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Sachbuch

Queeres Erinnern schlägt Heteronorm

Von "Invertito", dem "Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten", sind bereits 24 Ausgaben erschienen. Im jüngsten Band legt der Fachverband Homosexualität und Geschichte erstmals einen Schwerpunkt auf lesbische Perspektiven.


"Niemals, du Süße, wird sich ein Mann zwischen unsere Liebe drängen." – "Niemals, du Holde! – Höchstens ein Schutzmann!": Mit der Karikatur "Frühlingsausflug des Berliner Damenklubs", die 1909 in der Zeitschrift "Simplicissimus" erschien, bebildern Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger ihren "Invertito"-Artikel "Staatlich-medial begrenztes Empowerment? – Eine Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung 'Neue Damengemeinschaft' um 1900"

  • 15. Juli 2023, 08:47h - 6 Min.

Nachdem sich die 23. Ausgabe von "Invertito" im letzten Jahr dem breit gefassten Thema "LSBT*-Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre" verschrieben hatte (queer.de-Besprechung: "Das Erbe von '1969': Was bleibt von Stonewall?") stellt die Redaktion im Vorwort der kürzlich erschienenen neuen Ausgabe nicht ohne Genugtuung fest: "Erfreulicherweise kann Invertito 24 erstmals mehrheitlich Hauptbeiträge präsentieren, die sich mit Frauen begehrenden Frauen beschäftigen – und zwar vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik."

Tatsächlich decken die vier Beiträge zum Schwerpunktthema "Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert" ein ganzes Säkulum weiblich-weiblicher Liebes- und Lebensrealitäten ab – von der Berliner Neuen Damengemeinschaft der Wilhelminischen Epoche über die Ergebnisse eines Forschungsprojektes über "Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre)" bis hin zur Bestandsaufnahme über die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im bundesdeutschen Ehe- und Familienrecht bis zum Jahr 2000 unter besonderer Berücksichtigung von deren Auswirkungen auf lesbische Mütter.

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Geschichte wird "von reichen, weißen, heterosexuellen cis Männern geschrieben"

Aber eins nach dem anderen. Den Auftakt des Buches bildet ein "Queering History?"-Aufsatz von Lio Okroi. Darin heißt es: "Geschichte hat Einfluss auf die Gegenwart und darauf, wie wir uns und die Welt verstehen. Gleichzeitig wurde und wird sie vorrangig aus Sicht von reichen, weißen, heterosexuellen cis Männern geschrieben. Dabei werden queere, weibliche und rassifizierte Geschichtsanteile oft ausgeblendet oder negativ dargestellt. Queeres Erinnern kann diesen Narrativen neue Geschichten entgegensetzen."

Diese Aussage bringt die Motivation des "Invertito"-Jahrbuchs im Allgemeinen auf den Punkt, bildet im "Queering History?"-Artikel aber das Fundament für einen aufschlussreichen Bericht über die Herausforderungen bei der Erarbeitung des Audioguides "Queere Geschichte*n Freiburg", den Okroi im Jahr 2021 veröffentlichte. Das Projekt verdeutlicht anhand exemplarischer Ereignisse und Lebensläufe aus der Freiburger Historie, wie sich Geschichtsschreibung "queeren" lässt. Unter anderem lädt Okroi dazu ein, den Freiburger Hexenprozess um Catarina Stadellmenin von 1599 queer zu lesen und die Biografie der Frauen liebenden Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolf zu hinterfragen.

Auch die vielen Fragezeichen im Lebenslauf des Landarbeiters Hans Kayser, der bei Geburt im 16. Jahrhundert noch als Agatha Dietschi erfasst wurde und im Freiburger Stadtarchiv heute unter dem Stichwort "Zwitter" geführt wird, spielt eine Rolle – wobei Okroi darauf hinweist, dass lesbische Frauen ihn sich "teils auch als lesbische Geschichte angeeignet" haben. Bei alledem wird klar, dass bei der Erfassung queerer Biografien stets historische und gegenwärtige Kontexte mitgedacht werden müssen. So schließt Okroi mit einem Zitat der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Heather Love: "the work of 'queering' is never done."

"Die Große Glocke" und das neue lesbische Wir-Gefühl zur Kaiserzeit


Das Jahrbuch "Invertito" erscheint im Männerschwarm Verlag

Weiter geht es mit dem Aufsatz "Staatlich-medial begrenztes Empowerment? – eine Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung 'Neue Damengemeinschaft' um 1900". Hier berichten Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger über lesbische Selbstorganisierung während der Deutschen Kaiserzeit. Eindrücklich rekonstruieren die Autorinnen einerseits die Hintergründe der frühen Selbstorganisation Frauen liebender Frauen, andererseits deren Skandalisierung durch die Presse. Zur Verdeutlichung des zweiten dient vor allem die Wochenzeitung "Die Große Glocke", ein infolge der Eulenburg-Affäre (1907-1909) gegründetes Revolverblatt, das sich genüsslich sensationslüstern der Aufgabe widmete, "sittlich anstößige" Vorgänge in der Damengemeinschaft aufzudecken, da deren ausschließlich weibliche Mitglieder angeblich "der Frau" gewährten, "was einzig dem Manne frommt". Fünf Damen strengten daraufhin einen Beleidigungsprozess an. Den sie verloren. Laut Boxhammer und Leidinger ist er dennoch als Ausdruck eines damals neuen lesbischen Wir-Gefühls zu deuten, dessen Entwicklung der Artikel nachzeichnet.

Lesbisches Leben als Ausdruck "unsoliden Lebenswandels" und psychischer Krankheit?

Das Autorinnen-Trio Steff Kunz, Muriel Lorenz und Mirijam Schmidt liefert derweil die Zwischenergebnisse eines Forschungsprojekts über "'Alleinstehende Frauen', 'Freundinnen', 'Frauenliebende Frauen'" im deutschen Südwesten von 1920 bis 1970. Konkret gehen sie dabei den Fragen auf den Grund, wie lesbische* Frauen in Baden und Württemberg sowohl in Metropolen als auch in der Provinz lebten, welchen Diskriminierungen und Verfolgungen sie insbesondere in der NS-Zeit ausgesetzt waren und welche Nachwirkungen diese Verfolgungen hatten. Illustriert wird das zum Beispiel anhand so ambivalenter Persönlichkeiten wie Maria Plum (1894-1962), die als erste Frau in Freiburg eine eigene Rechtsanwaltskanzlei eröffnete und eine heimliche Beziehung mit ihrer Angestellten Marie Luise Goppel führte. Oder anhand der Wohngemeinschaft von Frau Lux und Frau Voss, die in den 1940er Jahren wegen des "unsoliden Lebenswandels" ihrer Bewohnerinnen vom Amt beobachtet wurde. Oder indem Steff Kunz Akten von Psychiatrien und Heilanstalten durchkämmt, um zwischen den Zeilen Fälle von Patientinnen zu entdecken, deren psychische Gesundheit aufgrund von Abweichungen von der heteronormativen Sexualität infrage gestellt wurde.

Zum Schluss ein Appell für die Erforschung heteronormativer Repression

Das schwierige Verhältnis zwischen staatlichen Behörden und gleich­geschlechtlich liebenden Frauen hat auch der Artikel "… eine der massivsten Bedrohungen" von Kirsten Plötz zum Thema. Der Titel ist ein Zitat von Jutta Oesterle-Schwerin (Bündnis 90/Grüne und ab Ende der 1980er Jahre erste offen lesbisch lebende Bundestags­abgeordnete), die 1989 äußerte: "Die Angst davor durch offen-lesbisches Leben Kinder zu verlieren, ist sicher eine der massivsten Bedrohungen, durch die Frauen von ihrem Coming Out abgehalten werden."

Was damit gemeint ist, verdeutlicht Plötz, indem sie aufzeigt, wie insbesondere lesbische Mütter durch das westdeutsche Ehe- und Familienrecht benachteiligt wurden, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 1999 der Diskriminierung gleich­geschlechtlich liebender Eltern generell ein Ende setzte. Die Etappen des langen Weges dorthin vollzieht der Artikel nach: "Sklavische Unterwerfung" bis Ende der 1950er Jahre; allmähliche Liberalisierung durch die Reform des Ehe- und Familienrechts im Jahr 1977; die bis Ende des 20. Jahrhunderts andauernde Diskriminierung lesbischer Mütter im Namen des "Kindeswohls". Plötz endet mit einem Appell für die Erforschung heteronormativer Repressionen. Diese sei allein deshalb wichtig, "damit von staatlichen Maßnahmen beschädigte Lebensläufe nicht als Ergebnisse persönlichen Scheiterns gedeutet werden, sondern als Ergebnisse staatlichen Handelns".

Hundert Seiten Bonus: mit Georg Forster, Tuntentheater und Nora Eckert

Mit diesem Schlusswort endet das Schwerpunktthema. Aber nicht das Jahrbuch. In vier weiteren Artikeln und fünf Rezensionen, widmet sich "Invertito" 24 auf knapp hundert weiteren Seiten unter anderem den Ansichten des Naturforschers, Ethnologen und Reiseschriftstellers Georg Forster (1754-1794) über gleich­geschlechtliche Liebe, Eike Wittrock liefert "Fragmente einer Chronik des schwulen Theaters 1956-1976" (inklusive Tuntenkomödien, schwulem Sci-Fi und den theatralen Exkursen des Hubert Fichte), während Opernkritikerin Nora Eckert in ihrem Bericht "Trans*Frau sein in hedonistischen Zeiten" ihre bewegten 1970er Jahre im Berlin der "Chez Romy Haag"-Ära Revue passieren lässt.

So wechseln sich in diesem Buch bis zum Schluss lebendige Schilderungen inspirierender Lebensläufe mit gut recherchierten historischen Aufarbeitungen queerer Historie ab. Der Titel "Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt" passt also nicht nur zum Schwerpunktthema, sondern charakterisiert die gesamte Ausgabe dieses neuen, gewohnt vielstimmigen und äußerst lesenswerten "Invertito"-Bandes. (cl)

Infos zum Buch

Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. (Hrsg.): Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten: Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert. 24. Jahrgang 2022. 248 Seiten, Männerschwarm Verlag. Berlin 2022, Paperback: 19 € (ISBN 978-3-86300-094-3). E-Book: 12,99

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