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Interview
Wie queer war die linke Gegenkultur in den 2000er Jahren?
In seinem Roman "Zwischen den Dörfern auf hundert" erzählt Lars Werner von einem Dresdner Punk, der nach einem Kuss mit dem besten Freund seine Queerness entdeckt. Im Interview verrät der Autor, wie viel er mit der Figur gemein hat.

Lars Werner, geboren 1988 in Dresden, Ende April auf der Leipziger Buchmesse. "Zwischen den Dörfern auf hundert" ist sein erster Roman
- Von Christian Lütjens
17. Juni 2023, 03:05h 8 Min.
Mit Benny, dem Ich-Erzähler seines Debütromans "Zwischen den Dörfern auf hundert" (zur queer.de-Besprechung), hat Autor Lars Werner einen queeren Antihelden geschaffen, dessen entwaffnend ehrliche Prosa perfekt die Balance zwischen Authentizität, Tiefgang und Komik hält. Im queer.de-Interview verrät Werner, wie viel er mit der Figur gemein hat, warum Scheitern manchmal hilft und warum sein Roman ein super Sommerbuch ist.
Lars, in "Zwischen den Dörfern auf hundert" erzählst du die Geschichte von Benny, der im Dresden der Sommer 2005/2006 den Punk und – beginnend mit einem Kuss mit seinem besten Freund – die Queerness für sich entdeckt. Der Roman wird aber auch als Gegenerzählung zum Sommermärchen-Mythos rund um die "nationalen Rauschzustände" der Fußballweltmeisterschaft 2006 angekündigt. War es dein Plan, dem Narrativ vom vermeintlich harmlosen "Schland"-Nationalismus ein Korrektiv entgegenzusetzen?
Vor allem ging es mir darum, die Geschichten der linken Gegenkultur zu erzählen, die es im Osten zu dieser Zeit sehr intensiv gab und sicher in Teilen auch immer noch gibt. In den letzten zehn Jahren hatte ich den Eindruck, dass im Literatur- und Theaterbetrieb sehr oft die Perspektive von Neonazis oder Rechten im Osten bebildert und besprochen wurde, immer ausgehend von der Frage: Woher kommt das, warum gibt es das? Vor ein paar Jahren kamen dann noch die Dokus und Besprechungen über die Baseballschlägerjahre dazu, die sich konkret mit der Neonazi-Bewegung der Nachwende in den Neunzigern beschäftigten.
Mir fehlte bei alledem die Verbindung zu dem, was ich selbst in meiner Jugend im Dresdner Umland Anfang der 2000er Jahre erlebt habe, wo die kleinen Brüder der Neonazis aus den Neunzigern zurückkamen, neue Strukturen bildeten, Jugendfeste organisierten, Jugendclubs gründeten usw. Damit haben sie die Vorarbeit dafür geleistet, dass in den letzten Jahren immer mehr linke Jugendclubs verdrängt und plattgemacht wurden und viele kleinere Städte im Osten inzwischen eintönig braun sind. Es ist ein großer Verdienst von manchen Gemeinden und Städten, dass sie dagegenhalten und Räume offenhalten, in denen junge Menschen sie selbst sein oder zu ihrem Anderssein stehen können. Wenn es keine Anlaufpunkte mehr gibt, wird es in der Provinz ja praktisch unmöglich Punk oder queer zu sein. In meiner Jugend gab es im Dresdner Umland noch eine ganze Menge Orte und Leute, die das möglich machten. Ihnen und ihren Geschichten wollte ich meinen Respekt erweisen, weil ich von ihnen viel fürs weitere Leben mitgenommen habe.
Hast du ein Beispiel dafür, was du mitgenommen hast?
Am wichtigsten ist wohl die Erkenntnis, dass Widerständigkeit im Alltag unglaublich wichtig ist. Davon handeln viele meiner Texte. Letztendlich werden demokratische Strukturen über Widerständigkeit gesichert, nicht über ewiges Vermitteln. Die Mitte verhandelt eigentlich immer nur nach rechts, auch wenn sie das nicht merkt oder denkt. Widerständigkeit ist also wichtig, um die Interessen von marginalisierten Gruppen zu sichern.
Widerständigkeit spielt auch in der queeren Community eine Rolle. Wäre "Zwischen den Dörfern auf hundert" auch als klassische Coming-out-Geschichte denkbar?
Nein, ich denke nicht. Es ging mir darum, die Geschichte des Hineinwachsens in die Gegenkultur vor dem Hintergrund einer queeren Identität erzählen, ohne das Coming-out zum Hauptthema zu machen. Erstens, weil es bei mir selbst so war und zweitens, weil ich glaube, dass es im Leben vieler junger Menschen so ist. In der Literatur, in Filmen und Theater wird queere Identität ja manchmal auch auf Stereotypen wie die Coming-out-Story, den Bruch mit der Familie etc. reduziert. Das sind mittlerweile Erzählungen, die relativ gängig sind. Ich wollte die Geschichte meines Protagonisten so erzählen, wie ich das Aufwachsen erfahren habe. Da schwammen die Erkenntnisse über die eigene Queerness eher so mit in einem Strudel aus Emotionen, Erfahrungen, Sehnsüchten. Das hat es nicht unbedingt einfacher gemacht, aber es war halt so.

Lars Werners Roman "Zwischen den Dörfern auf hundert" ist im April 2023 im Albino Verlag erschienen
Andererseits hat die Punkszene, die du im Buch beschreibst, dann doch viele queere Seiten, oder?
Das stimmt, aber es fehlt das Bewusstsein. In meinem Freundeskreis gab es damals kein wirklich queeres Lebensgefühl. Es gab zwar durchaus queere Beziehungen und Anbändeleien, aber die wurden nicht klar benannt oder weiter thematisiert, deshalb erwuchsen daraus auch keine eigenen Gruppierungen oder ein eigener Habitus. Wir wären auch nicht zum CSD gegangen. Wir waren Punks und haben uns am Alaunplatz besoffen. Umzüge waren nicht unser Ding.
Von daher ging das Queere auf in dem ganzen Trubel von: Wir sind Punks, wir sind Goth, wir sind Hippies, wir sind Hip Hopper, wir sind schräg und weird, wir sehen bescheuert aus oder manchmal auch ziemlich gut. In dieser Hinsicht war das schon alles tatsächlich ziemlich queer. Aber für die Reflexion, was das bedeutet, fehlten schlicht die Vorbilder. Internet war in der Zeit, als ich aufgewachsen bin, quasi non-existent. Das war noch alles sehr hinterm Berg bei uns. Foren-based oder superlangsam. Da konnte man sich also keine Vorbilder holen.
Denkst du, Benny würde sich anders entwickeln, wenn er Zugang zu Chats und Online-Foren hätte?
Ich denke, er hätte auf jeden Fall eine Spur mehr Selbstbewusstsein und würde auch schneller verstehen, was mit ihm los ist, was er will. Das ist zumindest meine Hoffnung, dass das Internet jungen Menschen dabei hilft, schneller ihren eigenen Weg und das Zutrauen zu finden, zu sagen: Stopp, das bin jetzt ich, vielleicht nur für die nächsten drei Jahre, und wenn sich danach etwas ändert, ist das auch okay, aber dann soll mir danach keiner erzählen, das war nur eine Phase. Bei Benny ist das alles noch sehr vage. Eigentlich sucht er ja den ganzen Roman über nach seinem eigenen Weg, nicht nur in sexueller Hinsicht, auch was berufliche Interessen angeht. Mit Internet hätte er über Mode-Blogs und -Websites bestimmt schneller kapiert, wo er hinwill. Es kommt im Buch nur in Ansätzen vor, aber in meiner Vorstellung läuft es bei ihm darauf hinaus, dass er Kostümbildner wird. Das ist ein Beruf, den ich selbst unglaublich toll finde, weil in dem Bereich wirklich tolle, kreative Dinge entstehen.
Der Roman erzählt von der Geborgenheit der Gemeinschaft der Punks, aber auch von der ständigen Gefahr durch gewalttätige Übergriffe und Schikanen durch Neonazis? Homofeindlichkeit spielt in diesem Kontext nur indirekt eine Rolle. Warum?
Auch das hat mit dem Mangel an Bewusstsein zu tun. Homosexualität war damals in meiner Erinnerung in fast jeder Szene nur the butt of the joke. Oder eben Inhalt von Beschimpfungen. Dass dir an der Bushaltestelle "Mädchen" oder "Schwuchtel" hinterhergerufen wurde oder dir abends Typen auflauerten und sagten "Du musst jetzt die Hose hochziehen, du Schwuchtel" gehörte bei den Neonazis vom Dorf quasi zum Jargon. Aber auch die Punks lachten albern, wenn die Ärzte sangen "Ich hab Samen im Darm", nach dem Motto "Hi hi, die Schwulen". Andererseits gab es Grindcore-Bands, die ich als Jugendlicher gesehen habe, die auf der Bühne mit Dildos rumspielten oder sich in den Arsch vögelten. Es schien immer entweder Plus oder Minus zu sein. Dazwischen war nur Abgefucktheit, aber kein Bewusstsein.

Lars Werner arbeitet seit 2018 als freischaffender Autor(Bild: privat)
Apropos Dildo. Bennys tastende Auseinandersetzung mit seiner Sexualität beinhaltet eine Episode, in der er sich in der Werkstatt seines Vaters heimlich einen Anal-Plug zum "Üben" schreinert. Eine Maßnahme, die im Elternhaus zu Konsequenzen führt, die gleichzeitig komisch und bestürzend sind. Ist diese Ausbalancierung von Tragik und Komik bezeichnend für deinen Umgang mit Humor?
Ich hab jetzt keine explizite Humorstrategie, auch wenn ich schon denke und hoffe, dass das Buch an manchen Stellen ziemlich witzig ist. Was das Beispiel angeht, ging es mir vor allem darum, nah an Bennys Erfahrungswelt dranzubleiben und dadurch das Absurde seines Alltags sichtbar zu machen. Man hätte die Lupe da sicher ganz anders drauflegen und die Geschichte viel humoristischer erzählen können, aber das wäre quasi eine erwachsene Sicht von außen gewesen. Auch im Sinne junger Leser*innen bleibe ich da lieber nah bei der Figur. Ich denke, für junge Menschen ist es wichtig, dass es in der Literatur Figuren gibt, die genauso rumtölpeln wie sie selbst. Dann sind ihnen die Protagonisten nah, und sie entziehen sich ihnen nicht, indem sie einen erwachseneren Blick auf die Dinge haben als andere Menschen in ihrem Alter.
Benny ist genauso ein Drops wie viele andere auch. Er ist niemand, der alles kann und weiß, sondern einer, der auch mal scheitert. Dadurch erkennt er aber auch, dass Scheitern nicht das Ende der Welt ist. Auch wer Fehler hat und macht, kommt irgendwie voran, knüpft Freundschaften, hat Liebschaften, baut sich etwas auf. Das finde ich wichtig an der Figur Benny. Dass er zeigt, dass wir nicht unbedingt Helden unserer eigenen Geschichte sein müssen.
Vor der Veröffentlichung des Romans hast du erfolgreich als Theater- und Hörspielautor und als Regisseur gearbeitet, was du auch weiterhin tust. Können wir trotzdem auch in Zukunft mit neuen Romanen von dir rechnen?
Ich hab tatsächlich eine Idee für einen nächsten Roman. Die hat sich festgesetzt, also muss ich das jetzt auch schreiben. Zumal die Reaktionen auf "Zwischen den Dörfern…" sehr ermutigend sind. Über Instagram erreichen mich immer wieder Reaktionen von Leser*innen, die ihre Eindrücke mitteilen. Das ist bisher durchweg positiv und mega sweet.
Ich bin selbst ein bisschen überrascht, wie sehr sich die Erfahrung ein Buch rauszubringen, von der Theatererfahrung unterscheidet. Beim Theater hast du ein paar hundert Leute in einem Raum sitzen, bekommst mit, wie sie atmen, lachen, reagieren. Beim Buch ist es so, dass Menschen ganz intensiv sehr intime Stunden oder Tage mit dem Text verbringen, also irgendwie auch mit mir. Das ist für mich immer noch ein bisschen abstrakt. Aber ich finde es total klasse, mir vorzustellen, dass die Menschen in diesem Sommer mit dem Buch ihre Zeit zu Hause, im Park oder am Strand verbringen. Passt ja auch gut zur Handlung, die sich über zwei sehr heiße Sommer erstreckt. Von daher ist das ein super Sommerbuch.
Lars Werner: Zwischen den Dörfern auf hundert. Roman. 200 Seiten. Albino Verlag. Berlin 2023. Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag und Lesebändchen: 24 € (ISBN 978-3-86300-354-8)
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