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Kunst

Die Bohème als Blaupause für queere Lebensentwürfe

Ein Leben für die Kunst am Rande der Gesellschaft, so stellt man sich seit Puccinis Oper die "Bohème" vor. Eine Ausstellung in Prag feiert nun den Freiraum für das kreative Außenseitertum – mit Werken von zahlreichen queeren Kunstschaffenden.


Fotografie von Peter Hujar in der Ausstellung "Bohemia" der Kunsthalle Praha: David Lighting Up, Manhattan Night (I), 1985 (Bild: 2022 The Peter Hujar Archive, LLC, The Artists Rights Society)

Als Freddie Mercury 1975 seine "Bohemian Rhapsody" veröffentlicht, verpasst er der Rockmusik nicht nur einen enormen Innovationsschub. Er beschwört zudem rund um den Globus ein Rätselraten um die Bedeutung des Songtextes herauf, das weit über seinen frühen Tod 1991 hinaus andauert.

Erst im Jahr 2015 stellt seine Biografin Lesley-Ann Jones in einem Artikel für "The Wire" anhand zahlreicher Belege klar, was Mercury in der langen Realisierungsphase des Songs wirklich antrieb: Er verarbeitete damit sein homosexuelles Begehren. Seit dieser Zeit gestattete er sich, seine schwule Seite auszuleben. Dabei dürfte ihm sein Selbstverständnis als Bohèmian hilfreich gewesen sein – als Künstler, der sich um normative Gepflogenheiten und Traditionen nicht zu scheren braucht.

Es ist denkbar, dass sich Mercury als Opernfan unter anderem auch von Puccinis "La Bohème" inspiriert fühlte – zumal die "Bohemian Rhapsody" zu dem Album "A Night at the Opera" gehört und musikalische Elemente der Oper enthält. Wobei: Puccinis Werk, das 1896 in Turin Premiere feierte und auf seinem weltweiten Triumphzug für das antibürgerliche und unkonventionelle Leben im Pariser Quartier eine Lanze brach, ist nur eine entschärfte Version der literarischen Vorlage. Alles Verruchte wurde getilgt, von den entlassenen Soldaten und ehemaligen Häftlingen, den Taschendieben und Prostituierten aus Henri Murgers 1851 veröffentlichten Kurzgeschichten "Scènes de la vie de bohème" war nichts mehr zu sehen oder zu hören – übrig blieben nur ein paar verarmte Künstler. Doch das Opernpublikum ahnte, was gemeint war.

Schwule Männer gehörten zu den Protagonisten der Bohème

Die Bohème – das war bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein weit verbreiteter Topos vom urbanen Leben jenseits der Norm; eine Erzählung von der Befreiung des Individuums, die sich zu einer Bewegung formte. Eine, zu der anfangs fast ausschließlich Männer zählten. Selbstverständlich brachte dieser Lebensstil auch neue sexuelle Freiheiten hervor und forderte im Gegenzug einen gewissen Mut – und häufig materielle Entbehrungen, oft einhergehend mit ungezügeltem Konsum von Alkohol, Absinth, Opium und anderen Drogen. Der romantische Widerstand gegen den Druck einer bürgerlichen Mehrheit ließ sich offenbar nicht anders aufrecht erhalten. Die unerwünschten Nebenwirkungen, inklusive der damit verbundenen Kriminalität, wurden heroisiert und zum Kult stilisiert.

Von Beginn an waren auch homosexuelle Männer unter den Protagonisten der Bohème, auch wenn es eine schwule Identität zu dieser Zeit noch gar nicht gab. Umso bemerkenswerter ist die Beziehung von Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, die ab 1871 fast zwei Jahre andauerte. Es handelt sich um eine der aufsehenerregendsten Romanzen des 19. Jahrhunderts – nicht nur, weil sich zwei Männer aufs Leidenschaftlichste liebten, sondern auch, weil das Verhältnis der beiden gewaltsam endete, als Verlaine nach einem Streit mit einer Pistole auf den viel jüngeren Rimbaud zielte. Dieser kam jedoch mit einer Verletzung an der Hand davon. Der russische Regisseur Sergej Eisenstein ließ sich von der Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud gar zu einer homoerotischen Zeichnung befeuern, die in den 1930er Jahren entstand.

Dass Rimbaud im Laufe seines Lebens vom feinfühligen Dichter der Avantgarde zum Geschäftsmann und Waffenhändler für einen äthiopischen Fürsten mutierte, hielt einige der berühmtesten und kreativsten Bohèmiens des 20. Jahrhunderts nicht davon ab, in ihm ein Vorbild zu sehen – wie etwa die Rock-Ikone Patti Smith, die ihn in ihrer Biografie als ihren "heimlichen Geliebten" bezeichnet. Oder den schwulen Künstler und Aids-Aktivisten David Wojnarowicz, der sich wie Rimbaud als Außenseiter in der klassischen Bohème-Tradition sah.

Ausstellung in der Prager Kunsthalle

In den 1979er Jahren fertigte Wojnarowicz Masken seines Idols an, die er Leuten aus seinem Bekanntenkreis aufsetzte, während sie durch New York spazierten. So entstand die Fotoserie "Arthur Rimbaud in New York", von der nun einige Exemplare in der Ausstellung "Bohemia. History of an Idea" in der Prager Kunsthalle zu sehen sind: eine Schau, die sich dem großstädtischen Leben der Bohème zwischen 1950 und 2000 widmet und etwas von der flirrenden Atmosphäre einfangen möchte, die Metropolen wie Paris, New York, San Francisco und London zu den Epizentren einer globalen Subkultur werden ließ. Der Hatje Cantz Verlag hat dazu einen umfangreichen Katalog (Amazon-Affiliate-Link ) in englischer Sprache veröffentlicht – mit zahlreichen Stadtansichten, Kneipenszenen und Porträts, darunter vor allem Fotografien.


In der Ausstellung zu sehen: Foto aus der Serie "T-Club" von Libuše Jarcovjáková (Bild: Libuše Jarcovjáková)

Viele der insgesamt 37 Kreativen, die die Schau prägen, stammen aus der queeren Szene – wie die Fotografen Wolfgang Tillmans, Edmund Teske und der erst seit kurzem vom internationalen Kunstbetrieb entdeckte US-Maler Martin Wong. Andere sind der Community eng verbunden: Nan Goldin, die queere Pionierarbeit leistete; der heterosexuelle Duncan Hannah, der mit seinem Aussehen kokettierte und es genoss, von seinen schwulen Kollegen angeschmachtet zu werden, oder der Fotograf Fred W. McDarrah, der zum wichtigsten Zeugen der Stonewall-Aufstände wurde.

Ausstellung mit queeren Lücken

Doch bei der Bildauswahl erschließt sich der queere Aspekt des Ausstellungsthemas meist nicht unmittelbar, mitunter auch nicht auf den zweiten Blick. Das ist bedauerlich, da fast alle der genannten Kunstschaffenden in Bezug auf das Thema pointiertere Werke hätten beisteuern können. Der für seine Sichtbarmachung queerer Kultur vielfach geschätzte Peter Hujar fällt hier vor allem mit Nachtaufnahmen menschenleerer New Yorker Straßen ins Auge. Und Robert Mapplethorpe ist zwar mit einem sehr einfühlsamen Porträt von Patti Smith vertreten, doch von seinen homoerotischen Motiven findet sich keine Spur. Ganz zu schweigen von Alvin Baltrops Fotografien der legendären schwulen New Yorker Cruising Area an den verfallenen Hudson-River-Piers aus den 1970er und 1980er Jahren: Für "Bohemia" wurden lediglich drei unverfängliche Motive ausgewählt, die ohne den Kontext der zugehörigen Serie genauso gut in einer beliebigen anderen Großstadt hätten entstanden sein können. Dadurch geht die homoerotische Atmosphäre und die Einzigartigkeit des Ortes verloren.


Diese Porträts hätten die "Bohemia"-Schau perfekt ergänzt: John Waters, Divine, Sandra Bernhardt. Mit seinen "Golden Queers" setzt der Künstler Rinaldo Hopf der internationalen queeren Bohème seit 1997 ein Denkmal (Bilder: Rinaldo Hopf)

So hochwertig die vorhandenen Werke in der Ausstellung und im Katalog auch sein mögen – die Lücken vermitteln eine Ahnung davon, dass das Potenzial in der Bebilderung des Themas längst nicht ausgeschöpft wurde. Mit gutem Willen und bei genauerem Hinsehen kommt in der Schau zwar auf sehr subtile Weise rüber, dass das urbane Milieu der Bohème unter anderem auch eine Blaupause für queere Lebensentwürfe lieferte, vor allem in dem Kapitel über das New York der 1970er und 1980er Jahre. Aber handelt es sich dabei wirklich nur um einen Nebeneffekt? Oder gab es nicht von Anfang an eine sich wechselseitig beeinflussende Dynamik zwischen frei werdenden städtischen Räumen, antibürgerlicher Verweigerungsstrategie und der Entstehung von Kunst, bei der Queerness eine Schlüsselrolle spielte?

Ohne queere Inspiration wäre die Bohème nicht aufgeblüht

Mit dieser Frage hat sich der Kunsthistoriker Russell Ferguson, der die Prager Ausstellung kuratierte, nur peripher beschäftigt. Im Ausstellungskatalog erkennt er immerhin an, dass "ein Teil der Anziehungskraft der Bohème" schon immer darin bestanden habe, "einen Platz für das sexuell Nonkonforme" bereit zu halten. Als ein Ort, an dem Schwule, Lesben und trans Personen "Zuflucht" finden konnten. So habe New York "zwischen der Stonewall-Rebellion von 1969 und dem Beginn der Aidskrise 1981" das Aufkommen einer "selbstbewussten und erstmals offenen queeren Kultur" erlebt.

Allerdings lässt Ferguson unerwähnt, dass queere Kreative bei der Entstehung der New Yorker Bohème schon vorher eine Rolle spielten. Genannt seien hier etwa die erst spät gewürdigte lesbische Künstlerin Louise Fishman oder die beiden sich in ihrer Liebesbeziehung gegenseitig beeinflussenden Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg und Jasper Johns. Selbst wenn man von Andy Warhols Einfluss mal ganz absehen würde, müsste jeder Erkenntnisprozess früher oder später zu der Einsicht führen: Ohne queere Inspiration wäre eine Bohème im 20. Jahrhundert gar nicht erst aufgeblüht. Nicht in New York und auch nicht anderswo. Dieser Aspekt wurde in "Bohemia" leider nicht ausreichend bedacht.

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Ein schwuler Künstler aus dem Iran


Bijan Saffari, ohne Titel (Selbstporträt), 1980 (Bild: Dastan Gallery, Tehran; Estate Bijan Saffari, Paris)

Es ist Ferguson jedoch hoch anzurechnen, den international noch weitgehend unbekannten iranischen Künstler Bijan Saffari zu würdigen. Saffari hat bereits in den 1970er Jahren Männer der schwulen Szene Teherans gezeichnet, bevor die Community von der Islamischen Revolution erst in den Untergrund gedrängt und schließlich ausradiert wurde. Von Saffari sind drei Werke zu sehen, die entfernt an David Hockney erinnern und zeigen, wie global vernetzt die urbanen Milieus schon damals waren. Es wird übrigens erzählt, dass Saffari mit seinem Partner im Februar des Jahres 1978 im Teheraner Commodore Hotel das erste gleich­geschlechtliche Hochzeitsritual Persiens feierte, bevor beide nach Frankreich ausreisten.

Mit empathischen und einfühlsamen Fotografien der queeren Künstlerin Libuše Jarcovjáková, die noch während der Zeit des Eisernen Vorhangs lesbisches Leben in Prag dokumentierte, ist Russel Ferguson ein weiterer Höhepunkt geglückt. Auch ihre Arbeit hätte es längst verdient, einem internationalen Publikum vorgestellt zu werden. Jarcovjákovás durchweg sehenswerte Bilder erinnern in ihrer Intimität an Nan Goldin. Zudem verweisen sie mit dem Entstehungsort nebenbei auf Böhmen als Projektionsfläche des Begriffs "Bohème". Dieser basiert nämlich auf dem Klischee des vagabundierenden Künstlervolks, von dem man damals annahm, es sei aus Gebieten des heutigen Tschechiens angereist.

Auf der Homepage der Prager Kunsthalle findet sich eine Playlist zur "Bohemia"-Ausstellung. "Bohemian Rhapsody" ist nicht dabei. Auch bei den vielen abgebildeten Prominenten – darunter James Baldwin, Allan Ginsberg, Francis Bacon und Mick Jagger – ist Freddie Mercury nicht vertreten. Gut möglich, dass ihm die Schau dennoch gefallen würde.

Infos zum Katalog

Russell Ferguson, Kunsthalle Praha (Hrsg.): Bohemia. History of an Idea, 1950-2000. Englisch. 224 Seiten. 130 Abbildungen. Hatje Cantz Verlag. Berlin 2023. Hardcover: 48 € (ISBN 978-3-7757-5466-8)

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-w-

#1 Tobi CologneAnonym
  • 23.07.2023, 10:38h
  • Die Boheme war immer schon etwas, was mich sehr fasziniert hat. Dieses kompromisslose Leben für die Kunst, die Wahrheit, die Schönheit, die Freiheit und die Liebe. Und sich nicht um spießige Konventionen, prüde Moralvorstellungen und bigotte Scheinheiligkeiten zu kümmern.
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