereichen klingt sie affektiert, lässt sich aber eindeutig als männlich identifizieren, mit einem auffallend rollenden "R". Dann wiederum wechselt sie unvermittelt in die allerhöchsten Tonlagen, die eigentlich nur von Knaben und Sopranistinnen erreicht werden.
Kombination aus Rockmusik und Operngesang
Klaus Nomis Performance in den Clubs und Off-Theatern wird zur Sensation, eine faszinierende Kombination aus Rockmusik und Operngesang. Es ist ein ästhetisches Gesamtkunstwerk, zu dem auch Styling und Habitus gehören: das spacige Outfit, ein starrer Blick, die roboterhaften Bewegungen, eine eindringliche Mimik unter dem dick aufgetragenen Make-up, das Gesicht weiß gepudert, die Lippen mit schwarzer Lackfarbe scharfkantig akzentuiert. Auch die Frisur ist legendär: Der an den Scheiteln zurückgehende und nurmehr in Richtung Stirnmitte spitz zulaufende Haaransatz wird nicht etwa kaschiert, sondern durch das Auftürmen des Resthaares hervorgehoben.
Seine ersten Vorführungen erregen ein solches Aufsehen, dass einige Leute vor lauter Staunen aufschreien. Andere fragen sich wiederum, ob das alles echt sein kann – oder ob sie gar durch den Einsatz einer Tonaufnahme getäuscht werden. Dazu muss man wissen, dass zu dieser Zeit in Barockopern bis auf wenige Ausnahmen noch keine Countertenöre anstelle der ursprünglich für Kastraten vorgesehenen Rollen eingesetzt werden, sondern Frauen oder Männer mit tieferen Stimmlagen. Eine Falsettstimme, zumal noch mit so viel Virtuosität ausgestattet wie die von Klaus Nomi, ist ein Novum. Der überwiegende Teil des Publikums hat so etwas noch nie gehört.
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Noch als Nomi 1982 im deutschen Fernsehen in der Show "Na sowas!" die Arie "Mon coeur s'ouvre à ta voix" aus der Oper "Samson et Dalila" von Camille Saint-Saëns vorträgt, fühlt sich Thomas Gottschalk genötigt, sich für die Echtheit des Auftritts zu verbürgen: "Meine Damen und Herren, das war jetzt kein Trick, es waren auch keine technischen Spielereien. Es war wirklich die Originalstimme von Klaus Nomi, live und hier im Studio."
Als internationaler Star, der in Japan, den USA und Frankreich gefeiert und von Firmen wie Fiorucci und Jägermeister als Werbeträger geschätzt wird, ist Nomi zu diesem Zeitpunkt am Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Die Plattenfirma RCA France hat ihn längst unter ihre Fittiche genommen und zwei Alben von ihm veröffentlicht.

Klaus Nomi als Werbeträger für Jägermeister
Kurzauftritt 1972 in einem Lothar-Lambert-Film
Ein Blick zurück: Fast genau zehn Jahre zuvor, im Jahr 1972, wurde dem im Allgäu geborenen und vorwiegend im Raum Essen aufgewachsenen Nomi noch ein kaum beachteter Kurzauftritt als Mezzosopran zuteil, und zwar im ersten längeren Werk des schwulen Filmemachers Lothar Lambert, den er laut Aussagen des Regisseurs "aus einem Schwulenlokal oder aus der Deutschen Oper" kannte. Aber da hieß Nomi noch Klaus Sperber, hatte lange Haare und trug einen Vollbart. Er war nach West-Berlin gezogen, um sich einerseits der Wehrpflicht zu entziehen und andererseits an der Musikhochschule zu studieren. Er wollte unbedingt Opernsänger werden. Doch das gestaltete sich schwieriger als erhofft. Klaus Sperber hielt sich größtenteils mit seinem bescheidenen Einkommen als Platzanweiser (oder genauer: als Logenschließer) an der Deutschen Oper über Wasser, wo er gelegentlich nach Dienstschluss mit seinem Gesang für gute Stimmung unter dem Personal sorgte.
In der betreffenden Filmszene in Lamberts "Ex und hopp" trägt er an der Schöneberger Bar "Der Leuchtturm" eine Wagner-Arie vor. Auch da wird bereits befürchtet, man könne ihm Trickserei unterstellen. "Ich hab ihm gesagt, er soll absichtlich ein paar Töne falsch singen, damit man nicht denkt, es sei ein Playback", erinnert sich Lambert in den Aufzeichnungen auf seiner Homepage. Zu dieser Zeit soll Klaus Sperber auch das Szenepublikum der geschichtsträchtigen Schöneberger Schwulenkneipe "Kleist-Casino" mit seinem Gesang beglückt haben.
Umzug nach New York City
Doch all die kleinen Auftritte bringen ihn nicht weiter. Er fühlt sich zu Höherem berufen und wähnt sich in einer Sackgasse. Und so unternimmt Klaus Sperber 1973 den kühnen Schritt, nach New York umzuziehen, wo er eine Wohnung am St. Mark's Place im Szeneviertel East Village in Manhattan findet. Die Gegend ist zu der Zeit relativ heruntergekommen, die Mieten niedrig. Eine Zeitlang kann er seinen Lebensunterhalt mit kleineren Jobs und einem "Baking Business" bestreiten. Er beliefert Cafés und Restaurants mit Lime Pie und Linzer Torte, zudem bekommt er im New Yorker Kabelfernsehen den Sendeplatz für eine Show, in der er seine Amateurkenntnisse als Konditor unter Beweis stellen kann. Eine Ausbildung dazu hat er nie absolviert. Er kann überhaupt keinen fachlichen Abschluss in irgendetwas vorweisen. Doch er ist ein Experte in Autodidaktik – und in der Kunst, sich selbst neu zu erfinden. Ungeachtet dessen findet er mit Ira Siff, der u.a. an der Metropolitan Opera Guild Gesang lehrt, erstmals ein professionelles Gegenüber, das das Potenzial seiner Falsettstimme erkennt. Im Jahr 1977 bekommt er eine Rolle in Charles Ludlams komödiantischem Musikdrama "Der Ring Gott Farblonjet", einer schwulen Opernparodie auf Wagners Ringzyklus, begleitet von einer vierköpfigen Band.
Zu einem ersten Erfolg, der ein größeres Publikum aufhorchen lässt, kommt es 1978 bei einem Auftritt in einer bunt zusammengewürfelten Vaudeville-Nummernrevue im Irving Plaza Theatre. Er tritt ganz zum Schluss auf, wird stürmisch bejubelt. Von diesem Moment an verwandelt sich Sperber unwiderruflich in die überirdische Kunstfigur Klaus Nomi, umgeben von einer Aura, die sich vielleicht am treffendsten als Hyper-Queerness bezeichnen lässt. Der Fotograf Anthony Scibelli schildert in dem 2004 von Andrew Horn gedrehten Dokumentarfilm "The Nomi Song" (Amazon-Affiliate-Link ), wie fasziniert er von dem "Grad der Androgynität" Nomis war: "Dabei ging es nicht mal um sexuelle Androgynität, sondern eher um die Frage: War er ein Mensch oder nicht? Das war eine Androgynität jenseits von Androgynität."
Stilisierung zum Außerirdischen
Nomi kultiviert den Mythos des Unnahbaren, indem er seine Fans auf Distanz hält, nach den Auftritten sofort verschwindet und Interviews möglichst vermeidet. Einmal, so erzählt es der Journalist Alan Platt in "The Nomi Song", wird Nomi von einem kleinen Mädchen überrascht, das auf ihn zustürmt und mit der Frage überfällt, ob er von einem anderen Planeten sei. "Das bin ich in der Tat!", entgegnet Nomi spontan und lässt sich auf ein einfühlsames Gespräch mit ihr ein.
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Doch die Stilisierung zum Außerirdischen dient nicht allein dem Nomi-Marketing, sondern spiegelt auch ein biografisch durchgängiges Dilemma Klaus Sperbers wieder: den Eindruck, in dieser Welt unverstanden und fremd zu sein. Seinen eigenen Angaben nach verfolgt ihn dieses Gefühl von klein auf. Und auch während der Zeit in New York soll Nomi angeblich immer wieder unglücklich und frustriert sein, obwohl er im Kreis von ein paar Science-Fiction-Fans ausgelassene Momente erlebt: Sie nennen sich "die Nomis" und begeistern sich vor allem für Filme aus den 1950er und 1960er Jahren, in denen Aliens Kontakt zu Menschen aufnehmen. In privaten Videoaufnahmen lässt sich beobachten, wie sie die Geschichten mit viel Kreativität parodieren und zudem eine Menge Spaß dabei haben. Zu ihnen gehören der New-Wave-Künstler Kenny Scharf und der Performer Joey Arias, der mit Nomi zusammen als Backgroundsänger für David Bowie in der NBC-Show "Saturday Night" engagiert wird. Doch mit seinem Heimweh nach Europa und seiner Vorliebe für alteuropäisches Musiktheater fühlt sich Nomi mitunter selbst unter den Nomis als Freak.
Der Name "Nomi" ist ein Anagramm von "Omni" – der Zeitschrift, die er begeistert verschlingt. Es ist ein US-Science-Fiction-Magazin, das erstmals im Oktober 1978 erscheint, also zwei Monate vor seiner Nomiwerdung anlässlich der wegweisenden Vaudeville-Show. "Nomi" dient ihm in seinem "Nomi-Song" allerdings auch als Wortspiel, denn im Englischen wird es genauso ausgesprochen wie "know me". Der Songtext lässt sich als mehr oder weniger verschlüsselte Botschaft lesen:
Now I′m all alone
It's like some kind of test
My, how I have grown
Will they know me now?
Übersetzt etwa:
Jetzt bin ich ganz allein
Es ist wie eine Art Test
Meine Güte, wie ich gewachsen bin
Werden sie mich jetzt kennen?
Klaus Nomi sehnt sich danach, als Mensch in all seiner Verschrobenheit gesehen zu werden, doch er ist gefangen in einem Kokon. In den wenigen TV-Interviews, die kursieren, wirkt er schüchtern und zurückhaltend. Es werden ihm jedoch auch Attribute wie "oberflächlich" (Alan Platt) oder "überkontrolliert" und "roboterartig" (Anthony Scibelli) zugeschrieben.
Frühes Opfer der Immunschwächekrankheit Aids
Dann geschieht etwas, das den Mythos des Überirdischen und Unnahbaren endgültig durchkreuzt: Klaus Nomi infiziert sich mit einem sexuell übertragbaren Erreger, stürzt in eine gesundheitliche Krise und wird gebrechlich. Das Image ist hinfällig. Die sorgsam errichtete Hülle, die nach außen schillert und nach innen schützt, löst sich auf. Klaus Nomi ist einer der ersten, die an Aids erkranken. Noch ist darüber wenig bekannt. Das "Humane Immundefizienz-Virus" (noch hat sich die Abkürzung HIV nicht durchgesetzt) konnte nur wenige Monate zuvor überhaupt identifiziert werden. Eine wirksame medikamentöse Behandlung liegt in weiter Ferne, während sich in der gesamten westlichen Hemisphäre Hysterie sowie Angst vor schwulen Männern ausbreiten. Auch innerhalb der Community herrscht große Verunsicherung – und Furcht vor Ansteckung.
Ein paar Wochen nach Nomis gesundheitlichen Zusammenbruch erscheint am 10. Februar 1983 ein unscheinbarer Text im "Akron Beacon Journal", einer Tageszeitung aus Ohio, wo er drei Jahre zuvor einige gefeierte Auftritte hatte. Er hatte dort auch ein paar Leute näher kennengelernt. Es ist nicht klar, ob es sich bei diesem Artikel um eine redaktionelle Meldung oder eine Annonce handelt, die jemand für ihn geschaltet hat. Unter der Überschrift "Do You Nomi?" heißt es: "Klaus Nomi (…) leidet derzeit unter einer Lungenentzündung und anderen Komplikationen, er liegt im New York Hospital (…). Klaus sagt, er würde sich über Nachrichten freuen."

Ein erschütterndes Dokument der Einsamkeit: Meldung im "Akron Beacon Journal"
Der Zeitungsausschnitt vermittelt eine Ahnung von der Einsamkeit und der Verzweiflung, unter der Klaus Nomi in seiner letzten Lebensphase litt. Die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin und Nomi-Biografin Monika Hempel hat ihn in einem US-Zeitungsarchiv gefunden.
"Klaus Nomi hat der Aids-Krise ein Gesicht gegeben"
Nach Erscheinen der Annonce verschlechtert sich Nomis Zustand. Mit Ausnahme seiner Freundin Maxine St. Clair, die das Coverfoto seines zweiten Albums "A Simple Man" geschossen hat, gehen die meisten aus seinem Bekanntenkreis auf Distanz. Nomis Mutter besucht ihn noch in New York, fliegt allerdings vor seinem Tod nach Deutschland zurück, um das Ticket nicht verfallen zu lassen. Als er am 6. August 1983 verarmt und weitgehend isoliert mit 39 Jahren im Memorial Sloan Kettering Cancer Center stirbt, erfährt die Öffentlichkeit von seiner Infektion. Die Nachricht geht um die Welt. Klaus Nomi wird zum ersten prominenten Todesopfer einer neuen Krankheit, die von manchen mit dem Begriff "Schwulenpest" stigmatisiert wird. Erst ein Jahr später wird es Rock Hudson treffen, und noch einmal acht Jahre später Freddie Mercury. Ungefähr einen Monat nach Nomis Tod entstehen in Deutschland die ersten Aids-Hilfsorganisationen.
"Klaus Nomi hat der Aids-Krise ein Gesicht gegeben", sagt Hempel, die derzeit ein Buch über ihn schreibt. Wobei dieses Gesicht zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sein konnte als eine Do-You-Nomi-Projektionsfläche. Allerdings entsprach das schillernd Ungewisse und Unwissende dem Kenntnisstand der damaligen Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Hauptrisikogruppe. Diese wurde auch schon vor dem Ausbruch von Aids von Kampagnen von Boulevardzeitungen wie "Bild" in unschöner Regelmäßigkeit verunglimpft.

Klaus-Nomi-Biografin Monika Hempel mit Maskottchen und dem Linoldruck "Klaus im Dirndl". Ihr Buch erscheint voraussichtlich im Frühjahr nächsten Jahres
Um dem Nomi-Sperber-Phänomen auf den Grund zu gehen, hat sich Monika Hempel eine Woche lang durch den auf fünfzehn Kisten verteilten Nachlass in der Theaterbibliothek in Harvard gewühlt – und dabei durchaus Überraschendes entdeckt. "Besonders anrührend fand ich seine Zeichnungen, darunter einige Kostümentwürfe. Schon als Kind hat er gezeichnet, unter andere Märchenfiguren von Walt Disney." Auch das Skript einer Kurzgeschichte war dabei, vermutlich das Konzept für eine geplante Bühnenshow. Es trägt den Titel "NOMI, or How the Musical War was won!"
"Nomi stilisiert sich dabei als Außerirdischen, Kind einer Liebesheirat von Maria Callas, Königin der Oper, und Elvis Presley, König des Rock'n'Roll", so Hempel. "Das Baby Nomi ist eine Erlöserfigur, dazu berufen, nicht nur den musikalischen Krieg, sondern alle kriegerischen Auseinandersetzungen auf Erden und im Weltraum zu überwinden. Seine Mutter schickt ihn auf die Erde, um ihn dem Einfluss des Vaters zu entziehen."
Projekte von Nomi, das nie verwirklicht wurden
Im echten Leben wuchs Nomi ohne Vater auf. In einem Artikel der "New York Times" heißt es, dass er das Produkt der Affäre seiner Mutter Bettina mit einem Soldaten ist, den Nomi nie zu Gesicht bekam. "How the Musical War was won" reflektiert so auf eine anrührend naive Weise Nomis innere Zerrissenheit. Das wird in einem von seinen Interviews deutlich. Darin erzählt er, dass er zwar von Anfang an Oper singen wollte. "Als ich zum ersten Mal eine Opernsängerin hörte, hab ich gedacht: Mein Gott! So müsstest du auch mal singen!" Dennoch befand er sich "immer im Zwiespalt zwischen Oper und Pop. Als Kind stahl ich Geld von meiner Mama. Ich habe King Creole von Elvis Presley gekauft. Sie war so wütend darüber, denn sie konnte Rock'n'Roll nicht ausstehen. Sie hat mir die Platte weggenommen und gegen eine von Maria Callas eingetauscht."
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"How the Musical War was won" ist, wenn es denn wirklich als Bühnenshow geplant war, nicht das einzige Projekt von Nomi, das nie verwirklicht wurde. Zum Zeitpunkt seines Todes steht eine geplante Science-Fiction-Oper mit dem Arbeitstitel "Za Bakdaz" kurz vor Vollendung. Die Musik ist größtenteils komponiert, und auch dieses Werk dramatisiert die Beziehung zwischen Menschheit und Außerirdischen.
Als Klaus Nomis Zeit auf unserem Planeten Erde abläuft, hinterlässt er ein vielschichtiges Erbe. Seine Rolle als queere Identifikationsfigur wird dabei lange unterschätzt – und bis heute immer noch übersehen. In Rosa von Praunheims 2019 gedrehter Dokumentation "Operndiven – Operntunten" hätte Nomi zumindest eine Erwähnung verdient, zumal er weit und breit die einzige Person sein dürfte, die beiden Zuschreibungen des Filmtitels entspricht. Doch Nomi taucht darin nicht auf, obwohl Praunheim und Nomi in den späten 1970er Jahren eine ganze Zeit lang im selben Haus am St. Mark's Place in New York wohnen. Zudem nutzt Praunheim 1987 einen Song von Nomi für sein Hörspiel "Adonis in New York", das heute zu den Klassikern der Aids-Berichterstattung gehört. Dass Nomi wiederum in dem Operntuntenfilm schlichtweg vergessen wird, ist erstaunlich. Allerdings hat Praunheim ausdrücklich betont, dass er in Sachen Musik kein Experte sei. Es wäre jedenfalls nicht die schlechteste Idee, die bislang einmalig auf arte gezeigte Dokumentation zu überarbeiten und um eine wie auch immer geartete Würdigung Klaus Nomis zu bereichern.
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40. Todestag am 6. August 2023

Die von der Schweizer Künstlerin und Aids-Aktivistin Michèle Meyer entworfene Installation "me absolvo" ist eine Schenkung der Deutschen Aids-Hilfe an das Schwule Museum Berlin aus dem Jahr 2017
Anlässlich des bevorstehenden 40. Todestags von Nomi wandte sich Nomi-Expertin Monika Hempel mit der Idee einer Ausstellung oder zumindest einer Gedenkveranstaltung an das Schwule Museum Berlin. Dort reagierte man jedoch mit Zurückhaltung. Das ist nicht nur deshalb bedauerlich, weil im Depot des Hauses ein Kunstwerk lagert, das mehr als jedes andere den Stellenwert Nomis im Zusammenhang mit HIV und Aids verdeutlicht. Bei der von der Schweizer Künstlerin und Aids-Aktivistin Michèle Meyer entworfenen Installation "me absolvo" handelt es sich um einen Beichtstuhl, den sie zu einem Altar umgewandelt hat – versehen mit einem Glory Hole, verschiedenen Devotionalien sowie ikonischen Abbildung von Albrecht Dürer über Rock Hudson bis zu Klaus Nomi, dessen Gesicht vor allen anderen ins Auge sticht. Das Kunstwerk ist eine Schenkung der Deutschen Aidshilfe an das Schwule Museum aus dem Jahr 2017. In der Zwischenzeit wurde es zu einem der hundert Publikumsfavoriten gewählt – nicht zuletzt, weil es Themen wie Begehren, Krankheit und Scham berührt.
Mit Klaus Nomi hätte das Schwule Museum zudem die Chance, das Verhältnis von Identität und Körper aus dem spezifischen Nomi-Blickwinkel auszuloten. Nomi wird heute noch als Stilikone bewundert, doch einem schwulen Schönheitsideal entsprach er nie. Erst recht nicht in den 1970er und 1980er Jahren, als in der Szene Schnauzbärte, Muskeln und andere Attribute kerniger Männlichkeit favorisiert wurden. Einem Text der "New York Times" zufolge verbrachte Nomi eine Menge Zeit in den Darkrooms legendärer Clubs wie "Mineshaft" oder "Anvil": Orte, an denen der Legende nach das Individum beim Sex im Kollektiv schwitzender Männerhorden aufging. Man Parrish, ein Freund und Darsteller aus Nomis Bühnentruppe, deutet jedoch an, dass sich Nomi nach einer tieferen Verbindung sehnte und unglücklich darüber war, dass er keinen Partner fand. Dass dies nicht gelang, mag teilweise Nomis verinnerlichter Erwartungshaltung geschuldet sein, anders als alle anderen zu sein. Wenn sich in der Dokumentation "The Nomi Song" schwule Zeitgenossen wie Parrish oder Kenny Scharf über Nomis Sexualität äußern, schwingt dabei jedoch auch stets ein Hauch maskulinistischer Geringschätzung für Nomis ambivalente Geschlechtlichkeit mit.
Klaus-Nomi-Hommage an der Berliner Staatsoper
Für ein in jeder Hinsicht angemessenes Andenken an Klaus Nomi und eine Bewahrung seines Erbes macht sich der Opernsänger Nils Wanderer stark, Preisträger des internationalen Opernwettbewerbs Operalia und Gewinner des Bundeswettbewerbs Gesang 2022. Dem Countertenor ist zu verdanken, dass an der Berliner Staatsoper im Oktober die Klaus-Nomi-Hommage "Don't you Nomi?" aufgeführt wird. Er selbst hat dazu die Idee gehabt und wird die Hauptrolle verkörpern. "Es ist ein Herzensprojekt von mir. Nomi war schon immer eine wichtige Figur in meinem Leben, ich bin mit ihm großgeworden, da meine Eltern schon Fans von ihm waren und seine Musik hörten."

Dem Opernsänger Nils Wanderer ist er zu verdanken, dass an der Berliner Staatsoper im Oktober die Klaus-Nomi-Hommage "Don't you Nomi?" aufgeführt wird (Bild: Guido Werner)
Es gibt mehrere Gründe, warum sich Wanderer mit Klaus Nomi besonders verbunden fühlt. Beide sind im Süden von Deutschland geboren. Für seine Singstimme nahm sich Wanderer Klaus Nomi zum Vorbild: "Er hat Weichen gestellt für mich und meine Karriere. Als ich meine Countertenor-Stimme entdeckt habe, wurde er zur Ikone für mich." Nomis Queerness hat ihn zudem dazu motiviert, sich für die Community zu engagieren. Wanderer ist ehrenamtlich bei der Deutschen Aidstiftung aktiv. Und auch Nomis künstlerisches Crossover aus Oper, Pop und New Wave trifft bei ihm einen Nerv: "Ich liebe sehr die Verbindung von elektronischer und klassischer Musik, da war er ja wirklich Vorreiter."
Auch wenn die Kunstfigur Klaus Nomi sich nach außen hin unnahbar und gefühllos gab – Nils Wanderer spürt in Nomis Gesang "enorm viel Emotion. Die Stimme klang nicht immer schön. Sie klang manchmal schneidend und auch hart. Aber das hat ihn für mich zum Mensch werden lassen. Wenn man sich darauf einlässt, kommt eine ganz großer Schmerz zum Vorschein. Und eine große Verbindung zur Tradition der Oper und zur Tradition des Theatralischen. Viele Menschen konnten dabei erleben, wie groß die Welt ist und was alles möglich ist."
Mischung aus Theater und musikalischer Revue
Wanderer ist es ein Anliegen, nicht nur Musik und Ästhetik, sondern auch Nomis Leiden zu thematisieren. Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Besonders spürbar wird die Kombination in der Interpretation der Arie Oh "What Power Art Thou" aus Henry Purcells Barockoper "King Arthur", die Klaus Nomi einem breiten Publikum als "Cold Song" bekannt machte. Mit ihr hatte er in der vom Bayrischen Rundfunk international ausgestrahlten Live-TV-Sendung "Classic Rock Nacht" seinen letzten Auftritt. "Wenn man erlebt, wie Nomi diesen Song performt, sieht man ihm richtig an, dass er weiß: Es kommt zum Ende. Man spürt richtig seinen Schmerz. Wir wollen, dass sein Tod ein Zeichen setzt und uns ermutigt, weiter daran zu arbeiten, dass wir diese Krankheit besiegen können. Aber es soll keine Show werden, die nur traurig ist."
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Zudem wird "Don't you Nomi?" nach Auskunft der Regisseurin Julia Lwowski, die mit ihrem Kollektiv "Hauen und Stechen" die Inszenierung entwickelt, keine One-Man-Show. Stattdessen teilt sie Klaus Nomi in unterschiedliche Aspekte und in unterschiedliche Körper auf. Soll heißen: Es kommen ganz viele unterschiedliche Nomis zum Einsatz. Alle verkörpern eine der unzähligen Nomi-Facetten. "Uns geht es nicht so sehr um eine autobiographische Rekonstruktion von Nomis Leben", so Lwowski. "Wir wollen eher die mit ihm verbundenen Themen aufdecken. Vor allem die, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre tabu waren. Das Themenspektrum um Klaus Nomi ist viel zu interessant, als dass man ihn in eine einzelne Person steckt".
Mit Olga Neuwirth als Komponistin hat die Filmregisseurin Ulrike Ottinger schon einmal eine Nomi-Hommage für die Berliner Festspiele 2008 inszeniert, dafür wurden bekannte und weniger bekannte Nummern aus Klaus Nomis Repertoire neu arrangiert und die instrumentelle Begleitung der Vokalstimme dekonstruiert. "Don't you Nomi?" an der Staatsoper soll hingegen eine Mischung aus Theater und musikalischer Revue werden, bei der nicht zu befürchten ist, dass sich das Stück ästhetisch im Abstrakten verliert – oder die Musik verfremdet wird. Wanderer, Lwowski und der musikalische Leiter Roman Lemberg planen mit ihrer Hommage, Klaus Nomi in einen historischen Kontext einzubinden.
Wo kommt die Kunstfigur Klaus Nomi her? "Ich dachte ganz oft an die Stummfilmzeit, an den deutschen Expressionismus", sagt Lemberg. "Nomis Make-up oder seine Bewegungen beziehen sich darauf. Das erinnert nicht zuletzt an Dr. Caligari." Auch Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett" ist nicht weit. In der Art, wie Nomi sein Image entwickelte, sieht Lemberg wiederum Parallelen zu einer der wichtigsten Schwulenikonen aus der Welt der Oper. "Der ganze Mythos ist fast wie bei Maria Callas. Sie ist viel mehr als eine Stimme, sie ist eine Kultfigur. Das komplette Package ist wichtig, die Musik nur ein Teil davon. Das ist bei ihm auch so. Er ist nicht nur ein Sänger, sondern schreibt seine eigenen Songs oder kreiert einen eigenen Style, seine eigenen Outfits – Es gibt sonst niemanden, der das annähernd so performativ macht. Kein anderer Countertenor hat je so eine Kultpersönlichkeit entwickelt."
Nomis Einfluss wird noch immer unterschätzt
Wohin führen die Spuren von Klaus Nomi? Es wurde bereits des öfteren darauf hingewiesen, dass sich Einflüsse von ihm bei Lady Gaga und Nina Hagen finden. Oder auch bei Rammstein und Max Raabe, für die das rollende "R" wie bereits bei Nomi zum Image gehört. Für Morissey zählte Nomis Version von Schumanns "Der Nussbaum" zu den wichtigsten Songs aller Zeiten.
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Auch in der Welt des Modedesigns hat Nomi enormen Einfluss ausgeübt – vor allem bei Jean Paul Gaultier. Als der Regisseur Luc Besson in seinem 1997 gedrehten Science-Fiction-Thriller "Das fünfte Element" die Arie "Il dolce suono" aus Donizettis Oper "Lucia di Lammermoor" von einem Alien vortragen ließ, muss er von Klaus Nomi inspiriert gewesen sein.
Nomis Einfluss scheint dennoch von vielen unterschätzt zu werden. Dabei hat er Menschen, die sich ansonsten kaum für klassische Musik interessieren, die Tür zur Opernwelt geöffnet. Er wurde nicht nur zur Stilikone, sondern auch ein Vertreter des queeren Kulturerbes. Wir sollten dafür sorgen, dass auch für kommende Generationen an Klaus Nomi erinnert wird – zum Beispiel mit einer Gedenktafel an der Deutschen Oper Berlin, wo er jahrelang als Platzanweiser arbeitete, um der Welt des Musiktheaters nahe zu sein.

Links zum Thema:
» Informationen und Tickets für Aufführungen von „Don’t you Nomi?“ an der Berliner Staatsoper hier - die Premiere ist bereits ausverkauft
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